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Eine neue Weltordnung, aber dieselbe alte Scheisse


'Paul Garrin Paul Garrin

Eine neue Weltordnung, aber dieselbe alte Scheiße

Paul Garrin


GENERATIONEN UND LEBENSDAUER … ZWEI DINGE, DIE MENSCH UND MASCHINE GEMEINSAM HABEN.
Millionen Jahre Leben und Sterben waren notwendig, um jene Energie [Erdöl] entstehen zu lassen, die von Maschinen innerhalb nur weniger Jahrhunderte aufgebraucht werden wird.

Eine etwa analoge Beschleunigungskurve würde man erhalten, wenn man die Menge an Wissen und Erfahrung, die sich [insbesondere in jüngerer Zeit] angesammelt hat, der Geschwindigkeit gegenüberstellt, mit der all dieses Wissen durch Datennetze auf globaler Ebene verfügbar sein wird.

Im Gegensatz zur Energie, die sich immer auf ihr niedrigstes Niveau verringert, bleibt das Wissen den Gesetzen der Entropie zum Trotz bestehen und akkumuliert sich, wobei seine Träger und Filter [Medien, der menschliche Geist, noch mehr Medien …] im Laufe der Generationen gedeihen und wieder vergehen, den Macht- und Wirtschaftsverhältnissen entsprechend, durch Krieg, Reichtum, Entbehrung, etc. mutieren und sich entwickeln.

Die industrielle Revolution räumte den höchsten Stellenwert den Treibstoffen für die Maschinen ein, die die postindustrielle Gesellschaft entstehen ließen – eine Gesellschaft, die ihrerseits heute dem Wissen, d. h. dem Treibstoff des "Informationszeitalters" oder des "Zeitalters des Immateriellen", wie die populären Bezeichnungen lauten, den höchsten Stellenwert beimißt. Doch sehen wir uns diese sogenannte "immaterielle Welt" des Informationszeitalters etwas näher an: Die Realisierung des Immateriellen erfordert ziemlich viel Material. Die übermäßig euphorischen Bewohner virtueller Welten, die ihre Körper am liebsten hinter sich zurücklassen würden, übersehen die offensichtliche Tatsache, daß die Netze, die ihnen ihre Phantasie-Existenz ermöglichen, aus Komponenten bestehen, die irgendwo in Malaysien, Taiwan, Mexiko oder einem anderen Niedriglohnland von Menschen zusammengebaut wurden, die wahrscheinlich nicht einmal Telefon haben, die keinen Computer besitzen und mit Sicherheit nicht ans Internet angeschlossen sind. Für diese Arbeiter besteht die größte Herausforderung darin, Nahrung und Unterkunft zu finanzieren, d. h. jene Körper zu ernähren, die die Komponenten eines Systems erzeugen, dem sie selbst aus finanziellen Gründen nie angehören könnten.

Denken Sie immer daran, daß "digital sein" unter anderem bedeutet, für die Aufrechterhaltung jener Kriegsmaschinerie zu bezahlen, die das Internet und den Computer in Ihr Wohnzimmer, Ihr Schlafzimmer, Ihr Büro und auch in die Museen gebracht hat. Dieselbe Kriegsmaschinerie, der es gegebenenfalls ein leichtes ist, über weite Distanzen hinweg effizient "Opferzahlen" zu liefern, kann noch viel leichter und – es kommt noch besser – viel billiger "Daten-Opferzahlen" liefern. Die Kosten werden, wie dies immer auf die eine oder andere Weise der Fall ist, von den Opfern getragen, d. h. in diesem Fall von den euphorischen "Digizens", die sich von dem von Wirtschaft und Militär getragenen Netz, das sie zu ekstatischer Mittäterschaft verführt, versklaven lassen.

Starren Sie nur ehrfürchtig auf den Bildschirm, jenen heiligen Ort der Immaterialität, jenes göttliche Tor zu den Freuden der nächsten Version, zur Welt der "Verkabelten", die kritiklos den Wundern der virtuellen Unsterblichkeit huldigt, dem Triumph des Willens der technischen Wunder, die Erlösung und Utopie mit sich bringen werden. Die Maschine ist perfekt … die Maschine ist göttlich … Big Blue spielt besser Schach als der Mensch … die F16 fliegt besser als ihr eigener Pilot … das 20G-Manöver kann das Flugzeug vor der Zerstörung durch eine Rakete retten, auch wenn der Pilot zerquetscht wird … doch die Funktion der Maschinen besteht darin, für die Menschen besser Krieg zu führen … und sie führen den Krieg vielleicht wirklich besser als die Menschen … aber die Maschinen selbst brauchen keinen Krieg … nur die Menschen, die die Maschinen gebaut haben, um andere Menschen zu beherrschen, brauchen den Krieg … Krieg um die Identität … um territoriale Ansprüche … um Macht.

