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Daniel Dennett sagt: Wir sind Maschinen (auch unsere Gehirne)


'Tom Sherman Tom Sherman / 'Daniel Dennett Daniel Dennett

TS: Aus historischer Sicht haben die Philosophen einen Gutteil ihrer Zeit damit verbracht, den Unterschied zwischen Mensch und Tier zu begründen. Wie viele andere auch versuchen wir im Rahmen von FleshFactor gerade festzustellen, inwieweit wir uns von Maschinen unterscheiden. Sie selbst haben erklärt, das Gehirn sei eine Art Computer. Finden Sie es erstrebenswert, daß Menschen sich selbst als [organische] Maschinen sehen?
DD: Ich denke, unsere Aufgabe als Philosophen ist es, den Leuten über ihre Angst, Maschinen zu sein, hinwegzuhelfen. Diese Tatsache kann ohnehin nicht länger geleugnet werden – es sei denn, man flüchtet sich in komplette Uninformiertheit. Logisch gesehen, gibt es zwei Möglichkeiten: Wir können angesichts der Entdeckung, daß wir Maschinen sind, unser Selbstwertgefühl verlieren oder aber die Leistungsfähigkeit von Maschinen besser schätzen lernen. Es gibt keinen Grund, sich der ersten Alternative zu ergeben, aber viele gute Gründe, sich für die zweite zu entscheiden.
TS: Viele der Beiträge zu FleshFactor betonen, wie wichtig es ist, die Verwandtschaft unserer Spezies [zu den Tieren] innerhalb des Ökosystems nicht aus den Augen zu verlieren. Glauben Sie, daß Ihre Schriften über Darwin und die natürliche Selektion diesem Bedürfnis der Menschen entgegenkommen, sich wieder als Teil der Natur zu fühlen?
DD: Ja, ich denke schon. Ich stelle fest, daß viele selbsternannte Wächter der menschlichen Kultur von Entsetzen gepackt werden, wenn sie eingestehen sollen, daß sogar die menschliche Kultur – Kunst, Ethik, Religion, Politik, Wissenschaft – ein Produkt der Natur ist. Daß die Kathedrale von Chartres genauso Teil des erweiterten Phänotyps des Menschen ist wie der Damm eines Bibers Teil des erweiterten Phänotyps des Bibers ist. Aber diese Hoffnung, die Kultur vor der Biologie "schützen" zu können, indem man ihre biologischen Wurzeln leugnet, ist kurzsichtig: Sie könnte sich nur erfüllen, wenn Kultur eine Art wunderbares Geschenk "von oben" wäre, himmlisches Manna. Da das einfach eine groteske Vorstellung ist, sollten diese Menschen einmal tief Luft holen und versuchen, eine simple Tatsache zur Kenntnis zu nehmen: Kunst [und Kultur im allgemeinen] ist nicht weniger wunderbar, nur weil sie ein Produkt der Natur ist. Jeder, der glaubt, Evolution könne zwar eine Nachtigall, nicht aber eine Ode an sie hervorbringen, kann das Wunderbare an einer Nachtigall einfach nicht richtig schätzen.
TS: Sie genießen durchgehend Respekt unter Wissenschaftlern, weil Sie auch tatsächlich über das jeweilige Sachgebiet Bescheid wissen, wenn Sie über Neurowissenschaft, Wahrnehmungspsychologie oder Künstliche Intelligenz schreiben. In der Tat haben Sie Ihr erklärtes Ziel weitgehend erreicht, mitarbeitender Forscher auf all diesen Gebieten zu sein, eine komplementäre intellektuelle Kraft zu Ihrer Rolle als zeitgenössischer Philosoph. Da Wahrnehmung, Bewußtsein und Intelligenz die Kreativität als eine Art "Motor" für Wachstum und Veränderung brauchen, stellt sich die Frage, welchen Platz Sie den Künstlern in der interdisziplinären Forschung dieser oder anderer Gebiete zuweisen.
