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Peripherie und FleshFactor


'Mark Weiser Mark Weiser

EINLEITUNG
In der Wahrnehmungspsychologie und -philosophie gibt es ein bekanntes Experiment, bei dem die Augen geschlossen werden und der Weg mit einem Stock ertastet wird. Für Menschen mit normalem Sehvermögen ist es anfangs ungewohnt und schwierig, mit einem krummen Stock die vor ihnen liegenden Gegenstände zu ertasten. Aber dann tritt eine bemerkenswerte Veränderung ein. Der Stock verschwindet aus unserer Wahrnehmung, und statt dessen tritt die Welt in Erscheinung. Mit anderen Worten, nicht der Stock selbst steht von nun an im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern das, was er uns von der Welt offenbart. Statt des Stockes nehmen wir Beton oder Gras oder den Briefkasten wahr. Das ist kein besonders überraschendes Beispiel – durch unsere Augen und unser Gehirn erkennen wir die Welt, ohne allzu sehr von den fleischlichen, körperlichen Einzelheiten dieser komplizierten und unvollkommenen Organe gestört zu werden. Es ist ein grundlegendes Charakteristikum der menschlichen Funktionsweise, sich einem Ding durch ein peripheres System anderen Dingen zuzuwenden.

Das Verschwinden des Stockes bedeutet, daß er Teil unserer peripheren Wahrnehmung geworden ist. So kann jener Teil der Welt ins Zentrum rücken, den uns der Stock erschließt. Es ist wichtig, "peripher" nicht mit unwesentlich oder unwichtig gleichzusetzen. Der Stock ist äußerst wichtig, ohne ihn wüßten wir nichts von der Welt um uns herum. Er ist aber insofern peripher, als er eine unterstützende Rolle spielt – wir können uns mit ihm vortasten und müssen nicht darauf warten, bis unsere Zehen an etwas stoßen.

Der Stock macht etwas anderes deutlich – das Periphere kann manchmal auch wieder zum Mittelpunkt werden. Wir können, anstatt unsere Umgebung mit dem Stock wahrzunehmen, unsere Aufmerksamkeit erneut auf den Stock richten. Wenn wir das tun, verschwindet die Welt, die uns der Stock vermittelt hat, und die Eigenschaften des Stockes treten in den Vordergrund – sein Gewicht, wie sich sein Griff anfühlt, ob er zerbrochen ist. Dazu genügt es, unsere Konzentration neu auszurichten. Die Fähigkeit, etwas, das gerade noch peripher war, wieder ins Zentrum zu rücken, kann von großer Bedeutung sein.

In seinem Buch The Tacit Dimension nannte der Philosoph Michael Polanyi das Reich der Peripherie "proximal", weil es uns nahe ist. Das Zentrum bezeichnete er als "distal". Unsere Brillen sind proximal, wir nehmen mit ihnen alles Distale wahr. Das Proximale ist unauffällig, es äußert sich nicht direkt. Aber es macht sich durch seine Konsequenzen bemerkbar.
ABSTIMMUNG UND AUFMERKSAMKEIT
Unter Abstimmung verstehen wir das stillschweigende Achtgeben auf die unausgesprochenen Möglichkeiten eines bestimmten Umfelds. Hierin unterscheidet es sich von der Aufmerksamkeit, der expliziten Konzentration auf das, was vor uns liegt.

Ist man auf einer Schnellstraße unterwegs, so ist die Aufmerksamkeit höchstwahrscheinlich auf die Straße, die anderen Autos, die nächste Abfahrt gerichtet. Was passiert, wenn der Motor unerwartet ein neues Geräusch von sich gibt? Mühelos konzentrieren Sie sich nun auf dieses Geräusch, versuchen herauszuhören, was es ist und welche Gefahr es bedeuten könnte, und ergreifen die notwendigen Maßnahmen. Aber wie kommt es, daß Sie dieses Geräusch überhaupt gehört haben? Sie haben nicht darauf geachtet, und trotzdem ist es in Ihre Gedanken vorgedrungen. Die Antwort lautet: Es war Teil Ihrer Peripherie und Sie waren darauf abgestimmt.

