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Das vom Hirn konstruierte Selbst


'Patricia Smith Churchland Patricia Smith Churchland

EINLEITUNG
Als ich aus der Röhre des MR-Tomographen schlüpfte, in der ich die letzte halbe Stunde gelegen hatte, erspähte ich Dr. Hanna Damasio, wie sie die Darstellung auf dem Monitor im Labor studierte. Von der Liege heruntergestiegen, trat ich an ihre Seite und starrte auf das Bild meines Gehirns auf dem Bildschirm. "Bin das – ich?" [Abb. 1] Nun ja, in einem gewissen Sinn. Und doch: nicht einfach oder lediglich ich. Ganz sicher nicht ich im vertrauten Sinn. Folgendes ging mir durch den Kopf: "Irgendwie, beginnend mit der frühen Kindheit, zimmerte sich mein Gehirn eine Fabel über sich zusammen – seinen Körper, seine Geschichte, sein Jetzt, seine Welt. Von innen kenne ich diese Fabel – wenn ich sie auch für die Realität und nicht bloß eine Fabel halte. Ja, sie ist sogar meine innere Realität. Wie kommt das also? Was heißt es für mich, eine Konstruktion meines Gehirns zu sein?"

In der einen oder anderen Form blicken diese Fragen auf eine lange und verwickelte Geschichte zurück, die ihren Ursprung in der unerschrockenen Neugier der alten Griechen hat und in verschiedenen Kulturen ihren Ausdruck fand. Bis vor kurzem konnte man rätselhaftes Verhalten einzig durch Mythologisierung – im Fall von anderen – und durch mythengefilterte Introspektion – im Fall des eigenen Selbst – erklären. Es überrascht kaum, daß man sich früher epileptische Anfälle oder schizophrene Halluzinationen durch Besessenheit von Dämonen oder, wenn man mehr Glück hatte, von heiligen Mächten erklärte. Da es an Verständnis dafür mangelte, fand die Bestrafungstheorie bei geistigen Störungen breite Zustimmung, war allerdings vollkommen unüberprüfbar – und blieb im wesentlichen auch unüberprüft.

Melancholie [das, was wir heute als chronische Depression bezeichnen] oder Phobien wurden meist als Charaktermängel erachtet – Mängel, die man mit der nötigen inneren Stärke überwinden könne. Die Existenz von Hexen, Zauberern, Verwünschungen und Bannsprüchen war viel länger ein geschichtliches Faktum als unsere Wertschätzung für solch wirkungsvolle Neurotransmitter wie Serotonin. Zwanghaftes Händewaschen wurde noch vor 15 Jahren weitgehend für ein Zeichen verdrängter Sexualität gehalten. Andererseits war der große griechische Arzt Hippokrates bereits 400 v. Chr. der Überzeugung, daß plötzliche Lähmungen oder schleichende Demenz ihre Ursache in Gehirnschäden hätten. Was aus seiner Sicht implizierte, daß die normale Bewegungs- und Redefähigkeit ihre Ursache in einem wohltemperierten Gehirn hätten.

Gehirne sind jedoch keine leicht zu durchschauenden Organe. Man stelle sich vor, wie Hippokrates bei der Autopsie das Gehirn eines toten Kriegers seziert und einen von einem Schwerthieb lädierten Gewebebereich betrachtet. Auf welche theoretischen Grundlagen konnte er sich stützen, um sich auch nur annähernd etwas so Komplexes wie die Beziehung zwischen flüssiger Rede und dem im Schädel gefundenen rosa Gewebe zu erklären? Man bedenke, daß 400 v. Chr. nichts über die Natur der Körperzellen bekannt war, geschweige denn von der speziellen Natur der Gehirnzellen. Techniken zur Neuronenisolierung, um ihr Aussehen festzustellen, entwickelten sich erst im 19. Jahrhundert. Techniken zur Isolierung lebender Neuronen, um ihre Funktion zu erforschen, kamen erst im 20. Jahrhundert auf.

Um herauszufinden, auf welche Weise Neuronen tun, was sie tun, ist eine hochentwickelte Technologie erforderlich. Und das wiederum setzt eine gewaltige, infrastrukturintensive Wissenschaft voraus – Zellbiologie, moderne Physik, die Chemie des 20. Jahrhunderts. Es verlangt komplexe Vorstellungen wie die des Moleküls oder des Proteins sowie moderne Werkzeuge wie das Licht- und das Elektronenmikroskop.

