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FLORA und FAUNA: Spiele und traditionelle Kultur in Japan


'Machiko Kusahara Machiko Kusahara

Überall auf dieser Erde gibt es Fauna und Flora. Ein Ökosystem besteht aus verschiedenen Arten, die in einem engverflochtenen Beziehungsgefüge miteinander leben. Unter bestimmten Umständen dominieren bestimmte Arten. Ein Umgebungswechsel oder die plötzliche Veränderung lokaler Gegebenheiten könnte bewirken, daß einige Arten gut gedeihen, andere jedoch zurückgehen. Alles in allem sind es aber diese komplexen Zusammenhänge in Fauna und Flora, die das Leben im jeweiligen Gebiet aufrechterhalten und das Fortbestehen des Ökosystems über Generationen sichern. Mit unserer Kultur ist das ebenso. Unsere Gesellschaft ist nun vernetzt. Dank dem Internet verschwinden die Entfernungen zwischen den Dingen, heißt es. Wir leben alle als Nachbarn zusammen, teilen eine globale Kultur, verstehen einander. Manche behaupten, das globale Netz zerstöre kulturelle Traditionen. Kann das stimmen?

Natürlich verändert sich unser Ökosystem. Aber globale Kommunikation bringt ein wachsendes Bewußtsein für kulturelle Artenvielfalt und kulturelle Parallelen mit sich. Jede Kultur hat ihr eigenes Gedanken- und Darstellungssystem. Solche Systeme dienen einer Gesellschaft dazu, für jedes neue Medium passende Anwendungsformen zu entwickeln. Es ist interessant zu beobachten, was momentan in der japanischen Computerspiel-Kultur passiert. Traditionelle Ästhetik findet hier ihre Fortsetzung in digitaler Unterhaltung.

In japanischen Comics und Zeichentrickfilmen wird deutlich, was wir von unserer Tradition übernommen haben. Wie bei japanischen Drucken sind auch hier die Charaktere flach, in matten Farben, mit unnatürlich deformierten Gesichtern. Die Proportion der Gesichter kann unmöglich von einem dreidimensionalen Modell stammen. In der Landschaftsdarstellung fehlen Schattierungen und ein Sinn für räumliche Tiefe. Obwohl diese Tatsache in der westlichen Kultur kaum bekannt ist, haben die Japaner die perspektivische Sichtweise erst vor knapp 150 Jahren vom Westen übernommen. Auch der Realismus kam aus dem Westen nach Japan. Die asiatische Malerei kannte ursprünglich keine Perspektive. Überhaupt nahm man in Japan dreidimensionalen Raum bzw. dreidimensionale Körper völlig anders wahr als im Westen.

Ein Grund, weshalb Comics und Zeichentrickfilme in Japan so erfolgreich sind, könnte darin liegen, daß sie nichts mit der Realität zu tun haben. Der flexible Umgang mit Raum in Comics stimmt mit den traditionellen Bildrollen überein, wo Ereignisse, die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten stattfinden, in derselben Szene abgebildet sein können. Die flachen Gesichtszüge der Charaktere sehen für japanische Augen vertrauter aus als realistische Porträts. Als zweidimensionale Videospiele den Markt eroberten, war es also nur natürlich, daß sie hauptsächlich von solchen Charakteren bevölkert waren. Die japanische Comic- und Zeichentrick-Ästhetik schien ihren Weg in das digitale Medium gefunden zu haben.

Inzwischen gibt es bereits Hochleistungsplattformen für Spiele, und Spiele-Designer sahen sich mit einer schwierigen Frage konfrontiert. Die Forderung nach mehr Film, mehr Action, größerer Interaktivität führt zwangsweise zur Verwendung von 3D-Computergraphiken. Die Charaktere, früher zweidimensional und häufig dem japanischen Comic-Stil nachempfunden, mußten mitsamt ihrer Umgebung in 3D umgewandelt werden. Wie kann nun die japanische Tradition der flachen, nicht-photorealistischen, anti-perspektivischen Darstellung in die dreidimensionale Computerwelt übernommen werden, wo Geometrie und Optik als Grundregeln des visuellen Ausdrucks gelten? Es geht hier übrigens nicht nur um die Charaktere selbst; ein weiteres Problem ist die Animation.