Wenn Sie auf einer Party schreien müssen, um sich mit der Person direkt vor Ihnen unterhalten zu können, hören Sie sich mit normaler Lautstärke sprechen: Das ist Abstimmung. Abstimmung bedeutet die unbewußte Verbundenheit mit den Teilen unserer Peripherie, denen wir mühelos Beachtung schenken können, indem wir uns einfach auf sie konzentrieren. Die Stärke der Abstimmung liegt darin, daß wir uns auf viel mehr Dinge abstimmen als konzentrieren können. Nehmen wir noch einmal unser Auto auf der Schnellstraße. Welche Ereignisse könnten Ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen? Das Wetter, Geräusche, andere Autos, Veränderungen der Fahrbahn, außergewöhnliche Reklametafeln, interessante Ansagen oder Musik im Radio, Veränderungen am Sitz, ein komischer Geschmack im Mund, eine unerwartete und ungebetene Erinnerung und vieles andere mehr. Die Bandbreite an Abstimmungsmöglichkeiten ist enorm. Wer in der Lage ist, sich geschickt auf seine Umgebung abzustimmen, kann zu sehr viel mehr Dingen auf dieser Welt eine tiefe und umfassende Beziehung herstellen.

Die Abstimmung bzw. der Wechsel zwischen Abstimmung und Aufmerksamkeit und wieder zurück tragen zur Effektivität der Peripherie bei. Wer glaubt, optimal zu arbeiten, wenn er alles außerhalb des Zentrums Befindliche ausschaltet, läßt sich die Chance entgehen, mit Hilfe der Abstimmung seine tatsächliche Aufmerksamkeit zu verhundertfachen.
DIE MEHRFACHEN EBENEN DER PERIPHERIE
Die Peripherie umfaßt viele verschiedene Ebenen. Die perzeptorische, kognitive und soziale Ebene sind nur drei davon. Die perzeptorische Peripherie ist das sensorische Umfeld, auf das man sich nicht konzentriert. Das periphere Sehen ist ein einfacher Fall. Egal, ob man fährt, geht oder bloß sitzt – der Strom peripherer visueller Wahrnehmung hat größte Bedeutung. Ähnlich verhält es sich mit Geräuschen, die einerseits beruhigen und andererseits wichtige Orientierungshilfen bieten. Alle Sinne tragen das Ihre zu unserer Peripherie bei. Der Geruch eines fremden Ortes, auch wenn er nicht explizit wahrgenommen und identifiziert wird, hilft dem Verständnis und der Erinnerung.

Die digitale Technik läßt sich nur schwer mit unseren peripheren Sinnen verbinden. Die Architektur eines physischen Raumes hat Einfluß auf das periphere Sehen, auf periphere Geräusche, Gerüche und sogar auf periphere körperliche Sinneswahrnehmungen [z. B. Müdigkeit nach längerem Gehen]. Im Vergleich dazu sind digitale Architekturen alles andere als ergiebig. Bildschirme präsentieren alle Informationen in einem kleinen Rahmen und im Vordergrund. Das Piepsen und Kreischen, die Melodiefetzen und Sprachdaten aus dem Audiosystem der Computer sind im allgemeinen für das aktive Zuhören bestimmt und nicht für die Hintergrundaufmerksamkeit. Und Computersysteme liefern uns wenig zum Riechen, Schmecken, Fühlen oder an sonstigen physischen Reizen. Ich bin der Ansicht, daß es sich hierbei nicht unbedingt um einen grundlegenden Mangel der modernen digitalen Technik handelt. Doch läßt sie die Verbindung zum Ureigensten des Menschsein, zum Proximalen, schmerzlichst vermissen.

Die sensorische Peripherie bildet erst den Anfang des Einflusses, den die Peripherie auf uns hat. Auf der nächsthöheren Ebene findet sich die kognitive Peripherie. Der Gebrauch von Symbolen ist ein Teil unserer kognitiven Fähigkeiten. Innerhalb der kognitiven Peripherie bilden bestimmte Symbole das Zentrum, den Vordergrund, während andere Strukturen den Rahmen für unsere symbolischen Konstruktionen und Berechnungen liefern. Die Poesie spielt mit der kognitiven Peripherie, um durch den Klang einiger weniger Worte ganze Bedeutungssymphonien auszulösen. Nehmen wir beispielsweise folgende Verszeile:
"The force that through the green fuse drives the flower "

Dylan Thomas
Der Klang von Worten wie "force", "fuse" und "drive", die Vorstellung von regem Leben im zarten Blumenstiel sowie die syntaktische Kernstruktur [force drives flower], die pure Aktivität ausdrückt, drängen uns unbewußt, peripher in ein Interpretationsschema der Stärke und Macht. Vergangene Autoritätsbeziehungen mit Eltern, Behörden oder Vorgesetzten treten unbemerkt in den strahlenden Hintergrund. Die Blume, und damit die Natur als solches, verwandelt sich von einem einfachen und zarten Ding in etwas Komplexes, Mysteriöses und sogar ein bißchen Furchteinflößendes.