Vor allem aber waren die Erkenntnisfortschritte in bezug auf die Funktion des Gehirns von einem Verständnis der Elektrizität abhängig. Und zwar deswegen, weil das Spezielle an Hirnzellen ihre Fähigkeit ist, einander durch schnelle Mikroveränderungen ihres elektrischen Ladezustands Signale zu senden. Wenn man so wie wir in einer elektrischen Welt lebt, ist es ernüchternd, sich in Erinnerung zu rufen, daß die Elektrizität noch um 1800 weitgehend für etwas zutiefst Mysteriöses und höchstwahrscheinlich Okkultes gehalten wurde. Erst nach den Entdeckungen Ampères und Faradays zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Elektrizität eindeutig als ein physikalisches Phänomen begriffen, das sich nach klar definierbaren Gesetzen verhält und für praktische Zwecke gebändigt werden kann.

In diesem Jahrhundert ermöglichen uns die moderne Neurowissenschaft und Psychologie, über den Mythos und die Introspektion hinauszugehen und uns dem "Selbst" als Naturphänomen zu nähern, dessen Ursachen und Wirkungen wissenschaftlich erforscht werden können. Mit Hilfe neuer experimenteller Techniken und neuer Erklärungsinstrumente können wir wirklich verstehen, wie das Gehirn seinen Körper kennenlernt, wie es ein kohärentes Modell seiner Welt konstruiert und wie Veränderungen im Hirngewebe Veränderungen im Selbst nach sich ziehen können. Die Neurobiologie enthüllt allmählich, weshalb manche Gehirne anfälliger für Alkohol- oder Heroinsucht sind oder weshalb manche Gehirne in inkohärente Weltmodelle abrutschen. Es gibt sichtbare Erkenntnisfortschritte, was die stufenweise Entstehung des Selbst in der Kindheit und den grausamen schrittweisen Verlust des Selbst im Schwachsinn betrifft. Die Neurowissenschaften sind zwar noch sehr weit von vollständigen Antworten entfernt, aber sie haben bereits eine Menge über die Auswirkungen lokaler Gehirnläsionen auf komplexe Formen von Entscheidungs-, Sprach- oder Willensverhalten entdeckt.

All diese Entwicklungen sind ein Teil der Geschichte des Neuro-Selbst. Sicher sind die Neurowissenschaften noch nicht weit genug, um komplette und detaillierte Antworten auf alle Fragen zu geben. Vielleicht werden manche Fragen für die Neurobiologie für immer unbeantwortbar bleiben, wenn sich auch kaum entscheiden lassen wird, ob solche Probleme bloß "noch ungelöst" oder tatsächlich unlösbar sind. Auf jeden Fall können unvollständige, aber starke, auf Daten gestützte Antworten oft den Ausgangspunkt für den nächsten Schritt bilden. Und dieser dann für den Schritt danach. So schreitet die Wissenschaft schließlich voran: Schritt für Schritt.

Während ich zusah, wie der Computermonitor mein Gehirn in verschiedenen Neigungen und in verschiedenen Schnitten zeigte, regte sich in mir der Gedanke, daß ich mein Neuro-Selbst dereinst mindestens genauso gut kennen könnte, wie ich mein Psycho-Selbst kenne. Oder daß es zumindest jemand in der nächsten Generation könnte. Ich stellte mir Hippokrates vor, wie er, vor Aufregung außer sich und ganz begierig weiterzuexperimentieren, das Bild seines Gehirns betrachtet.
IST DAS VOM HIRN ERZEUGTE SELBST NICHT EIN PARADOXON?
Die Frage "Wie erzeugt mein Hirn mein Selbst?" hat etwas von einer "Sich selbst in den Schwanz beißenden Katze". Um das Paradoxon zu vermeiden, halte ich mich an ein pragmatisches Prinzipienpaar: [1] frage ich stattdessen: "Wie erzeugt ein Hirn ein Selbst?", womit ich mir das Paradoxon vom Leib halte, und [2] folge ich zunächst den Fakten und überlasse die Paradoxa sich selbst. Als Neurophilosophin prophezeie ich, daß sich die Paradoxa sehr leicht in Luft auflösen könnten, wenn die Neurowissenschaften einmal klarer sehen werden.