DD: Meiner Meinung nach ist es die Hauptaufgabe der Philosophie, unserer Phantasie neue Aussichten, neue Möglichkeiten zu erschließen. Somit findet sich die Philosophie in ihrer besten Form ungefähr in der Mitte zwischen Kunst und Wissenschaft wieder. Ohne die Ziele und Methoden der Kunst würde die Philosophie ihre ausgetretenen Pfade nie verlassen, sondern nur ihre Position verteidigen. Ohne die Disziplin wissenschaftlicher Forschung bliebe der Philosophie zu wenig Substanz, um von großem Wert zu sein. Es geht nicht nur darum, neue Gedanken zu entwickeln – das kann jeder. Es kommt darauf an, gute neue Gedanken zu entwickeln. Als ehemaliger [oder zeitweiliger] Bildhauer habe ich großes Verständnis und große Hochachtung für Künstler. Aber ich habe eine generell schlechte Meinung vom Rest der Kunstwelt und im besonderen von der anmaßenden Kultur der Galerien, Kritiker und Sammler. Eine ganz ähnliche Einstellung habe ich zu zeitgenössischer "ernster" [im Gegensatz zu populärer] Musik. Aber all diese Phänomene von hochtrabender Albernheit sind meiner Meinung nach nur vorübergehende Phantasmen. Wirkliche Kunst wird auch weiterhin geschaffen werden und wird auch weiterhin ihre umfangreiche, erhellende, erkenntnisfördernde Rolle spielen. Wir bekommen vermutlich eine klarere Vorstellung von der Rolle der Kunst, wenn wir einen Blick zurückwerfen auf die Kunst in den Tagen Galileis, Newtons oder Darwins. Der Vorschlag, oder auch die Hoffnung, Kunst möge heute eine größere Rolle spielen als in der Vergangenheit, ist unrealistisch und unangebracht.
TS: Ihre Gedanken zur Rolle von Philosophen und Künstlern lassen den Glauben an eine Art natürlicher Selektion von Ideen, Bildern oder Melodien erkennen. Es scheint, daß kreative Variation und Diversität nur einen Aspekt der kulturellen Evolution darstellen, daß aber letztendlich das Publikum entscheidet, welche Ideen, Bilder oder Melodien gut und damit wert sind, in nennenswertem Ausmaß vervielfältigt und verbreitet zu werden. Sie können den Einfluß von Verlagen und ähnlichen Institutionen auf die Welt der Ideen, die Kontrolle der Museen und der Musikindustrie über Kunst und Musik doch nicht leugnen? Gute Gedanken, Bilder oder Lieder finden nur selten deswegen Verbreitung, weil sie gut sind. Spielbergs Dinosaurier sind den Filmen eines Experimentalfilmemachers nicht überlegen, weil sie höhere Kunst sind. Halten Sie es nicht für gefährlich, ernste Kunst und Musik als "hochtrabende Albernheit" oder "vorübergehende Phantasmen" zu bezeichnen? Stellen Variation und Diversität nicht die unabdingbaren Voraussetzungen für ein gesundes kulturelles Umfeld dar?
DD: Variation und Diversität sind in der Tat von entscheidender Bedeutung für ein gesundes kulturelles Umfeld. Je reichhaltiger der Vorrat an Memen, desto besser. Aber als Darwinist gehe ich davon aus, daß der Großteil der künstlerischen Ideen – ebenso wie der Großteil der Organismen und Geschlechter – nach einem relativ kurzen Gastspiel von der Bildfläche verschwinden wird. Es gibt keinen Grund, das zu bedauern. Das ist der Preis der Innovation, es wäre kurzsichtig, alle Ideen im selben Ausmaß fördern zu wollen. Ich bin nicht im entferntesten für die Abschaffung ernster Kunst, ich bin nur der Meinung, wir sollten sie von ihrem anmaßenden Sockel stoßen. Ein ausgezeichneter Country&Western-Song ist unter Umständen höhere Kunst als eine zweitklassige Experimentaloper – aber das ist nur mein ganz persönlicher Beitrag zum kulturellen Selektionsdruck. Sollen andere dem ihren eigenen Beitrag entgegensetzen – schließlich sind wir alle mit einer großen Vielfalt an Anforderungen besser bedient.
TS: Aus der Logik Ihrer Schriften folgt, daß Ihrer Meinung nach die Voraussetzungen dafür, Künstler zu sein, schlicht und einfach genetisch festgelegt sind. Als Vater müssen Sie zugeben, daß alle Kinder zu Beginn ihrer Entwicklung beinahe grenzenlos kreativ sind, daß es aber aus verschiedenen Gründen [wobei auch der Einfluß der Kunst eine Rolle spielt] nur ein geringer Prozentsatz schafft, schöpferisch offen zu bleiben. Glauben Sie, daß Kreativität genetisch vorgegeben ist? [Ich denke dabei nicht an "Talent" – an das sichtbare Ergebnis der Koordination von Hand/Auge, Hand/Ohr sowie des ganzen Körpers als Voraussetzung für überragende zeichnerische, musikalische und sonstige körperliche Fähigkeiten.]
