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Sorry, aber Ihre Seele ist gerade gestorben


'Tom Wolfe Tom Wolfe

Da ich nicht ganz auf dem Laufenden bin, hatte ich gerade erst von der digitalen Revolution gehört, als Louis Rossetto, Mitbegründer der Zeitschrift Wired, – ganz der junge kalifornische Visionär, im kragenlosen Hemd, das Haar so lang wie Felix Mendelssohn – letzten Februar in einem Vortrag am Cato Institute den Beginn der digitalen Zivilisation des 21. Jahrhunderts verkündete. Er berief sich dabei auf einen Text des ketzerischen jesuitischen Wissenschaftlers und Philosophen Pierre Teilhard de Chardin, der vor 50 Jahren prophezeit hatte, Radio, Fernsehen und Computer würden eine "Noosphäre" schaffen, eine elektronische Membran, welche die Erde überziehen und die gesamte Menschheit wie ein einziges Nervensystem verbinden würde. Geographische Standorte, Staatsgrenzen, die herkömmlichen Vorstellungen von Märkten und politischen Prozessen – all das würde irrelevant werden. Nun, da sich das Internet in erstaunlichem Tempo über die ganze Welt ausbreitet, meinte Rossetto, stehe dieser wunderbare, modemvermittelte Augenblick unmittelbar bevor.

Mag sein. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, in zehn Jahren, im Jahr 2006, wird sich das digitale Universum ziemlich bescheiden ausnehmen neben einer neuen Technologie, die heute noch in den Kinderschuhen steckt und nur in einigen wenigen amerikanischen und kubanischen [ja, kubanischen] Krankenhäusern und Labors getestet wird. Ich spreche von Brain Imaging, und jeder, der gern vorne mit dabei ist und einen wirklich fulminanten Einstieg ins 21. Jahrhundert miterleben möchte, sollte diese Entwicklung im Auge behalten.

Als Brain Imaging bezeichnet man bildgebende Verfahren, mit denen man in Echtzeit beobachten kann, wie das menschliche Gehirn arbeitet. Die fortschrittlichsten Methoden sind derzeit die 3D-Elektroenzephalographie auf der Basis mathematischer Modelle, das etwas bekanntere PET-Scanning [Positronenemmissionstomographie], die neuentwickelte funktionelle Magnetresonanztomographie [fMRT], die das Durchblutungsprofil des Gehirns anzeigt, die Magnetresonanzspektroskopie [MRS], die biochemische Veränderungen im Gehirn mißt, und schließlich das Neueste vom Neuen, PET reporter gene/PET reporter probe, so brandneu, daß sich bisher für diesen Zungenbrecher von Namen noch keine Abkürzung durchgesetzt hat. PET reporter gene/ PET reporter probe fand bislang nur bei Tieren und einigen unheilbar kranken Kindern Anwendung und zeigt bestimmte Gene im Gehirn auf einem Scanner-Schirm als Leuchtpünktchen an.

Für heutige Begriffe sind das alles raffinierte Geräte, aber in zehn Jahren wirken sie wahrscheinlich primitiv im Vergleich zu den bis dahin entwickelten Verfahren, die uns atemberaubende Einblicke in das Gehirn bieten werden.

Brain Imaging wurde zum Zweck der medizinischen Diagnose erfunden; weitaus wichtiger ist jedoch, daß es mit unumstößlicher Präzision gewisse Theorien über "den Geist", "das Selbst", "die Seele" und den "freien Willen" bestätigen könnte – Theorien, von denen Wissenschaftler aus dem derzeit aufregendsten Bereich der akademischen Welt, der Neurowissenschaft, bereits felsenfest überzeugt sind. Zugegeben, schon wegen all dieser skeptischen Anführungszeichen wird jeder sofort mißtrauisch werden, aber Ultimative Skepsis macht den versprochenen fulminanten Einstieg ins 21. Jahrhundert erst so richtig perfekt.

Die Neurowissenschaft, die Lehre vom Gehirn und vom Zentralnervensystem, steht kurz vor einer einheitlichen Theorie, die ebenso gewaltige Auswirkungen haben wird wie vor hundert Jahren der Darwinismus. Es gibt auch schon einen neuen Darwin, oder besser ein Up-Date, denn keiner glaubt inbrünstiger an Darwin I. als er. Sein Name ist Edward O. Wilson. Er lehrt Zoologie in Harvard und verfaßte u. a. zwei äußerst einflußreiche Bücher, The Insect Societies und Sociobiology: The New Synthesis. Nicht eine neue Synthese, sondern die neue Synthese – angesichts seiner Position in der Neurowissenschaft wohl mehr als reine Großsprecherei.

Wilson führte eine neue wissenschaftliche Disziplin ein, die er Soziobiologie nennt. Die der Soziobiologie zugrundeliegende Prämisse faßte er in einem einzigen Satz zusammen: Das menschliche Gehirn, so meint er, sei bei der Geburt kein unbeschriebenes Blatt [Tabula rasa], das darauf wartet, mit Erfahrungen vollgeschrieben zu werden, sondern "ein belichtetes Negativ, das nur darauf wartet, in die Entwicklungsflüssigkeit getaucht zu werden". Man kann das Negativ gut oder schlecht entwickeln, aber in beiden Fällen wird kaum mehr dabei herauskommen, als bereits vorher auf dem Film aufgezeichnet war. Auf dem Abzug ist die genetische Evolutionsgeschichte des Individuums abgebildet, über viele Jahrtausende hinweg; und daran ist kaum zu rütteln. Die Genetik, meint Wilson, bestimmt darüber hinaus nicht nur Dinge wie Temperament, bevorzugtes Rollenverhalten, emotionale Reaktionen und verschiedene Stufen der Aggression, sondern auch viele unserer ehrenhaften moralischen Entscheidungen, die in Wahrheit überhaupt keine Entscheidungen im Sinne eines freien Willens sind, sondern Tendenzen, die im Hypothalamus und in den limbischen Regionen des Gehirns festgelegt sind. Dieser Ansatz wird in einem Buch weiterentwickelt, das 1993 Furore machte: Das moralische Empfinden von James Q. Wilson [nicht verwandt mit Edward O.].

Diese neurowissenschaftliche Sicht des Lebens ist mittlerweile in der akademischen Welt zum strategisch umkämpften Gelände avanciert, heiß umkämpft nicht nur unter Wissenschaftlern verschiedenster Disziplinen, sondern durchaus auch in der breiten Öffentlichkeit. Liberale und Konservative, die nicht die leiseste Ahnung von Wissenschaft haben, sind eifrig bemüht, dieses Terrain für sich zu erobern. Das Gay Rights Movement z. B. stützt sich auf eine Studie vom Juli 1993, in der der hochrenommierte Wissenschaftler Dean Hamer vom National Institute of Health verkündete, das "Schwulen-Gen" entdeckt zu haben. Ist Homosexualität wie Linkshändigkeit oder haselnußbraune Augen tatsächlich genetisch festgelegt, so sind Gesetze und Sanktionen gegen Homosexuelle ganz offensichtlich wider die Natur. Die Konservativen wiederum setzen auf Studien, die besagen, daß das männliche und das weibliche Gehirn aufgrund unserer langwierigen Evolutionsgeschichte so verschieden gepolt sind, daß sämtliche feministischen Versuche, in traditionelle Männerdomänen einzudringen, ebenfalls nichts anderes sind als ein zum Scheitern verurteilter Gewaltakt gegen die Natur.