Wobei das nicht bloß Wunschdenken ist. Ich habe andere angebliche Paradoxa über die Welt vergehen sehen wie Zuckerwatte im Feuer. Sobald die jeweilige Wissenschaft die Realität hinter den sie mystifizierenden Erscheinungen aufgedeckt hatte, wurde das, was scheinbar jeder Intuition widersprach, zu etwas Vertrautem und weitgehend Offen sichtlichem. Die Vorstellung, daß sich die Erde bewegt oder daß lebende Dinge aus toten Molekülen bestehen – sie verloren die Patina des Paradoxons im sanften Licht des Experiments und der Erklärung. Ich habe so ein Gefühl, daß dies auch hier der Fall sein wird. Infolgedessen schiebe ich die Konfrontation mit der sich selbst in den Schwanz beißenden Katze gerne auf, bis die Wissenschaft etwas weiter ist.
WAS IST DAS SELBST FÜR EIN DING?
Es ist diese Frage, die früher oder später aus uns allen Philosophen macht. Wir denken nicht alle bis spätnachts darüber nach, woraus die Sterne bestehen oder wie das Immunsystem funktioniert. Aber das Nachdenken darüber, wodurch ich ich bin, verfolgt einen auf Schritt und Tritt. Seit Platon im 5. Jahrhundert v. Chr. haben sich die Philosophen bemüht, auf der Suche nach befriedigenden Antworten voranzukommen – oder, bescheidener, zumindest Möglichkeiten zu finden, die Frage so zu strukturieren, daß sie nicht in die Verwirrungsspirale führt. Der große schottische Philosoph des 18. Jahrhunderts, David Hume, hat diese Fragen der schärfsten Analyse unterzogen und den Boden für die moderne wissenschaftliche Forschung bereitet.

Hume gelangte zu der ziemlich schockierenden Einsicht, daß, wenn man nach innen blickt und ein eigenes Ding namens "Selbst" beobachten will, dort kein derartiges Ding zu erkennen ist. Was sich dort befindet, ist ein ständig fluktuierender Strom visueller Wahrnehmungen, Geräusche, Gerüche, Gefühle, Gedanken usw. Unter all diesen gibt es jedoch keine einzige dauerhafte "gefühlte" Empfindung, von der man sagen könnte: "Das ist das Selbst", so wie man auf eine gefühlte Empfindung deuten und sagen kann: "Das ist ein Schmerz".

Und doch könnte nichts evidenter sein als die Tatsache, daß es einen einzelnen Faden der "Ichheit" zu geben scheint, der sich durch das gesamte Gewebe der Erfahrung zieht. Wir verfügen alle über eine robuste, unleugbare Repräsentation des Selbst. Wenn wir aus einem tiefen Schlaf erwachen, wissen wir im allgemeinen, wer wir sind, selbst wenn wir in bezug auf das Wann und Wo verwirrt sein mögen. Normalerweise zweifeln wir nicht daran, "daß ich heute im wesentlichen dieselbe Person bin, die ich gestern und am Tag davor war ...". Normalerweise brauchen wir nicht nachzudenken, um zu erkennen, daß "dieser Köper der meine ist" – daß "diese Hand und dieser Fuß zu meinem Köper gehören". Wenn ich mich mit mir darüber berate, ob ich unter die Marathonläufer gehen sollte, weiß ich, daß ich es bin, der mit mir redet. Wir wissen sehr gut: Wenn wir für künftige Umstände nicht vorsorgen, könnte unser künftiges Selbst darunter leiden, und wir kümmern uns heute um dieses künftige Selbst.

Hier ist Humes Rätsel: Ich kenne mich selbst so gut wie nur etwas, und doch ist mein Selbst nichts, das ich je beobachten könnte – jedenfalls nicht so, wie ich Berührungen oder Wärme oder Müdigkeit beobachten kann. Das Dilemma läßt sich folgendermaßen formulieren: Wenn nicht auf einer dauerhaften Empfindung, worauf basiert dann die Idee des Selbst? Wenn es ein abstraktes Ding ist – kein Ding von der beobachtbaren Sorte – , was sind dann seine Eigenschaften und wo kommt es her?