Die kognitive Peripherie ist äußerst komplex; das obige Beispiel kann ihren Einfluß nur andeuten. Der begriffliche Rahmen, Weltanschauungen und Religionen, Ideologien und kulturelle Vorurteile – all das kann die Funktion einer mächtigen, unsichtbaren, alles beeinflussenden Peripherie übernehmen.

Die kognitive Peripherie geht mit der Handlungsperipherie einher. Wenn wir etwas tun, stehen unsere Handlungen explizit im Zentrum. Jede unserer Taten kann als gewollte und singuläre Aktivität angesehen werden. Aber jede Handlung ist auch eingebettet in eine Peripherie von Konsequenzen und Einflüssen, die wir unmöglich einkalkulieren können. Wir handeln in einem Strom solcher Einflüsse und im impliziten Wissen um die Konsequenzen.

Wenn wir zum Beispiel Sport betreiben, befinden wir uns in einem Umfeld komplexer sensorischer Eindrücke und Verhaltensweisen und handeln entsprechend. Während einer Skiabfahrt sind in jeder Millisekunde neue minimale Muskelbewegungen erforderlich, damit wir das Gleichgewicht halten und auf das Ziel zusteuern können. Diese Bewegungen sind Teil der Peripherie, in deren Zentrum unsere bewußte Konzentration auf den Hang als Ganzes oder unsere Fahrt den Berg hinunter steht.

Über der kognitiven und der Handlungsperipherie steht die soziale Peripherie. Ist die kognitive Peripherie mehr oder weniger auf unseren Kopf beschränkt, so ist die soziale Peripherie um uns herum [und in unserem Kopf] zu finden. Eine klare Unterscheidung zwischen sozial und kognitiv ist schwer zu treffen, wenn sie auch nützlich ist, um bestimmte Punkte deutlich zu machen.

Die soziale Peripherie benennt unsere feste Einbindung in ein Netzwerk von Menschen und Gewohnheiten. Diese Einbindung beeinflußt Tag für Tag, was wir wissen, worauf wir uns verlassen, unser Wohlbefinden und unser Können. Lave und Wegner haben dargelegt, daß es beim Lernen nicht auf das Einprägen von Fakten ankommt, sondern darauf, Mitglied einer Gemeinschaft zu werden. Nehmen wir zum Beispiel folgendes Gedankenexperiment:

Stellen Sie sich einen exzellenten Techniker vor, Q, ein wirkliches Genie, was die Produktionsdetails der Firma ABC anbelangt. Die Firma XYZ wirbt Q ab, hat aber kein Vertrauen zu ihm. Sie verlangt deshalb von ihm, in einem fensterlosen Büro zu arbeiten und mit dem Rest der Belegschaft nur mittels anonymer Notizen in Kontakt zu treten. Wie effektiv könnte Q arbeiten? Wohl nicht sehr effektiv. Zum einen würde es ihm diese Anonymität unmöglich machen, seine Informationsquellen richtig einzuschätzen [z. B.: John ist reizbar; George ist ein Meister des Understatement]. Zum anderen würden dadurch auch seine Kollegen daran gehindert, sich von seiner Vertrauenswürdigkeit zu überzeugen. Auf diese Art könnte keine Gemeinschaft entstehen, und all die tollen Kenntnisse im Kopf von Q blieben weitgehend ungenutzt.