Wilson selbst brachte das Ganze ganz schön in die Klemme – besser gesagt, es ließ ihn als begossener Pudel dastehen. Privat ist er ein konventioneller Liberaler, politisch korrekt, wie es so schön heißt – schließlich ist er Mitglied der Harvard-Fakultät –, interessiert sich für Umweltfragen und derlei Dinge. Und doch sagte er: Männern und Frauen "dieselben Rollenidentitäten aufzuzwingen heißt, sich über Jahrtausende hinwegzusetzen, in denen Säugetiere starke Tendenzen zu geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung herausgebildet haben. Da diese Arbeitsteilung – angefangen von den Jägern und Sammlern über die Ackerbauern und Viehzüchter bis herauf zur industriellen Gesellschaft – beibehalten wurde, kann man davon ausgehen, daß sie genetischen Ursprungs ist. Wir wissen nicht, zu welchem Zeitpunkt der menschlichen Evolution sich dieser Charakterzug herausgebildet hat oder wie resistent er gegenüber den kontinuierlichen und gerechtfertigten Bemühungen um die Menschenrechte ist".

"Resistent" – da sprach Darwin II, der Neurowissenschaftler; "gerechtfertigt" – das war der politisch korrekte Harvard-Liberale. Er war aber weder politisch korrekt noch liberal genug. Feministische Demonstrantinnen verschafften sich Zutritt zu einer Konferenz, an der Wilson teilnahm, kippten ihm einen Krug Eiswasser samt Eiswürfeln über den Kopf und stimmten einen Sprechchor an: "Du bist am falschen Dampfer! Du bist am falschen Dampfer!" Die prominenteste Feministin Amerikas, Gloria Steinem, forderte in einem Fernsehinterview mit John Stossel von ABC, daß Untersuchungen der genetischen Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Nervensystem in Hinkunft zu unterlassen seien.

Doch all das war noch harmlos im Vergleich zur aktuellen politischen Panikmache in Sachen Neurowissenschaft. Im Februar 1992 hatte Frederick K. Goodwin, angesehener Psychiater, Leiter der Federal Alcohol, Drug Abuse, and Mental Health Administration und amtlich beglaubigter PR-Tolpatsch, den Fehler gemacht, bei einer öffentlichen Versammlung in Washington die zehn Jahre alte Violence Initiative des National Institute for Mental Health zu beschreiben. Dabei handelte es sich um ein Experimentalprogramm, das von der Hypothese ausging, ein Großteil der schweren Gewaltverbrechen in den USA ginge wie bei den Affen im Urwald – Goodwin war bekannt für seine Primatenforschung – auf das Konto von verhältnismäßig wenigen jungen Männern, die genetisch dazu prädisponiert waren, die, mit anderen Worten, auf Gewaltverbrechen vorprogrammiert waren. Draußen im Urwald bei den Schimpansen, den uns am nächsten verwandten Primaten, wäre nahezu ausnahmslos eine Handvoll genetisch gestörter junger Männchen dafür verantwortlich, daß andere Männchen getötet und Weibchen mißbraucht werden. Und wenn das nun bei den Menschen genauso wäre? Und wenn es in jeder menschlichen Gemeinschaft diese paar jungen Männchen mit giftiger DNS wären, die die Statistiken für Gewaltverbrechen derart in die Höhe treiben? Die Violence Initiative sah vor, diese Individuen schon in der Kindheit irgendwie, irgendwann zu identifizieren und einer medikamentösen Behandlung zu unterziehen. Die Vorstellung, die vom Verbrechen heimgesuchten amerikanischen Städte seien ein "Dschungel", sagte Goodwin, sei vielleicht doch mehr als nur eine alte, abgegriffene Metapher.

Mehr brauchte es nicht. Das war vielleicht das dümmste Wort, das ein US-Beamter im Jahr 1992 in den Mund nahm. Allgemeine Empörung war die Folge. Der Senator von Massachusetts, Edward Kennedy, und der Abgeordnete von Michigan, John Dingell [der, wie sich später herausstellte, ganz schön wasserscheu war, wenn es um wissenschaftliche Projekte ging], verurteilten Goodwins Bemerkungen nicht nur als rassistisch, sondern gaben auch gleich ihren wissenschaftlichen Senf dazu: Primatenforschung "ist eine widersinnige Basis" für die Analyse derart komplexer Phänomene wie der "Kriminalität und Gewalt, unter denen unser Land heute leidet". [Diese Neuigkeit überraschte insbesondere jene NASA-Wissenschaftler, die zuerst einen Schimpansen namens Ham abgerichtet und in einer Redstone-Rakete auf einen suborbitalen Raumflug geschickt hatten und dann einen Schimpansen namens Enos – griechisch für "Mann" – abgerichtet und in einer Atlas-Rakete in eine Erdumlaufbahn gebracht hatten. Aufgrund dieser Experimente hatten sie die körperlichen, psychologischen und motorischen Reaktionen der menschlichen Astronauten Alan Shepard und John Glenn, welche die Flüge und Aufgaben der Schimpansen Monate später wiederholten, präzise und umfassend vorhersagen können.] Die Violence Initiative wurde mit eugenischen NS-Plänen zur Ausrottung unerwünschter Personen verglichen. Dingells Amtskollege aus Michigan, Abgeordneter John Conyers, damaliger Vorsitzender des Government Operations Committee und leitender Beamter im Congressional Black Caucus, forderte den Rücktritt Goodwins – welcher nur zwei Tage später erfolgte. Die Regierung, die nun gemeinsam mit dem Department of Health and Human Services das Wort führte, dementierte in der Folge, daß die Violence Initiative jemals existiert habe, und diese verschwand, um mit Orwell zu sprechen, im großen Erinnerungsloch.

Für Mai 1993 war an der University of Maryland eine Konferenz für Kriminologen und andere Akademiker geplant gewesen, die sich für die bis dato im Zuge der Violence Initiative durchgeführten neurowissenschaftlichen Untersuchungen interessierten – eine Konferenz, welche das National Institute of Health durch einen Zuschuß mitfinanzierten. Daraus wurde nun natürlich nichts; das NIH ließ die Konferenz fallen wie eine heiße Kartoffel. Letztes Jahr versuchte David Wasserman, Rechtswissenschaftler an der University of Maryland, die Truppen – sozusagen still und heimlich – wieder zu versammeln, diesmal vor menschlichen Blicken nahezu völlig abgeschirmt, in einem kleinen Dorf namens Queenstown in der neblig-sumpfigen Pampa von Queen Anne's County an der Ostküste Marylands. Das NIH hatte aus seinen Fehlern nur wenig gelernt und stellte für die Veranstaltung stillschweigend 133.000 Dollar zur Verfügung. Immerhin mußte Wasserman versprechen, zur Sicherheit auch Wissenschaftler einzuladen, die die Vorstellung, Gewalt und Kriminalität könnten genetischen Ursprungs sein, strikt ablehnten, und quasi als "kalte Dusche" eine Sitzung ins Programm aufzunehmen, in der die schändlichen Aktivitäten der Eugenik-Bewegung im frühen 20. Jahrhundert diskutiert werden sollten. Alles vergebens! Ein ganzes Heer von DemonstrantInnen spürte die armen, unterwürfigen Teufel auf und stürmte das Auditorium mit den Rufen: "Hier an dem versteckten Ort unterstützt ihr Völkermord!" Sie schlugen zwei Stunden Radau, bevor sie wieder abzogen, und die Konferenz endete in einem kompletten Durcheinander, in dem die eigens rekrutierten politisch korrekten Alibi-Experten folgende Stellungnahme abgaben: "Weder Wissenschaftler noch Historiker oder Soziologen dürfen zulassen, daß einer rassistischen Pseudowissenschaft akademischer Rückhalt geboten wird." Heute ist der Begriff Violence Initiative im NIH ein Synonym für Tabu. Die momentane Situation gleicht jener Zeit im Mittelalter, als die katholische Kirche das Sezieren menschlicher Leichname untersagte, weil sie fürchtete, die christliche Lehre, daß Gott die Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen hat, könne im Licht des Zutagegeförderten zweifelhaft erscheinen.