Mit dem Fortschritt der Neurowissenschaften und der experimentellen Psychologie in diesem Jahrhundert ergibt sich eine aktualiserte Version von Humes Problem: Wie generiert das Gehirn – ein Netzwerk von Trillionen von Zellen – diese Repräsentation eines einheitlichen Selbst? Welche neuralen Mechanismen liegen einer solchen Repräsentation des Selbst zugrunde? Eine wichtige Informationsquelle sind hier Erkrankungen, die die Repräsentation des Selbst betreffen. Gewisse Einsichten gewinnt man von Schlaganfallpatienten, die leugnen, daß ihre Hand tatsächlich ihre Hand sei, die jegliche Erinnerung an Lebensereignisse vor ihrem Hirnschaden verloren haben oder das Gefühl haben, ihr "Wille" sei abhanden gekommen. Schizophrene oder Patienten, die das Narkotikum Ketamin verabreicht bekommen, leiden oft unter dem Gefühl einer Depersonalisierung – dem Gefühl, tot oder besessen zu sein. Auch diese Phänomene zeigen, auf welche Weise die "Selbstevidenz" des Selbst durch eine komplexe Gehirnaktivität gestützt wird. Indem sie solche Bruchlinien in der Repräsentation des Selbst aufdecken, gewähren uns diese Fälle Einblick in etwas, das im Normalfall gut verborgen ist.
Gehirne emulieren Körper und Selbst
1 DER GRUNDGEDANKE

Wenn man vom Selbst spricht, so legt das nahe, daß dieses eine Art Ding, ein bestimmtes Organ im Gehirn sei, so wie die Milz oder die Bauchspeicheldrüse bestimmte Organe im Körper sind. Zweifellos aber trifft das Bauchspeicheldrüsen-Paradigma beim Selbst nicht zu. Das Selbst ist kein Organ im Gehirn, es gibt auch keine eigene Gehirnregion, die das Selbst ausmachte. Wenn das Selbst aber kein Ding wie die Bauchspeicheldrüse ist und auch keine dauerhafte Empfindung ist, was ist es dann?

Die beste Hypothese ist die, daß darunter eine komplexe Vorstellung [Repräsentation] fällt, die das Gehirn durch Aktivität in verschiedenen Regionen generiert; zu diesen gehören die Regionen, die eine Repräsentation des Körpers erzeugen, sowie eine Repräsentation, die Erinnerungen an vergangene Ereignisse benutzt. Die Hirnaktivität, die wir introspektiv als unser Selbst kennen, ist wahrscheinlich Teil einer Reihe größerer Aktivitätsmuster, die das Gehirn entfaltet, um die Welt zu verstehen und in ihr zurecht zu kommen. Angesichts dieser Überlegungen sollte man lieber vom Problem der Selbst-Repräsentation statt vom Problem des Selbst sprechen. Was aber bedeutet es für das Gehirn, etwas – noch dazu das Selbst – zu repräsentieren? Muß es nicht ein Selbst geben, wenn das Gehirn es repräsentiert?

2 REPRÄSENTATION IM GEHIRN

Eine der Hauptaufgaben von Nervensystemen – von der Languste bis zum Menschen – besteht darin, gute Voraussagen über Nahrung, Paarungspartner, Feinde und Freunde zu treffen, damit der Körper am Leben erhalten bleibt und sich reproduzieren kann. Schlechte Voraussager enden häufig als Nahrung für bessere Voraussager. Unsere sensorischen Reize zwecks besserer Voraussagen zu strukturieren – darin besteht der ganze Sinn und Zweck der Repräsentation. Die Verwendung innerer Repräsentationen ermöglicht ein wesentlich elaborierteres Verhalten als bloße Reiz-Reaktionsbögen. Die Verwendung innerer Repräsentationen ist eine allgemeine Strategie, die Nervensysteme im Zuge des von der Evolution eingeschlagenen Weges der Begünstigung adaptiver Strukturen ausgebildet haben.