Virtual Idol Kyoko Date wurde letztes Jahr entwickelt und basiert auf dem Know-how einer führenden japanischen Verwaltungsgesellschaft für TV-"Idols", bekannt unter dem Namen Hori Pro. Die neuentwickelte Mädchenfigur wurde als erstes "virtuelles Talent" dieser Firma bekannt. Sie hat das typische Gesicht und den typischen Körper eines "Idols", einen idealistischen Stil und natürliche, durch Motion-Capture erzeugte Bewegungen. Trotzdem war sie ein Flop. Es fehlte ihr das gewisse Etwas. Einige japanische Zeichentrick-Graphiker begannen zu bezweifeln, ob sie mit Motion-Capture-Systemen auf dem richtigen Weg seien. Nach jahrelangen Erfahrungen mit virtueller Realität und Motion-Capture setzt Fuji TV als Idee und Schnittstelle für sein Fernsehprogramm nun auf Bunraku, das japanische Puppenspiel. Die Sprache des traditionellen Puppenspiels Bunraku ist unsere ureigene Entwicklung. Da diese Sprache im Laufe der Geschichte stark verfeinert wurde und unserem Code entspricht, müßte sie auch bei virtuellen Charakteren besser funktionieren als der neueingeführte menschliche Bewegungscode.

Motion-Capture kann Emotionen nicht übertragen, heißt es. Nach der oben erwähnten Lektion wirbt Hori Pro nun für eine virtuelle Puppe – eine japanische Version von Barbie. Die Wiederentdeckung der Puppen entspricht den Entwicklungen im Spiele-Design. Der Graphikdesigner von Kowloon's Gate, einem erfolgreichen Spiel, das kürzlich auf den Markt kam, verwendete laut eigenen Angaben für die Animation den Code des Bunraku und legte die Charaktere [nach zahlreichen Experimenten] an der höchst fragilen Schnittstelle zwischen Realität und den Eigenheiten der japanischen Comics an. Da diese Charaktere eher Puppen als menschliche Wesen sind, sehen sie seiner Meinung nach auch natürlicher aus, wenn man sie wie Puppen behandelt.

Auch die Geschichte von Kowloon's Gate ist höchst interessant. Sie basiert auf der Theorie von Yin und Yang, den beiden Elementen, die das Universum im Gleichgewicht halten. Im Spiel wird der Besucher aufgefordert, das virtuelle Kowloon zu besuchen, um das verlorene Gleichgewicht wiederherzustellen. Obwohl der Besucher auf zahlreiche gelungene Monster und Ungeheuer trifft, die er manchmal auch bekämpfen muß, ist keines davon nur gut oder nur böse. Der Designer [Regisseur] des Spiels versucht, auf der Basis asiatischen Denkens einen neuen Ansatz für das Rollenspiel zu finden. Einige japanische Spiele können in der Tat als interaktives Kino gelten. Aufgrund der japanischen Marktstruktur sollten Multimedia-Arbeiten, die auf diesem Markt erfolgreich sein wollen, in Spielform realisiert werden. Gadget und Gadget Trip von Haruhiko Shono sind – neben Kowloon's Gate – Beispiele dafür.

Die Suche nach einem japanischen Stil in den digitalen Medien wird weitergehen. Es wäre nicht nur für Japaner interessant, diese Entwicklungen zu beobachten. Denn, wie ich vorne gesagt habe, sehen wir hier nicht nur, wie die Medientechnologie eine Kultur durchdringt. Wir haben es auch mit einer Steigerung der Artenvielfalt zu tun, die dazu beitragen wird, unsere Gesellschaft in ihrem Anpassungsprozeß an die medial geprägte Umgebung zu bereichern.