Doch das Thema Intelligenz, gemessen durch IQ-Tests, scheint all dies noch zu überstrahlen. Ganz für sich – kaum einer legt Wert darauf, es auszusprechen – sind die meisten Neurowissenschaftler davon überzeugt, daß die menschliche Intelligenz in erstaunlich hohem Maße genetisch bedingt ist. Sie kann durch geschickte und engagierte Mentoren weiterverbessert oder durch schlechte Erziehung unterdrückt werden – d. h. man kann das Negativ gut oder schlecht entwickeln –, aber der entscheidende Unterschied liegt in den Genen. Der Aufruhr, den Charles Murray und Richard Herrnstein vor kurzem mit The Bell Curve auslösten, liefert wahrscheinlich nur einen ersten Vorgeschmack auf die Bitterkeit, die dieses Thema noch erzeugen wird.

Vor gar nicht allzu langer Zeit, so erzählten mir zwei Neurowissenschaftler in einem Interview, hatte eine Firma namens Neurometrics Investoren gesucht, um eine simple, aber verblüffende Erfindung namens IQ Cap auf den Markt zu bringen. Mit dieser "Kappe" sollte es möglich sein, Intelligenz auf kulturunabhängige Weise zu testen, so daß niemand mehr gezwungen wäre, mit Worten oder Konzepten zu arbeiten, die zwar den Angehörigen einer bestimmten Kultur vertraut, denen anderer Kulturen jedoch völlig fremd sind. Die IQ Cap zeichnete nur Gehirnwellen auf, und die Ergebnisse wurden dann von einem Computer, nicht von einem potentiell voreingenommenen menschlichen Versuchsleiter, ausgewertet. Die Idee basierte auf den Arbeiten von Neurowissenschaftlern wie E. Roy John (1) der heute als einer der bedeutendsten Wegbereiter des elektroenzephalographischen Brain Imaging gilt, Duilio Giannitrapani, Autor von The Electrophysiology of Intellectual Functions, und David Robinson, Autor von The Wechsler Adult Intelligence Scale and Personality Assessment: Toward a Biologically Based Theory of Intelligence and Cognition und zahlreicher weiterer, in neurowissenschaftlichen Kreisen wohlbekannter Monographien. Ich sprach mit einem Forscher, der selbst eine IQ Cap konstruiert hatte, indem er ein Experiment kopierte, das Giannitrapani in The Electrophysiology of Intellectual Functions beschreibt. Es war im Prinzip ganz einfach. Man befestigte 16 Elektroden an der Kopfhaut der Versuchsperson. Das Haar geriet dabei etwas durcheinander, aber abschneiden oder gar abrasieren mußte man es nicht. Dann ließ man die Person auf eine Markierung an einer leeren Wand starren. Unser Forscher verwendete einen himbeerroten Reißnagel. Dann legte man einen Kippschalter um. Innerhalb von 16 Sekunden sagte der Cap-Computer präzise [mit einer halben Standardabweichung] voraus, wie die Testperson in allen elf Testbereichen des Hamburg-Wechsler-Intelligenztests für Erwachsene oder, bei Kindern, des Hamburg-Wechsler-Intelligenztests für Kinder abschneiden würde – und das alles nach nur 16 Sekunden Gehirnwellenmessung! Dieser Test war völlig kulturunabhängig. Was könnte schon daran kulturabhängig sein, wenn man auf einen Reißnagel an der Wand starrt? Die Zeit- und Geldersparnis war atemberaubend. Der herkömmliche Intelligenztest dauerte zwei Stunden, und die Unkosten betrugen mindestens 100 Dollar die Stunde, unter Berücksichtigung des Entgelts für Testleiter, Testschreiber, Testvorbereiter sowie der Raummiete. Die IQ Cap brauchte ca. 15 Minuten und 16 Sekunden – ca. 15 Minuten dauerte es, die Elektroden an der Kopfhaut zu befestigen – und kostete ungefähr einen Zehntel-Penny für Strom. Die Investoren von Neurometrics lachten sich schon ins Fäustchen. Das würde der Renner werden. Aber – niemand wollte ihre gräßliche IQ Cap!

Das lag nicht etwa daran, daß niemand glaubte, man könne den Intelligenzquotienten aus Gehirnwellen ableiten, sondern vielmehr daran, daß es niemand glauben wollte. Niemand wollte glauben, daß die geistige Kapazität des menschlichen Gehirns so ... fix vorprogrammiert ist. Niemand wollte in Sekundenschnelle erfahren, daß ... in den Genen der Wurm drin ist. Niemand wollte erfahren, daß er ... genetisch auf Mittelmäßigkeit eingestellt ist ... und daß er sich in diesem Meer menschlicher Irrungen allerhöchstens erhoffen darf, für den Rest seines mittelmäßiges Leben unbehelligt vor sich hinzudämmern. Barry Sterman von der UCLA, leitender Wissenschaftler der Firma Cognitive Neurometrics, hat eine Gehirnwellen-Technologie für Marktforschungzwecke entwickelt und hält IQ-Tests auf Gehirnwellenbasis für machbar – aber angesichts der momentanen Atmosphäre hätte man "nicht die leiseste Chance, einen Zuschuß für deren Entwicklung zu bekommen".

Und hier zeigt sich auch schon die Schattenseite dieser funkelnagelneuen akademischen Disziplin, denn die unausgesprochene, ja, meist unbewußte Prämisse dieses Tauziehens um das strategische Terrain der Neurowissenschaft ist: Wir leben heute in einem Zeitalter, in dem Berufung vor dem Gericht der Wissenschaft nicht möglich ist. Was Ende des 20. Jahrhunderts zur Debatte steht, ist nicht die Evolution der Arten – danach kräht kein Hahn mehr – , sondern die Natur unseres eigenen, wertvollen Innenlebens.

Die älteren Neurowissenschaftler wie z. B. Wilson sind sich dessen sehr wohl bewußt und dementsprechend vorsichtig, zumindest im Vergleich zur jüngeren Generation. Wilson hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben – ich glaube, langsam kommen ihm Zweifel, aber noch hat er die Hoffnung nicht aufgegeben – , daß ab einem gewissen Punkt in der Evolutionsgeschichte die Kultur die Entwicklung des menschlichen Gehirns mitbeeinflußte, und zwar auf eine Art und Weise, die sich nicht durch streng darwinistische Theorien erklären läßt. Aber die neue Generation der Neurowissenschaftler zögert nicht eine Sekunde. In privaten Gesprächsrunden, den sogenannten Bull Sessions, in denen die geistige Atmosphäre jeder brandheißen neuen Wissenschaft entsteht – und ich liebe es, mit solchen Menschen zu sprechen – , stellen sie kompromißlose Entschlossenheit zur Schau.