Der Philosoph Rick Grush (1) entwickelte ein nützliches Instrument, um das in den Griff zu bekommen. Nehmen wir an, ich wäre Fahrer eines großen Baukrans, eines High-Tech-Krans, den ich bequem von meinem kilometerweit entfernten Büro aus bedienen kann. Der Ingenieur täte gut daran, ihn so zu konstruieren, daß ich an einem kleinen Modell sehen kann, wo sich der Haken befindet, wenn ich den Befehl für eine bestimmte Bewegung gebe. So kann ich die Bewegung korrigieren, ohne auf das Feedback vom gigantischen Haken in der wirklichen Welt warten zu müssen. Der Emulator in meinem Büro erzeugt ein inneres Feedback, das mir bei der Vorhersage hilft. Noch besser wäre es, wenn mir der Konstrukteur die Möglichkeit gäbe, an dem Modell herumzuprobieren, so daß ich mögliche Bewegungen testen und dann die beste aussuchen kann, was die Genauigkeit bei der tatsächlichen Steuerung des Hakens steigern würde. Das ist, grob gesprochen, das, was laut Grush Gehirne tun. Sie bauen "Emulatoren" der Welt und ihrer Körper in der Welt.

Natürlich würden Sie bei einem Blick in mein Gehirn nicht eine Miniaturwelt aus kleinen Bäumen, Hunden usw. sehen, sondern nichts als Zellen, die miteinander verbunden sind, einander Signale senden und gewisse Aktivitätsmuster an den Tag legen. Und in meinem Kopf sitzt auch kein kleiner, auf einen Bildschirm starrender Mensch. Dieser Teil der Emulatorgeschichte deckt sich überhaupt nicht damit, wie Gehirne operieren. Übernehmen können wir von der Emulatorgeschichte allerdings die Ähnlichkeit in der Funktion. Einige neuronale Aktivitätsmuster scheinen dieselbe Funktion zu haben wie der Kran-Emulator.

Wie das genau funktioniert, wissen wir nicht. Dennoch scheint klar zu sein, daß die innere Modellierung des Körpers und seiner Welt eine evolutionäre Errungenschaft darstellt, die den Organismus klüger agieren, als gäbe es sie nicht. Im Gehirn des Organismus müssen nicht sämtliche Aspekte seiner Welt emuliert werden, sondern nur diejenigen, die für seine Überlebensform relevant sind. (2) Bienen können ultraviolettes Licht sehen, was ihnen dabei hilft, zwischen den Blumen Nahrung zu finden. Beim Menschen wird dieser Aspekt der Welt nicht perzeptuell repräsentiert, es sei denn, er baut sich ein Gerät dafür. Ähnlich müssen auch nicht alle Aspekte der Kran-Welt explizit emuliert werden, sondern nur die, die für die Ausführung der Arbeit nötig sind.

Ein Teil der Welt-Emulation findet online statt, so etwa wenn das Gehirn perzeptuelle Konstruktions- und Ergänzungsarbeit ausführt. So erkennen wir z. B. einen Dalmatiner vor einem Hintergrund aus Laub, auch wenn der Stimulus selbst verstümmelt ist [Abb. 2 ]. Wir nehmen eine Tomate als einförmig rot wahr, auch wenn darauf Schatten und Schlaglichter ruhen und sie teilweise überhaupt im Dunkeln liegt. Wir hören, wenn in einem lärmerfüllten Raum unser Name fällt. Offline, sozusagen, erinnern wir uns, wo am Fluß wir unser Proviantlager angelegt haben, planen wir, wie wir einen reißenden Wildbach überqueren wollen, tagträumen und phantasieren wir.

Nach der Grush-Hypothese emuliert das Gehirn die ökologisch relevanten – für meine Art von Wesen relevanten – Merkmale der Welt und manipuliert dann diese Emulationen, um Pläne zu machen, sich zu verstecken, Nahrung zu suchen usw. Ich werde mir das Problem der Wildbachüberquerung vielleicht durch den Kopf gehen lassen, mir einen Weg ausdenken, der zu bewältigen wäre, wenn sich ein Baumstamm zwischen zwei Felsen befände, mir überlegen, wie groß der Baumstamm sein müßte und wie man ihn an die richtige Stelle bekommen könnte. Das impliziert die Manipulation des Bildes oder, wie wir vielleicht sagen könnten, der Flußüberquerungs-Emulation.