Anders ausgedrückt, Individuum und Gemeinschaft stellen sowohl das Zentrum als auch die Peripherie füreinander dar. Steht das Individuum im Zentrum, so hat man gewöhnlich einen klugen Menschen mit gewissen entwicklungsfähigen Fertigkeiten und bestimmten mehr oder weniger nützlichen Verhaltensweisen vor sich. Steht dagegen die Gemeinschaft im Zentrum, so findet man im allgemeinen eine Kultur der Resonanz und Unterstützung [oder der Apathie und der Angriffe] vor, die Fähigkeit zur Informationsbeschaffung, ein System von Prozessen, kulturelle Brillen zur Ausschaltung gewisser Informationen, eine Kontinuität, die das Kommen und Gehen der Individuen überdauert. Beide Blickwinkel sind beschränkt. Hervorragende Individuen tragen zu einer hervorragenden Gemeinschaft bei. Und eine hervorragende Kultur kann die Chancen der Individuen erhöhen, erfolgreich zu sein – wie auch immer sie Erfolg auslegen mögen.
DER FLESHFACTOR IST DIE PERIPHERIE
Das Proximale, die Peripherie, ist die Basis unseres Wissens und unserer Existenz in dieser Welt. Das existentialistische In-der-Welt-Sein ist eine Anspielung auf unsere proximale Verbundenheit mit allen Dingen. Und im Zentrum alles Proximalen steht der Körper.

Der Körper bildet unsere ursprüngliche Peripherie. Als kleine Kinder lernen wir, die Welt durch unseren Körper zu erleben. Anstelle des anfänglichen Durcheinanders von verwirrenden Farben, Tönen und Konturen lernen wir später, Dinge zu sehen und Gegenstände zu manipulieren. Schritt für Schritt werden unsere Sinnesorgane und körperlichen Fähigkeiten zur proximalen Basis für unsere Hinwendung zu neuen Zentren. Diese Basis ist nicht auf die perzeptorische Wahrnehmung beschränkt, sondern bildet zugleich auch die Grundlage aller kognitiven Fähigkeiten und sozialen Beziehungen.

Um es in der Sprache der Psychoanalyse zu sagen: Zu Beginn verfügt jeder von uns über eine einzige Peripherie, seinen eigenen Körper, und über ein einziges Zentrum, den Körper und die Person des anderen. Wir werden in unserem Leben ungezählte Zentren und Peripherien formen. Aber das erste Zentrum und die erste Peripherie prägen in uns ein ursprüngliches Muster, nach dem wir alle folgenden Zentren und Peripherien gestalten. Letzten Endes ist eine transparente Peripherie die Voraussetzung für psychische Gesundheit. Je nach Beschaffenheit dieser Peripherie werden wir unterschiedlich wahrnehmen, unterschiedlich denken, unterschiedlich handeln und unsere Beziehungen unterschiedlich gestalten.

Aus dem Blickwinkel feministischer Theorie [z. B. der Philosophin Sandra Harding] könnte man die komplexe Peripherie eines Menschenlebens betonen, an deren Beginn ein bestimmter Körper steht. Diese Peripherie wird dann durch die spezielle Geschichte einer speziellen Person in einem speziellen kulturellen und historischen Umfeld erweitert. Diese komplexe und einzigartige Geschichte durchdringt das zentrierte Sehen, alle Kognitionen und sozialen Beziehungen. Da sie die Peripherie bildet, kann sie nicht auf die beliebige Akkumulation von Fakten bzw. expliziten oder logischen Annahmen reduziert werden. Und das heißt nichts anderes, als daß ihre Funktion untrennbar mit Inexplizitheit verbunden ist.

Wir brauchen den Körper, um über ihn die Peripherie zu erfassen und mit ihr in Kontakt treten zu können. Der Körper ist die unmittelbarste Quelle aller peripheren Sinneswahrnehmungen. Das Gehirn – ein Teil unseres Körpers – ist die unmittelbarste Quelle der kognitiven Peripherie. Und unser Körper ist der Ursprung aller sozialen Eingebundenheit.
WIR SIND IMMER CYBORGS GEWESEN
Um den Dualismus von Zentrum und Peripherie zu verstehen, ist es nicht entscheidend, ob etwas aus Fleisch, Metall oder Silikon besteht. Unsere Körper sind Fleisch. Wir haben sehr lange Zeit mit ihnen gelebt, Augenblick um Augenblick, und wir haben eine unglaublich reiche, komplexe, dicke Peripherie in ihnen geschaffen. Das ist der wichtigste Unterschied zwischen Fleisch und Silikon – wieviel Peripherie wir damit verbinden.