Sie fangen mit dem bekanntesten Satz der gesamten modernen Philosophie an, mit Descartes' "Cogito, ergo sum" – "Ich denke, also bin ich", ein Satz, der für sie das Wesen des "Dualismus" symbolisiert, die altmodische Vorstellung, der Verstand sei getrennt von seinem Mechanismus, also von Gehirn und Körper, zu betrachten. [Auf den zweitbekanntesten Satz werde ich in Kürze zu sprechen kommen.] Das also wäre der "Geist in der Maschine"-Irrtum, der merkwürdige Glaube, irgendwo im Gehirninneren existiere ein gespenstisches "Selbst", das die Gehirnarbeit deutet und steuert. Neurowissenschaftler, die sich mit 3D-Elektroenzephalographie befassen, werden Ihnen bestätigen, daß sich Bewußtsein oder Selbst-Bewußtsein [Cogito ergo sum] keineswegs an einem fixen Ort im Gehirn lokalisieren lassen. Ein solcher Ort sei reine Illusion, hervorgerufen durch das Zusammenspiel einer Reihe neurologischer Systeme. Die junge Generation geht sogar noch einen Schritt weiter. Wenn Bewußtsein und Denken rein physikalische Produkte unseres Gehirns und Nervensystems sind – und da unser Gehirn ohnehin schon von Geburt an kein unbeschriebenes Blatt ist – , weshalb sollte man dann glauben, es gäbe einen freien Willen? Woher sollte der wohl stammen? Welcher "Geist", welcher "Verstand", welches "Selbst", welche "Seele", welches Was-auch-immer, das nicht sofort mit diesen höhnischen Anführungszeichen versehen wird, würde da in kleinen Bläschen den Hirnstamm hochsteigen und ihn uns verleihen? Ich habe selbst zugehört, wie Neurowissenschaftler theoretisierten, daß man mit ausreichend leistungsstarken und komplexen Computern den Lebensweg eines jeden einzelnen Menschen auf die Sekunde genau vorhersagen könnte, einschließlich der Tatsache, daß der arme Teufel zu all dem wohl nur noch den Kopf schütteln würde. Ich glaube nicht, daß es im 16. Jahrhundert auch nur einen Calvinisten gegeben hat, der so bedingungslos an die Vorherbestimmung glaubte wie diese enthusiastischen, bis aufs äußerste rationalen jungen US-Wissenschaftler gegen Ende des 20. Jahrhunderts.

Seit den späten 70er Jahren, dem Zeitalter Wilsons, haben sich Unmengen amerikanischer Studenten der Neurowissenschaft verschrieben. 1970 wurde die Society for Neuroscience gegründet. Sie zählte zum damaligen Zeitpunkt 1.100 Mitglieder; heute, eine Generation später, hat sie mehr als 26.000 Mitglieder. Am letzten Kongreß der Society in San Diego nahmen 23.052 Personen teil, womit er zu den größten Fachkongressen des Landes zählt. In unerfreulich großen Scharen kehren junge Fakultätsmitglieder der altehrwürdigen akademischen Domäne der Philosophie den Rücken, um zur Neurowissenschaft überzulaufen. Ihr Ziel sind geradewegs die Labors. Wozu sich mit Kants Gott, Freiheit und Unsterblichkeit abplagen, wenn es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis die Neurowissenschaft, höchstwahrscheinlich mithilfe des Brain Imaging, den physikalischen Mechanismus aufdeckt, der diese geistigen Konstrukte, diese Illusionen über Synapsen in das Broca'sche und das Wernicke'sche Sprachzentrum des Gehirns hinaufkatapultiert?

Womit wir beim zweitberühmtesten Satz der gesamten modernen Philosophie angelangt wären: Nietzsches "Gott ist tot". Das war im Jahre 1882. [Das Buch hieß Die Fröhliche Wissenschaft]. Das sei kein Bekenntnis zum Atheismus, sagte Nietzsche, der selbst Atheist war, sondern einfach die Nachricht von einem Ereignis. Er bezeichnete den Tod Gottes als "ungeheuerliches Ereignis", als den größten Augenblick in der Geschichte der Neuzeit. Die Nachricht bestand darin, daß die gebildeten Menschen aufgrund des schon seit 250 Jahren andauernden Siegeszugs des Rationalimus und des wissenschaftlichen Denkens, einschließlich des Darwinismus, nun nicht mehr an Gott glaubten. Aber bevor ihr Atheisten nun eure Triumphbanner hißt, sagte Nietzsche, bedenkt die Konsequenzen. "Die Geschichte, die ich zu erzählen habe," schrieb er, "ist die Geschichte der kommenden zweihundert Jahre." Er sagte voraus [in Ecce Homo], daß das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der Kriege werden würde, "wie es ihresgleichen bisher auf Erden nicht gegeben hat", Kriege, die schier unvorstellbare Katastrophen mit sich bringen würden. Und warum? Weil die Menschen keinen Gott mehr haben würden, an den sie sich wenden könnten, damit er sie von ihrer Schuld befreie; und von Schuld würden sie geplagt sein, denn Schuld ist ein Impuls, der schon Kleinkindern eingeimpft wird, bevor sie selbständig denken lernen. Die Menschen würden daher nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst hassen. Das blinde und beruhigende Vertrauen, das sie zuvor in den Glauben an Gott einbringen konnten, sagte Nietzsche, würde nun in einen Glauben an barbarische nationalistische Bruderschaften fließen: "Wenn die Lehren ... vom Fehlen jeglicher wesentlicher Unterschiede zwischen Mensch und Tier, Doktrinen, die ich für wahr, aber zugleich tödlich halte," – meint er in den Unzeitgemäßen Betrachtungen in Anspielung an den Darwinismus – "noch eine weitere Generation hindurch auf die Menschen losgelassen werden ... so darf sich niemand wundern, wenn ... Bruderschaften, die auf Raub und Ausbeutung der Nicht-Brüder aus sind, ... in Zukunft am Schauplatz der Ereignisse auftauchen."

Zufällig deckt sich Nietzsches Auffassung von Schuld mit der der Neurowissenschaftler hundert Jahre später. Sie sehen Schuld als eine der Neigungen, die schon von Geburt an im Gehirn angelegt sind. Bei einigen Menschen ist die genetische Vorarbeit mangelhaft, und diese führen dann ohne den geringsten Anflug von Reue kriminelle Handlungen durch – was wiederum die Kriminologen fasziniert, die dann unverzüglich eine Violence Initiative initiieren und Konferenzen zu diesem Thema abhalten wollen.

Nietzsche sagte, daß die Menschheit sich "auf den allerletzten Resten" der alten, verfallenden, auf Gott basierenden Moralvorstellungen über das 20. Jahrhundert retten würde. Dann aber, im 21. Jahrhundert, käme eine Zeit, die noch schrecklicher sein würde als die der großen Kriege, eine Zeit des "völligen Wertezusammenbruchs" [in Der Wille zur Macht]. Sie wäre auch eine Zeit hektischer "Umwertungen", in der die Menschen versuchen würden, neue Wertesysteme zu finden, um die porösen Skelette der alten Werte zu ersetzen. Aber ihr werdet versagen, warnte er, weil ihr nicht an einen Sittenkodex glauben könnt, ohne gleichzeitig an einen Gott zu glauben, der mit seinem furchtbaren Zeigefinger auf euch zeigt und sagt "Du sollst" oder "Du sollst nicht".