Die Menschen führen ewig Krieg um ihre Identitäten. Der Streit um Identität, Erbe und Land hat seit Urzeiten bewaffnete Konflikte heraufbeschworen. Identität und Geographie sind "es wert, für sie zu kämpfen", sagen die Menschen … und so entwickeln sie Technologien nach ihrem eigenen Abbild … Sie schaffen Maschinen und geben ihnen Namen und einen Ort, an dem sie leben sollen … Domänen … ein künstlicher Begriff, der den Menschen hilft, die Maschinen in metaphorische Regimente zu gruppieren, die sie leicht verstehen können … und dann tauchen andere Menschen auf und erheben Anspruch auf "ihre" Domänen … und werden manchmal vertrieben, aber nicht von mit AK47ern bewaffneten ethnischen Säuberungskommandos, sondern von Anwälten und Tonnen von Papier, allesamt von McDonald's mit Dollarbeträgen in Millionenhöhe finanziert … und alles dreht sich um eine einfache Identität … das alles ist nur den Menschen wichtig … nicht aber den Maschinen, für die die Identität jedoch von grundlegender Bedeutung ist. Jeder Knoten in einem Netz muß seine eigene, unverwechselbare Identität haben … eine Netzadresse und einen Namen … wenn es zu einem Identitätskonflikt kommt, kann dieser Knoten im Netz einfach nicht funktionieren … es gibt keinen Kampf … sondern einfach keine Bestätigung. Die Maschine wird für den Rest des Netzes unsichtbar … wenn sie sich an einen anderen Ort bewegt und eine neue Netz-ID erhält, wird sie hingegen loyal weiterfunktionieren … ohne Kampf um ihre Identität, ohne den Wunsch, ihre eigene Vergangenheit neu aufleben zu lassen, und ganz sicher ohne Krieg.

Die Mechanismen des Kriegs bewirken Zerstörung und Vergeudung, sie schaffen neue Möglichkeiten der Versklavung der überlebenden Körper, die die Komponenten für den nächsten Krieg zusammenbauen … den digitalen Krieg, dessen Methode darin besteht, die Wahrnehmung der auf den "kühlen" Schlachtfeldern Anwesenden per Modem und über den Äther auf die digitale Domäne zu steuern. Ihre Datenkörper füllen die Reihen der demographischen Eroberungen, sie sind als Zielscheiben der Werbung ausgesetzt, und ihr Input fördert die Durchsetzung der unterdrückerischen Forderungen nach dem Output anderer, unglücklicherer Versklavten, die um das Überleben kämpfen, indem sie die Werkzeuge ihrer eigenen Unterdrückung herstellen.

Das "World Wide Wasteland" ist das Schlachtfeld, auf dem einer der jüngsten Kriege gegen den menschlichen Geist ausgetragen wird. Die Informationsüberlastung verhüllt die offensichtlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die klar sichtbar vor uns verborgen liegen. Weite Kreise der Bevölkerung sind bereits zu Mittätern geworden. Es ist modern geworden, das Fleisch zu verleugnen. Wer die Kunst beherrscht, beherrscht das Volk … Wer die Datenleitungen besitzt, besitzt gleichzeitig die Datenkörper, die sie bevölkern. Das größte Verbrechen ist das Paradoxon der Neuen Medien … Wir müssen erst lernen, das Wissen und die Kommunikationsmöglichkeiten zu nutzen, die die Menschheit über Jahrhunderte und viele Generationen hinweg geschaffen hat. Generation um Generation muß die Akkumulation von Wissen und Erfahrung erst jene geistige Evolution herbeiführen, die heute, am Ende unseres Jahrtausends, bereits überfällig ist. Trotz aller uns zur Verfügung stehenden Kommunikationsmittel, trotz unseres Zugangs zu Informationen, trotz allen technologischen und begrifflichen Fortschritts sind die Kriege, die heute ausgetragen werden, immer noch dieselben wie in der Vergangenheit. Und niemals haben wir es geschafft, den ultimativen evolutionären Krieg zu erklären: den Krieg gegen die Ignoranz.