Wie würde es sich auswirken, wenn einer unserer Sinne von Geburt an mechanisch ersetzt oder erweitert würde? Experimente mit Umkehrbrillen liefern dazu einige Hinweise. Wenn solche Gläser einige Tage lang getragen werden, dreht sich die Welt wieder in ihre Ausgangslage zurück, und die normale Funktionsfähigkeit ist wiederhergestellt. Das heißt, der Umkehreffekt entschwindet in das Reich der Peripherie, wo wir wieder durch ihn handeln können. In diesem Fall ist das proximale Element, d. h. die Umkehrung, ohne Bedeutung und trägt nichts zu unserem Können bei. Stellen wir uns aber vor, es gäbe eine neue Art der Wahrnehmung. Unsere Sehfähigkeit könnte sich beispielsweise auf den Infrarotbereich ausdehnen, oder unser peripheres Sehvermögen würde verbessert. Nach einiger Zeit würde dieser befremdliche Unterschied nicht mehr im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit stehen, sondern wäre Teil der effektiven Peripherie geworden, und wir könnten damit wie mit jedem anderen Körpersinn auch leben.

Wie die Philosophin und Biologin Donna Haraway glaube auch ich, daß wir immer Cyborgs gewesen sind und immer sein werden. Ein Cyborg ist einfach jemand, dessen Wahrnehmungen oder Handlungen mit Hilfe der Technik vermittelt werden. Aber das trifft auf uns alle zu. Ohne die Vermittlung fleischlicher Linsen oder anderer Umwandler und ohne die Umsetzung in unzähligen Schichten von Synapsen und Cortex können wir nichts sehen. Vermittlung ist eine Art trivialer Peripherie.

Nicht jede Ausweitung unserer Körper erfüllt ihre Funktion. Menschen sind in Zentrum und Peripherie strukturiert. Diese Struktur ist auf verschiedene Art und Weise auf unseren realen Körper und unsere irdische Welt abgestimmt. Dies ist von einem genetischen, darwinistischen und lerntheoretischen Standpunkt und nicht zuletzt aus der Sicht der Zentrum-Peripherie-Theorie sehr naheliegend. Architektur, Produktdesign, Stadtplanung, Politik und viele andere großartige und weniger großartige Künste beziehen sich zum Teil auf die Prädispositionen der menschlichen Peripherie. Diese Kunst, die wir als universell ansehen, greift in hohem Maße auf die universelle Zentrum-Peripherie-Struktur zurück. Ihre vergänglicheren Formen beschränken sich auf die vorübergehend gelernten oder konstruierten Peripherien einer bestimmten Kultur oder Zeit.
DIE ROLLE DER KUNST IN DER PERIPHERIE
Die Annäherung an die Peripherie stößt auf große Schwierigkeiten. Das Zentrum eignet sich kaum als Zugang, da jedes Wort und jeder explizite Hinweis an der Sache vorbeiführen. Die Peripherie wird durch den Versuch, sie deutlich zu machen, zerstört – wie ein Fisch explodiert, der aus der Tiefe des Meeres an die Oberfläche gezogen wird. Man muß sich an die Peripherie heranpirschen und sie anstupsen. Man muß auf sie anspielen und hinweisen, ohne sie zu erwähnen. In einigen Kulturen darf der Name Gottes nicht erwähnt werden, aber man darf indirekt durch sein Wirken auf ihn Bezug nehmen, wie z. B. "der, der alle Dinge schuf". Ganz ähnlich verhält es sich mit der Peripherie einer bestimmten Person; manchmal beschreibt man sie am besten durch ihre Wirkung.

Eine der Schlüsselfunktionen der Kunst ist die Neugestaltung von Peripherien. Während Wissenschaft und Technik sich mit Dingen beschäftigen, die niedergeschrieben werden können, dreht sich Kunst um das nicht explizit Erklärbare. Kunst kann nicht einfach über etwas sprechen, sie muß unter der Oberfläche unseres Zentrums kommunizieren.

In der Kunst von "Bedeutung" zu sprechen, ist ein Irrtum, der Zentrum und Peripherie durcheinanderbringt. Bedeutung ist ein Begriff des Zentrums, wo man sich ein Modell von Konsequenzen und Denotaten zurechtlegen und das dann Bedeutung nennen kann. Kunst bedient sich der Denotaten, Konsequenzen und Resonanzen, um etwas zu schaffen, das nicht selbst "Bedeutung" ist. Kunst schafft einen neuen Rahmen, neue Peripherien, sie prüft die Konsequenzen, deutet auf verborgene Peripherien hin, rückt die Peripherie ins Zentrum und umgekehrt.