3 KÖRPERMODELLE

Bisher haben wir uns auf Emulationen konzentriert, die Merkmale der Außenwelt erfassen, doch können Gehirne auch Aspekte des Körpers emulieren. Man kann sich z. B. den Körper stehend vorstellen, während man sitzt, oder man kann ihn sich in der Größe vorstellen, wie er mit fünf war. Sexuelle Phantasien sind eindringliche Beispiele dafür, wie durch die zerebrale Manipulation einer Emulation zweier Körper wirkliche Reaktionen des Körpers hervorgerufen werden können. Imaginäre Tennis- und Golfpartien haben sich als hochwirksam für die Verbesserung des tatsächlichen Spiels erwiesen.

Wenn wir unseren Körper vor einem Beobachter verbergen wollen, müssen wir über enorm ausgefeilte Repräsentationsfähigkeiten verfügen. Man benötigt dafür ein Verständnis des visuellen Aspekts des Körpers, seiner Proportionen im Verhältnis zum Versteck. Am schwierigsten ist zu begreifen, wie die Szene vom Standpunkt eines anderen aussieht. Man denke an das Versteckenspielen und wie wichtig dabei das Wissen um die Sichtbarkeit des eigenen Körpers aus unterschiedlichen Perspektiven ist. Aus der Perspektive des Suchenden dürfen keine Füße vorragen, darf kein Haar oben herausstehen, wogegen man für die übrigen, die sich verstecken, ruhig sichtbar sein kann.

Ein ganz junges Kind glaubt vielleicht, es sei vor anderen verborgen, wenn es die Hände vor die Augen hält. Es hat noch keine Repräsentation dafür, wie es durch die Augen anderer aussieht. Aber wahrscheinlich hat es jede Menge Zeit darauf verwendet zu beobachten, wie seine Finger mit Essen, Spielzeug, dem Hund und den eigenen Zehen umgehen, und sein visuell verankertes Körperschema wird sich vermutlich noch ausbilden. Die Entwicklung eines integrierten Körperschemas mit sowohl visuellen als auch somatosensorischen Dimensionen ist seit den frühen Kindheitstagen im Gange, auch wenn es noch nicht alle Feinheiten des Unterschieds zwischen "Ich kann mich sehen" und "Du kannst mich sehen" im Griff hat.

4 Selbstmodelle

Weiters können komplexe Gehirne Aspekte dessen emulieren, was das Gehirn selbst tut, und eines der Resultate ist das Selbst. Sie können also ein Modell der Hirnaktivitäten besitzen, etwa in Form von Wahrnehmungsbildern, die vertrauten äußeren Ereignissen gleichen. Etwa so ähnlich – so die Philosophin Patricia Kitcher – stellte sich Kant die Basis des Selbst vor.

Allgemein gebräuchliche Metaphern geben einen kleinen Hinweis, wie diese Emulationen strukturiert sind. Steht man vor einer schwierigen Entscheidung, spricht man von innerem Ringen oder Tauziehen; das Vergessen wird manchmal mit dem Verblassen einer Schrift oder dem Blockiertsein durch ein Hindernis verglichen. Von Begierden heißt es mitunter, daß sie einen überwältigen oder beherrschen; sie können von einem Besitz ergreifen, oder man kann sich ihnen hingeben. Sie können verdrängt [unter die Oberfläche gedrückt] werden, nur um im nächsten Moment in einem neuen Gewand wieder hervorzubrechen. Ängste können einen verrückt machen oder lähmen; Wissen ist Sehen; Hoffnung kann ewig in der menschlichen Brust aufkeimen. Und so weiter. Dies sind äußerst wichtige und nützliche Wege, wie wir andere und uns selbst zu verstehen versuchen. Es sind, wie Lakoff und Johnson (3) aufgezeigt haben, die Metaphern, mit deren Hilfe wir leben. Weil wir keinen direkten Zugang zu dem haben, was z. B. Erinnerungen auf der Ebene des Gehirns wirklich sind, betrachten wir sie nach dem Modell von Notizen in einer Schublade oder Druckerschwärze auf Papier oder Laubschichten oder Ablagerungen in Sandstein. Die Verwendung dieser Metaphern ist auch ein wichtiges Werkzeug, um über uns selbst nachzudenken.