Weshalb sollen wir uns überhaupt mit einer so gräßlichen, an den Haaren herbeigezogenen Prophezeiung wie "die völlige Umwertung aller Werte" abgeben? Wegen unserer bisherigen Glanzleistungen, würde ich sagen. Schließlich war es in den friedlichen 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts in Europa noch mehr an den Haaren herbeigezogen, die Weltkriege des 20. Jahrhunderts oder die barbarischen Bruderschaften des Nationalsozialismus und Kommunismus vorherzusagen. Ecce vates! Ecce vates! Sehet den Propheten! Wieviele Beweise für die prophetische Begabung eines Mannes kann man noch verlangen?

Vor hundert Jahren konnten sich diejenigen, die der Tod Gottes beunruhigte, gegenseitig mit der Tatsache trösten, daß sie immer noch ihr unvergleichliches Selbst und ihre unverletzliche Seele als moralischen Ballast mit sich führten und die Wunder der modernen Wissenschaft ihnen schon den Weg weisen würden. Aber was, wenn – was recht wahrscheinlich ist – das größte Wunder der modernen Wissenschaft ausgerechnet Brain Imaging hieße? Und was, wenn Brain Imaging heute in zehn Jahren bereits unwiderlegbar bewiesen hätte, daß nicht nur Edward O. Wilson, sondern auch die junge Generation tatsächlich recht hat?

Die älteren, wie Wilson selbst, Daniel C. Dennett, Autor von Darwins Gefährliches Erbe: Die Evolution und der Sinn des Lebens, und Richard Dawkins, Autor von Das egoistische Gen und Der blinde Uhrmacher, bestehen darauf, daß man die Wahrheit nicht zu fürchten braucht und Darwins gefährliches Erbe endgültig antreten sollte. Sie legen elegante Argumente vor, weshalb die Neurowissenschaft den Reichtum des Lebens, die Faszination der Kunst oder die Rechtschaffenheit politischer Anliegen keineswegs vermindern würde, ebensowenig wie wohl die politische Korrektheit in Harvard oder Tufts, wo Dennett dem Center for Cognitive Studies vorsteht, oder Oxford, wo Dawkins ein Amt bekleidet, das sich Professor of Public Understanding of Science nennt. [Dennett und Dawkins sind ebenso wie Wilson auf durch und durch ernste, ja, fieberhafte Weise politisch korrekt.] Ihren eifrigen Bemühungen zum Trotz erfährt jedoch die Neurowissenschaft auf ihrem Weg an die Öffentlichkeit kaum wissenschaftliche Rückendeckung. Dennoch schreitet sie weiter voran, und sogar schnell. Außerhalb der Labors zieht man aus dieser Entwicklung folgenden Schluß: "Jetzt haben wir den Salat! Wir sind alle vorprogrammiert!" Aber auch: "Ich kann nichts dafür! Ich bin nur falsch verkabelt!"

Dieses plötzliche Umschwenken vom Glauben an die Erziehung, in Gestalt sozialer Konditionierung, zum Glauben an die Natur, in Gestalt der Genetik und der Gehirnphysiologie, ist das intellektuelle Großereignis des ausgehenden 20. Jahrhunderts, um mit Nietzsche zu sprechen. Die bis heute einflußreichsten Bewegungen dieses Jahrhunderts waren der Marxismus und der Freudianismus. Beide stützten sich auf die Annahme, daß die Menschen und ihre "Ideale" – auch Marx und Freud kannten Anführungszeichen – gänzlich von ihrer Umwelt geformt werden. Für Marx war der wichtigste Umwelteinfluß die soziale Klasse, der man angehörte; "Ideale" und "Glaube" waren Begriffe, welche die oberen den unteren Schichten als soziales Kontrollinstrument aufschwatzten. Für Freud bestand die wichtigste Umgebung im ödipalen Drama, in der unbewußten sexuellen Szenenfolge, die das Kleinkind in der Familie durchlebt. Eure vielgepriesenen "Ideale" und euer "Glaube" sind nur die Einrichtung, die ihr euch für euren Empfangssalon wünscht, sagt Freud; ich werde euch den Keller zeigen, den Heizofen, die Rohrleitungen, den sexuellen Dampf, der das Haus tatsächlich in Schwung hält. Spätestens Mitte der 50er Jahre waren sogar Anti-Marxisten und Anti-Freudianer so weit, daß sie die zentrale Rolle von Klassenherrschaft und ödipal konditioniertem Sexualtrieb anerkannten. Zu guter Letzt kamen auch noch Pawlow mit seinen "Reiz-Reaktions-Verbindungen" und B. F. Skinner mit seiner "operanten Konditionierung" und verliehen der allmächtigen Konditionierung beinah den Status einer exakten Ingenieurswissenschaft. Wie also kam es, daß diese glänzende intellektuelle Mode ein so schmähliches und unwürdiges Ende nahm?

Das Ende des Freudianismus läßt sich mit einem einzigen Wort zusammenfassen: Lithium. Im Jahre 1949 verordnete der australische Psychiater John Cade einem 51jährigen geisteskranken Patienten – aufgrund einer Fehldiagnose – eine fünftägige Lithiumtherapie. Der Patient war hochgradig manisch-depressiv, hyperaktiv, unansprechbar und unberechenbar gewesen und hatte 20 Jahre in verschiedenen geschlossenen Anstalten zugebracht. Am sechsten Tag war er dank der Lithium-Anreicherung in seinem Blut ein ganz normaler Mensch. Drei Monate später wurde er entlassen, und wenn er nicht gestorben ist, so lebt er noch heute glücklich und zufrieden in seinen eigenen vier Wänden. Dieser Mann war 20 lange Jahre als wehrloses Opfer Freud'scher Logorrhoe einfach weggesperrt worden. In den darauffolgenden 20 Jahren sollte nun Freud'sches Gefasel als Behandlungsmethode für ernste Geistesstörungen gänzlich durch die Verabreichung von Antidepressiva und Beruhigungsmitteln ersetzt werden. Spätestens ab Mitte der 80er Jahre sahen Neurowissenschaftler die Freud'sche Psychiatrie nur noch als eigentümliches Relikt, das wie Phrenologie oder Mesmerismus großteils auf Aberglauben begründet war [wie etwa Traumanalyse – Traumanalyse!]. Interessanterweise genießt die Phrenologie heute bei den Neurowissenschaftlern höheres Ansehen als die Freud'sche Psychiatrie, da man sie in gewisser, allerdings stark vereinfachter Weise als Vorläufer des EEG sehen kann. Psychiater im Sinne Freuds gelten heute als alte Wracks mit erschlichenen Doktortiteln, die von Menschen mit mehr Geld als Verstand angeheuert werden, damit sie sich ihre Ohren – aus denen gar drahtige Haare sprießen – vollquatschen lassen.