DD: Ich kann nicht mit einer fundierten Vorstellung davon aufwarten, welche Rolle genetische und umweltbedingte Faktoren bei der "Konstruktion" von Kreativität spielen. Ich vermute, daß es sich um außerordentlich vielfältige Faktoren handelt. Ich habe jedoch den Verdacht, daß es ein paar einfache "Tricks" gibt, die einige Menschen nie erlernen, die aber für Kreativität nahezu unerläßlich sind. Man muß an erster Stelle Gefallen daran finden, Fehler zu machen und sie auszukosten. Menschen mit einer Scheu vor Fehlern bremsen sich sozusagen selbst aus. Der Trick besteht also darin, die Fehler auf eine fruchtbringende Art und Weise zu machen, so daß man selbst und andere davon profitieren können und der Schaden auf ein Minimum reduziert wird. Dann können Fehler Spaß machen, einem selbst und auch den Zusehern.
TS: Die Größe, die Dimension des Individuums scheinen sich in den letzten zwei Jahrzehnten verändert zu haben [zweifellos haben auch Künstler Erfahrungen damit gemacht …]. Die allgemein verfügbaren Kommunikationstechnologien haben unsere vermittelte Selbstpräsenz erweitert. Mittlerweile sind wir an dem Punkt angelangt, wo Individuen offenbar denselben Einfluß ausüben können wie Institutionen oder Firmen, ohne einer solchen Institution oder Firma anzugehören. Handelt es sich dabei großteils um eine nur temporäre und illusionäre Ausweitung des Selbst [wenn hier und da Zeichen in der Medienlandschaft hinterlassen werden bzw. tatsächlich häufig mit fremden Menschen kommuniziert wird]? Oder handelt es sich dabei um eine permanente Ausweitung des Individuums und seines Selbstgefühls?
DD: Alexander der Große, Ludwig XIV. und einige andere bedeutende Persönlichkeiten verfügten vermutlich über ein "Selbst", dessen Größe an die eines alltäglichen menschlichen Selbst von heute herankommt – nur ohne die heutige Effizienz und Geschwindigkeit. Tatsächlich hat diese noch nie dagewesene Ausweitung unserer Macht eine ernste moralische Konfusion ausgelöst. Wie die Philosophen so gerne sagen, impliziert das "Sollen" auch das "Können". Daraus folgt, daß uns die Verfügbarkeit neuer Möglichkeiten [jeder von uns kann heute Dinge tun, die unsere Großväter nicht tun konnten] vor die schwierige Entscheidung stellt, was wir tun sollen. Das Verhalten jedes einzelnen kann heutzutage einen nicht unerheblichen Einfluß darauf ausüben, wie es z. B. hungernden, versklavten oder unterdrückten Menschen in den entferntesten Winkeln der Erde ergeht. Angesichts des Übermaßes an Wahlmöglichkeiten stellen wir peinlich berührt fest, daß unsere Hände nicht gebunden sind, daß es etwas gibt, das wir tun können. Wofür sollen wir uns aber entscheiden? Wir können nicht alles tun [und wir haben auch einfach keine Lust zum Ausprobieren]. Mit diesem Problem sahen sich auch die rechtschaffensten unserer Vorfahren nur selten konfrontiert. Die Philosophen haben uns auf den Umgang damit nur schlecht vorbereitet.
TS: Eine bedeutende Rolle bei der Vervielfältigung von Wahlmöglichkeiten und Handlungspotentialen spielt unser unglaublich vergrößerter Aktionsradius. Der einzelne kann auf globaler Ebene Einfluß nehmen, so wie er auch in der Lage ist, den Umfang des Informationsaustausches und sogar die Zahl seiner Beziehungen zu anderen Menschen zu erhöhen. Wenn Ausmaß und Bandbreite persönlicher Bemühungen zunehmen, kann das zum Problem des Überengagements führen – ganz zu schweigen von der psychischen und physischen Erschöpfung als Folge dieses übermäßigen Einsatzes. Man könnte sagen, daß ein Mensch, der diese Ausdehnung des Selbst überlebt, sich automatisch an ein flüchtigeres Leben [an ein Leben an der Oberfläche] anpaßt. Wenn emotionale und intellektuelle Tiefe einem vergrößerten Aktionsradius geopfert werden – besteht das Dilemma dann nicht darin, eine Wahl zu treffen und sich zu entscheiden, in welchem Ausmaß man sich für die einmal gewählte Richtung einsetzen sollte?