Kurzum, die von mir favorisierte Hypothese lautet, daß das Selbst eine Art Emulation ist, die das Gehirn konstruiert, um die innere Welt des Gehirns in seiner Beziehung zur Außenwelt, einschließlich der Welt anderer Personen, zu integrieren und zu verstehen. In der Mindestausstattung verfügt sie über 1. eine Körperkomponente, 2. eine "Wessen-ich-mir-momentan-bewußt-bin"-Komponente, 3. einen stabilen, aber veränderbaren Hintergrund aus Vorlieben, Gewohnheiten, Fertigkeiten, Temperament usw. und 4. eine gedächtnisbasierte, autobiographische Komponente. Diese Komponenten (4) hängen zwar miteinander zusammen, sind aber zu einem gewissen Grad isolierbar. Es handelt sich hier offenkundig um keine präzise Charakterisierung. Dazu müßten wir viel mehr über die Einzelheiten der Gehirnfunktion auf allerlei organisatorischen Ebenen von der Einzelzelle bis zum Gesamthirn wissen. Der Begriff der Repräsentation ist wie der des Emulators eher ein Platzhalter, der auf eine ausführliche Theorie der Gehirnfunktion wartet, denn ein präziser Terminus in einem gut ausgearbeiteten theoretischen System. Dennoch: Es gibt einige klare Vorstellungen darüber, welche allgemeine Rolle er erfüllen muß, und die Hauptaufgabe wird darin bestehen, Experimente zur Überprüfung der Hypothese zu finden. (5)
"WIE KÖNNEN SIE DIE MINDESTE SELBSTACHTUNG HABEN, WENN SIE SICH BLOß FÜR EIN STÜCK FLEISCH HALTEN?"
Diese Frage stellte mir ein geradliniger Student. Meine Antwort lautet erstens, daß Gehirne nicht bloß ein Stück Fleisch sind. Das menschliche Gehirn ist das, was Menschen in die Lage versetzt, die Sixtinische Kapelle mit Fresken zu schmücken, Flugzeuge und Transistoren zu konstruieren, Rollschuh zu fahren, zu lesen und Chopin zu spielen. Insofern ist es ein wahrhaft erstaunliches und großartiges "Wundergewebe", wie Dan Dennett sagt. Die Selbstachtung, die wir mit Recht aus unseren Leistungen beziehen, haben wir wegen und nicht trotz des Gehirns.

Zweitens, wenn wir uns für grandiose Geschöpfe hielten, bevor wir wußten, daß dafür das Hirn verantwortlich ist, warum sollten wir damit nicht auch nach der Entdeckung fortfahren? Warum sollte uns dieses Wissen nicht interessanter und bemerkenswerter anstatt weniger interessant und bemerkenswert machen? Uns beeindruckt das Schauspiel eines Vulkanausbruchs oder die Geburt eines Kalbs oder die Heilung eines Knochens, bevor wir noch verstehen, was Vulkane sind oder wie Fortpflanzung oder Heilung vor sich gehen. Als die Geschöpfe, die wir sind, sind wir jedoch noch mehr beeindruckt, wenn wir uns das Wissen über Vulkane, Geburt und Knochen aneignen.
ABSCHLIEßENDE BEMERKUNGEN
Die Selbst-Repräsentation beim Menschen ist eine hochkomplexe Angelegenheit: Sie ist sprachlich vielfältig geschichtet, in einen sozialen Kontext eingebettet, mit einer detailreichen, wenn auch selektiven Autobiographie unterlegt und verfügt außerdem über viele Eigenschaften der bewußten Erfahrung. Wir reden mit uns selbst: "Will ich wirklich ein Zigarette?", "Warum lasse ich es zu, daß ich ärgerlich werde?". Wir denken über uns in kulturell bestimmten Metaphern nach: "Ich habe mein wahres Selbst vor mir versteckt", "Ich habe die Kontrolle über mich verloren", "Ich habe darum gerungen, nicht zu zerbrechen." Wir haben wichtige selbstregulative Gefühle, die nicht direkt mit einer bestimmten sensorischen Modalität verbunden sind: Wir fühlen uns behaglich, unangenehm, unvertraut, selbstsicher, beschämt, verlegen usw. (6) Die Neurobiologie des Bewußtseins wäre ein zentrales, eigentlich in diesem Kontext zu diskutierendes Thema. Aufgrund räumlicher Beschränkungen wird es jedoch zu einem Thema für eine andere Gelegenheit.