Mit dem Marxismus ging es sogar noch rascher bergab – in nur einem Jahr, nämlich 1973. In diesem Jahr wurde der erste Band von Alexander Solschenizyns dreibändigem Archipel Gulag aus der Sowjetunion herausgeschmuggelt und in Frankreich publiziert. Andere Autoren, insbesondere der britische Historiker Robert Conquest, hatten das dichte Netz sowjetischer Konzentrationslager bereits aufgedeckt, aber ihre Arbeiten stützten sich hauptsächlich auf Zeugenaussagen von Flüchtlingen, und Flüchtlinge galten automatisch als wenig objektive, verbitterte und daher unglaubwürdige Beobachter. Solschenizyn jedoch war Sowjetbürger, lebte noch immer auf sowjetischem Boden und war selbst elf Jahre lang zek gewesen – so der russische Slangausdruck für KZ-Häftlinge. Seine Glaubwürdigkeit hatte kein Geringerer als Nikita Chruschtschow bestätigt, der 1962 die Veröffentlichung von Solschenizyns Gulag-Novelle Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch genehmigte, um so aus dem drohenden Schatten seines Vorgängers Stalin zu treten. Chruschtschow selbst hatte also eingestanden: "Ja, was dieser Mann, Solschenizyn, zu sagen hat, stimmt. Solche Verbrechen hat Stalin verübt." Solschenizyns kurze fiktive Beschreibung des sowjetischen Systems der Zwangsarbeit hatte der UdSSR schon genug geschadet. Aber Der Archipel Gulag, ein 2000-seitiger, detailreicher Tatsachenbericht darüber, wie die KPdSU ihre wirklichen und vermeintlichen Feinde, zig Millionen eigener Landsleute durch ein gewaltiges, methodisches, bürokratisch überwachtes "menschliches Abfallentsorgungssystem" – wie Solschenizyn es nannte – systematisch exterminierte, war verheerend. Schließlich konnte man es sich gerade in diesem Jahrhundert nicht mehr erlauben, Konzentrationslager ideologisch irgendwie zu rechtfertigen. Für die europäischen Intellektuellen, sogar für die französischen, stürzte der Marxismus als geistige Großmacht unverzüglich in sich zusammen. Ironischerweise konnte er ausgerechnet in den USA noch eine Zeitlang weitbestehen, bis ihm am 9. November 1989 der Fall der Berliner Mauer – der unmißverständlich demonstrierte, welch ein Debakel das 72 Jahre dauernde Feldexperiment in Sachen Sozialismus gewesen war – den Gnadenstoß versetzte. [Und doch hält er sich, mehr schlecht als recht, mit nahezu akrobatischem Geschick an einigen amerikanischen Universitäten – und zwar in manieristischer Gestalt, als Dekonstruktivismus, jener literarischen Doktrin, derzufolge die jeweiligen Machthaber die Sprache selbst als heimtückisches Werkzeug zur Täuschung des Proletariats und der Bauern benutzen.]

Freudianismus und Marxismus – und mit ihnen der Glaube an soziale Konditionierung – wurden so behende und unvermittelt ausrangiert, daß die Neurowissenschaft ungehindert vorpreschen und dieses intellektuelle Vakuum ausfüllen konnte. Und man muß nicht einmal Wissenschaftler sein, um diese überstürzte Hast zu bemerken.

Die Eltern von Schulkindern kennen die Anzeichen nur allzu gut. Ich habe selbst Kinder in der Schule, und mich fasziniert das Vertrauen, das die Eltern von heute – und diese Mode setzte um 1990 ein – in Psychologen setzen, die diagnostizieren, daß ihre Kinder an einer Störung namens Attention Deficit Disorder, kurz ADD, leiden. Natürlich steht es mir nicht zu, zu beurteilen, ob diese "Störung" ein tatsächlicher, körperlicher, neurologischer Zustand ist oder nicht, aber genausowenig steht es in dieser Phase der Neurowissenschaft irgendjemand anderem zu. Das Kind, oder vielmehr der Junge – in 49 von 50 Fällen handelt es sich um Jungen – zappelt im Unterricht herum, rutscht von seinem Sessel, paßt nicht auf, lenkt seine Klassenkameraden ab und erbringt nur schlechte Leistungen. Früher hätte man ihn gezwungen, besser aufzupassen, mehr zu lernen, sich zusammenzureißen. Eltern, die dem neuen intellektuellen Klima der 90er verhaftet sind, finden derartige Methoden grausam, denn mein kleiner Sohn hat ein Problem ... er ist falsch vorprogrammiert. Armes Kerlchen – völlig vermurkst, schon von Geburt an! Und die Eltern klagen unisono: "Er sitzt die ganze Zeit nur vor dem Fernseher, schaut Zeichentrickfilme an und spielt Sega Mega Drive!" Wie lange? "Stundenlang, ohne Unterbrechung!" Stundenlang! Sogar der unerfahrenste Neurowissenschaftler könnte ihnen sagen, daß dieser Junge ziemlich sicher ein Problem hat, daß es sich aber garantiert nicht um ein Aufmerksamkeitsdefizit handelt!

Nichtsdestotrotz spielt sich momentan amerikaweit folgendes ab: Eine ganze Generation kleiner Jungen, Zehntausende an der Zahl, werden mit dem bevorzugten ADD-Wundermittel Ritalin vollgepumpt, – so lautet der Markenname der CIBA-Geneva Corporation für das Stimulans Methylphenidat. Ich persönlich machte mit Ritalin erstmals 1966 Bekanntschaft, als ich in San Francisco für ein Buch über die Hippie-Bewegung recherchierte. Eine besondere Spezies der Gattung Hippie waren die Speed Freaks, und eine ganz bestimmte Art der Speed Freaks waren die Ritalin Heads. Die Ritalin Heads liebten Ritalin. Man konnte sie erleben, wie sie in absoluter Ritalin-Verzückung schwelgten ... sich nicht rührten, keinen Mucks machten ... einfach dasaßen, fasziniert von irgendetwas ... einem Kanaldeckel, ihren eigenen Handlinien ... endlos ... von einem versäumten Mittagessen zum nächsten ... ohne ein Auge zuzutun ... ein reines Methylphenidat-Nirwana... Von 1990 bis 1995 stieg CIBA-Genevas Ritalinabsatz um 600%; und nicht, weil eine Unterart der Speed Freaks in San Francisco plötzlich solchen Heißhunger entwickelt hätte, sondern weil eine ganze Generation amerikanischer Jungen, von den besten Privatschulen im Nordosten bis zu den schlimmsten, vergammeltsten öffentlichen Schulen in Los Angeles und San Diego, nun tagtäglich von ihrem Dealer, der Schulkrankenschwester, in aller Sorgfalt mit Methylphenidat abgefüllt wurden. Amerika ist ein wunderbares Land! Wirklich! Kein ehrlicher Schriftsteller würde diese Aussage anfechten! Es liefert immer neuen Stoff für die Komödie des menschlichen Lebens! Es läßt einen nie im Stich!