Steve Mann, Künstler am MIT, trägt tagaus, tagein Videobrillen. Er stellt selbst eines seiner Kunstwerke dar. Als Verkörperung dieser neuen Art von Selbst – als Mensch, der einen Teil der Welt ständig digital vermittelt wahrnimmt; als Mensch, der sich mit Hilfe der Technik bewußt kontinuierlich ausdehnt –, stellt er unsere fleischliche Körperperipherie in Frage. Galt für unsere Peripherie nicht die unausgesprochene, implizite Annahme, daß wir nichts anderes als Fleischkörper sein können? Steve Mann konfrontiert uns mit einer Alternative.

Wenn ein Kunstwerk auf Ablehnung stößt, bleibt es häufig im Bereich des Expliziten. Der Zugang zu unserer Peripherie wird ihm verwehrt. Ist Mann einfach ein bißchen verrückt, ein bedeutungsloser Possenreißer? Das würde bedeuten, ihn einfach abzustempeln und von unseren unausgesprochenen Weltanschauungen fernzuhalten.

Kommerzielle Kunst wird häufig geringgeschätzt, weil sie die Peripherie nicht aufrüttelt, sondern den bestehenden Rahmen verstärkt. Um noch mehr Menschen noch mehr Zigaretten zu verkaufen, eignen sich am besten die allergewöhnlichsten peripheren Elemente einer bestimmten Kultur. Sex, Geld, Jugend sind in unserem proximalen kognitiven Rahmen oft fest verankert. Wirklich gute kommerzielle Kunst weiß mit dieser Peripherie machtvoll mitzuschwingen und vermeidet zugleich jede Explizität, so daß die Resonanz peripher bleibt. Jede Peripherie braucht ein Zentrum. Innerhalb der mächtigen, aufgewühlten Peripherien bietet uns kommerzielle Kunst ein neues Zentrum: das Produkt.
KREATIVITÄT, FLIEßEN UND MEDITATION
Der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi spricht vom "Flow-Zustand". In diesem Zustand schaffen die Menschen ihre besten und kreativsten Werke. Folgende Dinge sind u. a. dafür charakteristisch:
  • Verlust des Zeitgefühls

  • Verlust des Ortsgefühls

  • intensive Aktivität des proximalen Bereichs

  • eine Art unbewußtes wenn auch vielleicht stark gerichtetes "Nicht-Denken"
Im Flow-Zustand kann sich die intensive proximale Aktivität auf perzeptorischer, kognitiver, handlungsmäßiger oder sozialer Ebene äußern, es kann sich auch um eine Kombination dieser oder anderer peripherer Bereiche handeln. Im Flow-Zustand sind wir höchst effektiv, da wir viele Wissensgebiete aktivieren und einsetzen können, ohne uns ihrer bewußt zu sein. Tatsächlich können wir sie nur deswegen alle gleichzeitig nutzen, weil sie im Proximalen bleiben.

Programmierer sind mit diesem "Flow-Zustand" bestens vertraut. Er stellt sich während einer die ganze Nacht dauernden Arbeitssitzung ein, wenn ein Fehler nach dem anderen behoben wird und das Programm immer besser läuft – und dann bemerkt man plötzlich, daß die Sonne aufgeht. Programmieren kann nicht nach Laune begonnen oder beendet werden – auch die erfahrensten Programmierer brauchen einen langen Zeitraum völliger Ungestörtheit vor sich, um sich in den Flow-Zustand einklinken zu können. [Im Computerjargon sprechen die Programmierer manchmal von "in den Zustand wechseln", und wenn sie ihn gewechselt haben, möchten sie auch drinbleiben.] Csikszentmihalyi zufolge kann es bis zu 30 Minuten dauern, bis sich der Flow-Zustand einstellt.

Im Flow-Zustand ist die Aufmerksamkeit des Programmierers auf das große Bild gerichtet. Aber auch die kleinen Bilder finden eins nach dem anderen Beachtung. Man hat beinahe das Gefühl, umso geschickter zu sein, je weniger bewußt man handelt. Die eigene Geschichte mit all ihren Erfahrungen fließt stillschweigend ein und wird zur Lösung des vorliegenden Problems eingesetzt. Befriedigung und Freude stellen sich ein.