DD: Ich denke, Sie haben recht. Tatsächlich habe ich genau diese Bedenken vor einigen Jahren geäußert, und zwar in einem Aufsatz mit dem Titel Information, Technology, and the Virtues of Ignorance in DAEDALUS [1986]. Wir haben noch nicht gelernt, uns im Informationszeitalter zurechtzufinden. Gerade wir Philosophen haben versäumt zu erkennen, daß die "klassischen" Sichtweisen dieses Problems in zunehmendem Maße obsolet werden. Manche finden das vielleicht schockierend, obwohl sie gleichzeitig jeden auslachen würden, der glaubt, daß Kunst und Wissenschaft in den Tagen unserer Großväter oder zu Kants oder Aristoteles' Zeiten ein für alle Mal definiert wurden. Warum sollte ausgerechnet die Philosophie – und speziell die Ethik – als einziger Bereich der menschlichen Kultur Innovationen nicht aufgeschlossen gegenüberstehen?
TS: Eines der Hauptziele von FleshFactor ist es, festzustellen, inwieweit sich das Selbstverständnis unseres Menschseins in den vergangenen Jahrzehnten, besonders im Zeitalter der Informationstechnologien, verändert hat. Die Teilnehmer an diesem Netz-Symposium haben ihre Beobachtungen auf verschiedenste Weise formuliert und so eine Vielzahl von Entwürfen zum kollektiven Selbstverständnis ihres Menschseins hervorgebracht. Damit konnte eine Grenze gezogen werden zwischen Menschen und Maschinen. Und natürlich haben wir feststellen müssen, daß in zunehmendem Maße Menschen und Maschinen auf beiden Seiten dieser Grenze anzutreffen sind, und daß die, die wir einst für Menschen hielten, eigentlich Maschinen sind; und wer weiß, eines Tages vielleicht sogar umgekehrt. Könnten Sie uns abschließend verraten, worin sich Ihrer Meinung nach unsere Selbstwahrnehmung als Menschen in den letzten Jahrzehnten im wesentlichen geändert hat?
DD: Im Zeitalter der künstlichen Körperteile und der zunehmend raffinierten "Reparaturen" von körperlichen Fehlern [von Molekülen bis zu Gliedmaßen], ist die Vorstellung, unsere Körper seien Maschinen, alltäglich geworden – zu prosaisch, um einen Kommentar hervorzurufen. Die Vorstellung, daß auch unsere Gehirne Maschinen sind, stößt hingegen noch auf enormen Widerstand. Denn das scheint doch zu bedeuten, daß wir weder frei noch für unsere Taten verantwortlich sind. Ich bin aber optimistisch und glaube, daß sich diese gruselige Illusion in Luft auflösen wird. In zwanzig Jahren wird es nicht mehr paradox klingen, daß wir Menschen [bis jetzt] die einzigen Maschinen mit freiem Willen sind. Die wichtigsten philosophischen Hindernisse, die dieser Einstellung entgegenstehen, wurden bereits aus dem Weg geräumt. Es genügt, wenn wir uns das einander immer wieder ins Bewußtsein rufen und alle Übertreibungen vermeiden, die das Pendel in die andere Richtung ausschlagen lassen könnten. In ihrer Angst versuchen die Menschen zu schützen, was ihnen wirklich wichtig ist. Dabei gehen sie ein bißchen zu weit – so als ob eine zusätzliche "Sicherheitszone" rund um die tatsächlich schützenswerten Visionen eine umsichtige Vorsichtsmaßnahme wäre – und nicht das Rezept für ein dogmatisches Desaster. Ich kann mir als Philosoph keine bessere Aufgabe vorstellen, als den Menschen klarzumachen – ihnen ruhig und geduldig klarzumachen – , daß sie sich ruhig ein Stück weit auf die Sache einlassen können, ohne etwas von dem aufgeben zu müssen, was ihnen wichtig ist.
TS: Danke, Daniel Dennett.