Vieles – sehr vieles – harrt noch der Entdeckung, und meine theroretischen Quellen sind auf den Stand beschränkt, auf dem die kognitive Neurowissenschaft heute steht. Im Zusammenhang mit dem Gehirn gibt es nur wenige Rätsel, die wir als schlichtweg gelöst bezeichnen könnten, und ich bin noch zu sehr Bäuerin, um die Küken zu zählen, bevor sie geschlüpft sind. Dennoch: Daß uns die Entdeckungen der letzten drei Jahrzehnte Einsichten ermöglicht haben, von denen wir in unserer Philosophie nicht einmal geträumt haben, ist wohlbekannt, und es wäre eine Überraschung, wenn nicht noch weitere folgen würden. Werden wir uns in einem anderen Licht sehen?

Die Nachjustierung altehrwürdiger Ideen ist bereits zu erkennen; manche heute von Diplomanden selbstverständlich erforschte Fragen waren vor nur zwanzig Jahren undenkbar. Was an künftigen Änderungen zu erwarten ist und in welche Richtung sie gehen werden, darüber kann man nur spekulieren. Von meinem gegenwärtigen Standpunkt aus scheint es mir wahrscheinlich, daß sich unser Verständnis davon, was es heißt, sein Verhalten zu kontrollieren, was Bewußtsein, Persönlichkeit und Charakter bedeuten, ändern wird, und zwar vermutlich ziemlich grundlegend. Wie bei vielen anderen Entwicklungen in der menschlichen Geistesgeschichte sind Kämpfe zwischen Aberglaube und Wissenschaft zu erwarten, zwischen dem Altvertrauten auf der einen, und dem Neuen, Unvertrauten auf der anderen Seite. So wie die Zell- und Molekularbiologie humanisierende Folgen hatten, indem sie die Theorien von der Krankheit als Besessenheit oder als Strafe stürzten, so prophezeie ich auch humanisierende Auswirkungen der Neurowissenschaften, wenn sie immer mehr zeigen werden, was uns zu Menschen macht.

Das Spannende bei der Wissenschaft ist zum Teil, daß man nicht vorhersagen kann, wie die Dinge nach der nächsten Flußbiegung aussehen werden. Spannend ist aber auch die Schaffung neuer Denkwerkzeuge, die von völlig unabsehbaren Resultaten provoziert werden, aber notwendig sind, um zum Kern des Rätsels vorzudringen. Wissenschaftlich gesehen sind wir Glückspilze. Wir erleben, wie das 20. Jahrhundert – das größte Jahrhundert für die Wissenschaft – das 21. gebiert. Wir haben die Chance, dem Fluß zu folgen und herauszufinden, wo wir wirklich stehen.

(1)
Rick Grush [1995]: Emulation and Cognition. Phil.Diss at UCSD; [1997]
The architecture of representation, in: Philosophical Psychology, 10, S. 5–25.zurück

(2)
Kathleen Akins [1996]: Of sensory systems and the ,aboutness' of mental states, in: Journal of Philosophy, S. 337–372.zurück

(3)
George Lakoff and Mark Johnson [1980]: Metaphors We Live By, University of Chicago Press.zurück

(4)
Owen Flanagan [1992]: Consciousness Reconsidered,.MIT Press; Arnold Ludwig [1997): How Do We Know Who We Are? Oxford University Press; Daniel Dennett [1991): Consciousness Explained, Little, Brown. [deutsch: Descartes, Potemkin und die Büchse der Pandora. Eine neue Philosophie menschlichen Bewußtseins, Hoffmann & Campe 1992]zurück

(5)
Patricia Kitcher [1990]: Kant's Transcendental Psychology, Oxford University Press.zurück

(6)
Antonio Damasio [1994]: Descartes' Error, Putnam and Sons; P. S. Churchland [1996]. Feeling reasons, in: Neurobiology of Decision-Making, Ed. Damasio and Christen. Springer-Verlag.zurück