Die Erfahrung des Programmierers mit dem Flow-Zustand wiederholt sich in vielen anderen kreativen Bereichen. Die langen Nächte, das Einklinken in den Flow-Zustand, der Verlust des Zeitgefühls. Das sind die Stunden, wo wir am meisten Mensch sind, wo unsere Peripherie am hellsten strahlt.

Kürzlich hatte ich auf einer Reise nach Japan die Gelegenheit, vor einer Zuhörerschaft von Studenten und kreativen Technikern über Flow-Zustand und Bautechnologie zu referieren. Ich stellte die Frage, ob es im Japanischen ein Wort für diesen Zustand gäbe, und nach einiger Diskussion wurde folgendes Zeichen "muga" vorgeschlagen:

Verschiedene japanische Wörterbücher übersetzen muga mit Ichlosigkeit, Nicht-Denken und Ekstase. Es wurde als nicht-religiöses Wort zur Beschreibung von Zen angeführt.

Meine Gastgeber bestätigten, daß muga generell etwas Absichtsloses bedeutet [obwohl die Zazen-Meditation – wie z. B. beim Bogenschießen – durchaus zielgerichtet sein kann]. Der Flow-Zustand ist also möglicherweise gleichbedeutend mit absichtsvollem muga.

Ist die in so vielen Kulturen anzutreffende Technik der Meditation gleichzusetzen mit dem Flow-Zustand, d. h. mit der Aktivierung einer komplexen Peripherie? Bei der Meditation wird das Bewußtsein, das Zentrum, ausgeschaltet, und übrig bleibt allein das Unbewußte, das Periphere. Meditation, muga, ist also Fließen ohne Ziel und Absicht.
MODERNISMUS, POSTMODERNISMUS UND DARÜBER HINAUS
Der Modernismus ist zum Teil dafür bekannt, sich auf das Zentrum zu konzentrieren und die Peripherie zu vernachlässigen. Das Konzept des Modernismus zielt darauf ab, alles explizit zu machen. "Laßt uns rechnen", sprach Leibniz – und das hätte der Slogan des Modernismus sein können: Die Rationalität ist das Maß des Menschen. Das Implizite hat im Modernismus keinen Platz. Der ganze proximale Bereich ist dem Modernismus, der alles ins Zentrum bringen und überprüfen muß, ein Greuel.

Der Postmodernismus stellt eine Vervielfachung des Modernismus dar. Auch in der postmodernen Welt verfügen wir über eine Geschichte, beziehen Standpunkte, haben eine Vielzahl möglicher richtiger Antworten zur Hand und können aus vielfältigen Quellen schöpfen. Im Postmodernismus beruht der Fortschritt einzig und allein auf der Akkumulation von immer mehr Standpunkten. Aber jeder dieser Standpunkte hat seine Exegese. Postmodernismus bedeutet noch nicht das Ende des modernistischen Konzepts der Explizität.

Jenseits des Postmodernismus wartet das Zeitalter, an dessen Beginn wir gerade stehen. Vielleicht gelingt es der Peripherie in diesem Zeitalter, den ihr gebührenden Platz an der Seite des Zentrums einzunehmen. Vielleicht werden wir lernen, mit Dingen umzugehen, die nie explizit ausgesprochen oder berechnet werden können, denen man sich nur hingeben kann, um sie zu verstehen. Es ist möglich, einige Dinge dauernd explizit zu machen, und manchmal können alle Dinge für einige Zeit explizit werden. Aber es ist nicht möglich, alles ständig explizit zu machen. Mit der permanenten Peripherie zu leben, aus ihr Kraft zu schöpfen, ist die Lektion, die uns das Zeitalter des Post-Postmodernismus erteilen wird.

Die ursprüngliche Quelle der Peripherie ist der Körper. Im Zeitalter der Peripherie werden unsere Körper zum Gegenstand der Verehrung werden und sich überall hin ausdehnen.

Die Formulierung der Ideen in diesem Aufsatz hat von Gesprächen mit Aki Uyetani, Beth Mynatt und John Seely Brown profitiert. John Seely Brown ist Mitentwickler des Zentrum/Peripherie-Konzepts.