In der Zwischenzeit glaubt kaum noch jemand an das "Selbst", das Selbstdisziplin übt, Bedürfnisbefriedigung hintanstellt, den sexuellen Appetit zügelt, vor Aggression und kriminellem Verhalten zurückschreckt, das dazulernen, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Mittelmäßigkeit ziehen, durch Lernen, Übung, Ausdauer und Durchhaltevermögen auch große Schwierigkeiten überwinden und Erfolg im Leben haben kann; diese altmodische Vorstellung [was, bitte, ist denn ein Schopf?] von Erfolg durch Eigeninitiative und echten Schneid schwindet immer mehr dahin ... Der typisch amerikanische Glaube an die Fähigkeit des Individuums, durch eigene Kraft von einer hilflosen Null zu einem Giganten unter den Menschen zu werden – ein Glaube, der sich von Emerson ["Selbstvertrauen"] über Horatio Algers Luck and Pluck-Erzählungen, Dale Carnegies Wie man Freunde gewinnt: Die Kunst, beliebt und einflußreich zu werden, Norman Vincent Peales Die Kraft positiven Denkens bis zu Og Mandinos Der beste Verkäufer der Welt verfolgen läßt – dieser Glaube ist nun ebenso obsolet wie der Gott, dessen Nachruf Nietzsche 1882 geschrieben hat. Er fristet sein Dasein nur noch in Form sogenannter "Anfeuerungsreden", wie sie ausgediente Football-Stars wie Fran Tarkenton vor Geschäftsleuten halten, die selbst [wie der Verfasser dieser Zeilen] gerne Sportler geworden wären; frei nach dem Motto: Das Leben ist ein Football-Spiel. "Also, Jungs, die Spielzeit ist fast um, ihr seid 13 Punkte im Rückstand, die Cowboys haben euch auf eurer eigenen One-Yard-Linie festgenagelt, und ihr habt nur noch einen Versuch, und es fehlen noch 23 Yards. Was also werdet ihr tun?..."

Sorry, Fran, aber ihr habt nur noch einen Versuch, und es fehlen noch 23 Yards, und in den Genen ist der Wurm drin, und diese frohe Botschaft wird gerade in Windeseile der Boulevardpresse und dem Fernsehen aufgetischt. Und von wem? Ah, von einer neuen Gattung, den sogenannten "Evolutionspsychologen". Seien Sie versichert, vor 20 Jahren hätten sich dieselben Leute als Freudianer bezeichnet; aber heute sind sie genetische Deterministen, und die Presse stürzt sich mit Begeisterung auf alles, was ihnen so einfällt.

Die derzeit populärste Studie – sie wird noch heute, Monate nach ihrem Erscheinen, immer wieder in den Nachrichten gebracht – ist die von David Lykken und Auke Tellegen an der University of Minnesota durchgeführte Untersuchung von zweitausend Zwillingspaaren, die zu dem Ergebnis kam, das Glück eines Individuums sei großteils genetisch bedingt. Manche Menschen sind darauf vorprogrammiert, glücklich zu werden, andere nicht. Erfolg [oder Mißerfolg] in der Liebe, in Geldangelegenheiten, in bezug auf Ansehen bzw. Macht sei nur ein vorübergehendes Phänomen; früher oder später lande jeder wieder auf dem hohen bzw. niedrigen Glücksniveau, das schon seit seiner Geburt genetisch festgelegt ist. Vor drei Monaten brachte Fortune eine umfangreiche Sonderbeilage mit ausführlichen Illustrationen zu einer Studie von Evolutionspsychologen an der University of St. Andrews, UK, die zeigte, daß man die Schönheit eines menschlichen Gesichts nicht aufgrund gängiger gesellschaftlicher Standards beurteilt, sondern anhand von Kriterien, die schon seit der Geburt im Gehirn festgeschrieben sind. Oder, mit anderen Worten, schön ist nicht, was gefällt, sondern schön ist, was genetisch vorprogrammiert ist. Und wirklich hat man, wenn man die entsprechenden Meldungen in Zeitungen, Fachmagazinen und Fernsehen aufmerksam verfolgt, heute, 1996, drei Jahre vor der Jahrtausendwende den Eindruck, daß nichts im Leben, nicht einmal der Fettgehalt des eigenen Körpers, nicht genetisch vorbestimmt ist. Ich möchte nur eine kurz Auswahl dessen geben, was ich dank der Evolutionspsychologie in den letzten paar Monaten dazugelernt habe:

Die Männchen der Gattung Mensch sind genetisch darauf vorprogrammiert, polygam, d. h. der angetrauten Partnerin untreu zu sein. Jeder Mann, der Zeitschriften liest, wird sehr bald kapieren, was das heißt. [Drei Millionen Jahre Evolution – dagegen bin ich einfach machtlos!] Frauen stehen auf prominente Männer, weil sie genetisch darauf programmiert sind, Alpha-Männchen aufzuspüren, die den Nachwuchs besser versorgen können. [Ich bin nur Rettungsschwimmer im Gen-Pool, Schatz!] Weibliche Teenager sind genetisch darauf programmiert, häufig ihre Partner zu wechseln, und können sich so wenig zurückhalten wie Hunde im Park. [Die Schule stellt Kondome zur Verfügung.] Die meisten Morde passieren aufgrund genetisch vorprogrammierter Zwänge. [Auch Häftlinge können lesen, und dann erzählen sie dem Gefängnispsychologen: "Irgendwas ist über mich gekommen ... und dann war das Messer plötzlich voller Blut ..." (2)

Und wo, bitte, bleibt da die Selbstkontrolle? Wo bleibt sie, wenn die Menschen glauben, daß dieses gespenstische Selbst nicht wirklich existiert und wenn Brain Imaging den endgültigen Beweis dafür liefert?

Bislang basiert die neurowissenschaftliche Theorie hauptsächlich auf indirekten Beweisen, die aus Untersuchungen von Tieren stammen oder aus Studien darüber, wie sich ein normales Gehirn verändert, wenn es verletzt wird [durch Unfälle, Krankheit, chirurgische Eingriffe oder Entnahme von Gewebeproben]. Darwin I. selbst, Edward O. Wilson, weiß nur begrenzt über das menschliche Gehirn Bescheid. Er ist Zoologe, nicht Neurologe, und seine Theorien sind Extrapolationen umfassender Studien aus seinem Spezialgebiet Insektenkunde. Auch der französische Chirurg Paul Broca entdeckte das Broca-Sprachzentrum, eines der beiden Sprachzentren in der linken Gehirnhälfte, erst, als einer seiner Patienten einen Schlaganfall erlitt. Sogar PET-Scanning und PET reporter gene/PET reporter probe sind, technisch gesehen, medizinische Eingriffe, da sie die Injektion von Chemikalien oder Viren in den Körper erfordern. Aber sie erlauben schon heute einen Blick darauf, wie die nicht-invasive Bildaufbereitung der Zukunft aussehen wird. Ein Neuroradiologe kann jemandem, der gerade einem PET-Scan unterzogen wird, eine Liste verschiedener Themen, von Sport über Musik, Wirtschaft bis hin zu Geschichte usw. vorlesen, und sobald ein Thema dabei ist, für das sich die Testperson interessiert, leuchtet ein bestimmter Bereich der Großhirnrinde am Bildschirm auf. Wenn Brain Imaging erst einmal optimal funktioniert, könnte man das Gehirn genausogut bei der Arbeit beobachten wie den Verbrennungsmotor bei einer Demonstrationsvorführung auf einer Auto-Schau. Wenn wir diesen Punkt erreicht haben, wird jedem klar sein, daß wir hier nichts anders vor uns haben als eine Maschine, einen analogen chemischen Computer, der Informationen aus der Umwelt verarbeitet. Wirklich nichts anders, weil man auch bei ganz genauem Hinsehen weder ein gespenstisches Selbst noch einen Geist oder eine Seele darin entdecken wird.

Und daraufhin wird im Jahr 2006 oder 2026 ein neuer Nietzsche auf den Plan treten und verkünden: "Das Selbst ist tot" – abgesehen davon, daß er, wie Nietzsche I., einen Hang zur Poesie haben und deshalb wahrscheinlich sagen wird: "Die Seele ist tot." Er wird sagen, er überbringe nur die Nachricht vom größten Ereignis des Jahrtausends: "Die Seele, diese letzte Zufluchtstätte der Werte, ist tot, weil die gebildeten Menschen nicht mehr glauben, daß es sie gibt." Und wenn die Versicherungen der Wilsons und Dennetts und Dawkinses weiterhin im Sande verlaufen, wird die "völlige Umkehrung aller Werte" ganz schön harmlos aussehen neben der wilden Hysterie, die Nietzsche II auslösen wird.

Wäre ich heute Student, ich könnte der Neurowissenschaft wohl kaum widerstehen, befaßt sie sich doch mit den beiden faszinierendsten Rätseln des 21. Jahrhunderts: dem Rätsel des menschlichen Geistes und dem Rätsel, was mit dem menschlichen Geist passiert, wenn er sich endlich durch und durch kennt. Wir leben in einem Zeitalter, in dem es ohnehin unmöglich und sinnlos ist, den Blick von der Wahrheit abzuwenden.

Ironischerweise, sagt Nietzsche, sind dieser unerschrockene Blick für die Wahrheit, diese Begeisterung für die Skepsis ein Erbe des Christentums [aus komplizierten Gründen, die wir hier nicht näher erläutern wollen]. Dann fügte er, kurz bevor er den Verstand verlor [wegen der Syphilis, dieser großen Geißel des späten 19. Jahrhunderts], in einer fragmentarischen Passage in einem Notizbuch eine letzte und vielleicht endgültige Ironie hinzu. Er sagte voraus, daß die moderne Wissenschaft letztendlich diesen Höllenhund der Skepsis auf sich selbst hetzen würde, die Gültigkeit ihrer eigenen Grundlagen in Frage stellen, diese sodann in der Luft zerfetzen und sich so selbst zerstören würde. Daran mußte ich im Sommer 1994 denken, als eine Gruppe Mathematiker und Computerwissenschaftler am Santa Fe Institute eine Konferenz zum Thema "Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis" abhielten. Der allgemeine Konsensus war, der menschliche Geist sei ein durch und durch physikalischer Apparat, eine Art Computer, Produkt einer speziellen genetischen Entwicklung, und verfüge daher nur über endliche Fähigkeiten. Ist er endlich und vorprogrammiert, so wird er wohl nie in der Lage sein, menschliches Leben vollständig zu begreifen. Denn das wäre so, als würde ein Rudel Hunde eine Konferenz einberufen, mit dem Ziel, das Wesen des Hundes zu begreifen. Sie könnten sich noch so sehr bemühen, sie würden nicht sehr weit kommen. Hunde können nur ungefähr 40 primitive Begriffe kommunizieren und sie können nichts aufzeichnen. Das Projekt wäre von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Das menschliche Gehirn ist dem Hundegehirn bei weitem überlegen, aber es hat trotzdem seine Grenzen. Also ist jegliche Hoffnung, daß die Menschen eine endgültige, komplette, in sich geschlossene Theorie des menschlichen Lebens aufstellen könnten, ebenfalls vergeblich.

Diese Ultimative Skepsis der Wissenschaft findet seitdem starken Anklang. In den letzten beiden Jahren begann man, sogar am Darwinismus – seit 70 Jahren das Allerheiligste der amerikanischen Wissenschaftler – zu zweifeln, ja, tatsächlich zu zweifeln. Nicht Religiosi, sondern Wissenschaftler, insbesondere der Mathematiker David Berlinski [The Deniable Darwin, Kommentar, Juni 1996] und der Biochemiker Michael Behe [Darwin's Black Box, 1996] begannen damit, den Darwinismus als reine Theorie abzutun und jeglichen Anspruch desselben auf eine wissenschaftliche Entdeckung abzustreiten. Er sei eine Theorie, die nur dürftig durch Fossilienfunde belegt und im Kern ihrer Logik butterweich sei. [Dennett und Dawkins, für die Darwin der Eingeborene Sohn, der Messias ist, schreien schon auf. Sind außer sich, völlig cholerisch. Wilson, der Gigant, macht auf cool und hält sich aus der Schlacht heraus.] Schon 1990 hatte der Physiker Petr Beckmann von der University of Colorado begonnen, sich Einstein vorzuknöpfen. Obwohl er Einstein für seine berühmte Gleichung von Masse und Energie, E=mc², sehr bewunderte, bezeichnte er dennoch die Relativitätstheorie als großteils absurd und auf groteske Weise unüberprüfbar. Beckmann starb 1993. In seine Fußstapfen trat Howard Hayden von der University of Connecticut, der in der neuen Generation ultimativ skeptischer Jungphysiker viele Bewunderer hat. Der Hohn, mit dem diese junge Generation die Quantenmechanik ["findet keine Anwendung in der realen Welt", "dem hat wohl die gute Fee Dödel-Gleichungen in die Augen gestreut"], die Einheitliche Feldtheorie ["Nobelpreis-Wurmköder"], und die Urknall-Theorie ["Kreationismus für Dumpfgummis!"] überhäuft, hat inzwischen völlig vernichtende Ausmaße angenommen. Wäre nur Nietzsche noch am Leben! Er hätte seine helle Freude!

Vor kurzem sprach ich mit einer bekannten kalifornischen Geologin, die meinte: "Als ich anfing, Geologie zu studieren, dachten wir alle, daß man in der Wissenschaft durch Experimente und sorgfältige Untersuchungen eine solide Schicht aus Erkenntnissen aufbaut, und dann sehr, sehr vorsichtig eine zweite Schicht hinzufügt, etwa wie eine zweite Schicht Ziegel, und immer so weiter. Manchmal stapelt ein abenteuerlustiger Wissenschaftler seine Ziegel zu Türmen auf, die sich dann als gegenstandslos herausstellen und wieder eingerissen werden, und dann macht man wieder vorsichtig mit neuen Schichten weiter. Aber wie wir jetzt erkennen, ruhen nicht einmal die ersten Schichten auf festem Untergrund. Sie ruhen auf Seifenblasen, hohlen Konzepten, und diese Seifenblasen fangen jetzt an zu platzen, eine nach der anderen."

Da hatte ich plötzlich das Bild vor Augen, wie dieses ganze erstaunliche Gebäude in sich zusammenfällt und der moderne Mensch kopfüber wieder zurück in die Ursuppe purzelt. Da strampelt er dann, spritzt um sich, ringt nach Luft, tritt ganz hektisch Ursuppenwasser, und plötzlich spürt er, wie etwas Riesiges, Weiches unter ihm schwimmt und ihn emporhebt wie ein allmächtiger Delphin. Er kann nicht sehen, was es ist, aber er ist total beeindruckt. Er nennt es Gott.

Erstmals erschienen in Forbes ASAP
2. Dezember 1996


(1)
Der Begriff "neurometrisch" wird oft mit E. Roy John assoziiert, dem Erfinder der Neurometrischen Batterie, eines umfassenden Systems zur Analyse von Gehirnfunktionen, und des Neurometrischen Analysators, eines patentierten Instruments zu deren Nutzung. John hat aber nichts mit Neurometrics, Inc. zu tun. Er beschreibt die Batterie in Neurometric Evaluation of Brain Function in Normal and Learning Disabled Children [Ann Arbor, University of Michigan Press, 1989].zurück

(2)
Lt. Theodore Dalrymple, britischer Gefängnispsychiater, in der Zeitschrift City Journal.zurück