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Ars Electronica 1997
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IPzentrum


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Dem Projekt IPzentrum liegen Überlegungen zur Interpretation von Erdbeben als eine der elementaren Äußerungsformen unseres Planeten zugrunde. Ebenso maßgeblich waren die Abbildung des Prinzips solcher global verursachten lokalen Ereignisse durch das ihrer Beobachtung dienende Netz seismographischer Stationen und die Absicht, individuelle Beobachtung innerhalb dieses Ereignis- und Wahrnehmungszusammenhanges wirksam werden zu lassen.

Die internetbasierte Installation besteht aus einem sich wechselseitig generierenden Ereignissystem. Ereignissynchron empfangene Daten über Erdbeben steuern die Druckintensität eines Schallfeldes, das sich in einem [Resonanz-] Raum entfaltet. Durch die Druckintensität stimulierte Streßzustände von Besuchern [Resonatoren] werden gemessen und über den Weg von Kommunikation [über die Ereignisse] und deren Störung dem System als weitere Steuerungsdaten [informationelle Beben] zugeführt. Kommunikation und deren Störung, Entstörung und Zerstörung sind ebenso datenerzeugende Ereignisse, die den Prozeß beeinflussen.

Erdbeben ereignen sich in der Regel aufgrund unterirdischer Massenverlagerungen. Ein Großteil der Energie wird als Reibungswärme freigesetzt, nur ein kleiner Prozentsatz wird in seismische Energie umgewandelt und als wellenförmige Schwingungen abgestrahlt. Wenn Erdbeben auch lokale Ereignisse sind, so repräsentiert die Freisetzung kinetischer Energie doch die Phänomenolgie des planetaren Körpers als Ganzen. Im Schnitt ereignet sich weltweit alle zehn Minuten ein Erdbeben der Stärke 3 auf der neunteiligen [im Grunde nach oben hin offenen] Richter-Skala. Schwächere Beben erfolgen in geringeren Zeitabständen.

Das Internet ist ein den Aufgaben der globalen Seismologie adäquates "Werkzeug". Moderne digitale seismographische Stationen bestehen neben Seismometer und Seismograph als Kernstücken aus einem mit der Datenerfassung betreuten Rechner mit Internet-Anbindung. Obwohl es sich dabei um ein Sub- oder Spezialnetz handelt, sind die Daten durch offene Kanäle quasi in Echtzeit für jeden/jede verfügbar.

Die Existenz einer weltweit vernetzten Beobachtung von Erdbeben ist wertgeneriert, sie erfolgt aufgrund von und im Hinblick auf Katastrophen für Körper und Besitz. Globale und möglichst echtzeitige Beobachtung ist nicht nur aus der zivilisatorischen Perspektive auf das Bedrohliche naheliegend, sondern auch schlüssig im Sinne der Phänomenologie des Ereignisses. Das Internet dient in diesem Fall zur Erfassung und Distribution eines globalen Phänomens, nicht zur globalen Erfassung eines lokalen Phänomens.

Die ereignisgenerierte [da echtzeitig betriebene] Informationsstruktur repräsentiert somit die Ereignisse, über die es informiert. Diese Gleichsetzung legt die Interpretation von globaler kinetischer Energie als informationelle Energie nahe. Dem Projekt IPzentrum liegen diese Interpretation und ihre Voraussetzungen als Thematisierung von subjektiven Vorbedingungen der Wahrnehmung, Einordnung, Bewertung und Funktionalisierung [Nutzung] verschiedener Formen von Energie einerseits und des Prinzips mediatisierter Wahrnehmung der Umwelt, infolge derer Daten und Informationen als die Umwelt [und ihre energetischen Zustände] interpretiert werden, andererseits zugrunde.

Um es überspitzt zu sagen: Ursächlich ist die Annahme, daß in einer Kultur, in der die primäre Wahrnehmung von Ereignissen in einem Zustand der Mediatisierung erfolgt, Ereignisse solange als nicht real [nämlich die eigene Existenz betreffend] wahrgenommen werden, solange jene Medien, durch welche die Information erfolgt, von den Ereignissen nicht selbst betroffen sind. Katastrophen exisitieren nicht, solange über sie berichtet wird. IPzentrum versteht sich mithin als Versuchsanordnung zur Erhöhung des Realitätsgrades von Informationen durch die Einbindung des Informationen über Ereignisse wahrnehmenden Körpers und seiner dabei vorhandenen Triggerungsmöglichlichkeiten.

Die dabei implantierten Möglichkeiten der Kommunikation verschiedener Etappen miteinander sind analog zu extrahierbaren Prinzipien natürlicher Vorgänge und ihrer subjektiven Bewertungen als drei kausale Prinzipien definierbar:

Störung
Ent-Störung
Zer-Störung
Die Installation besteht aus drei miteinander kommunizierenden Bereichen:
  1. Bereich der Entnahme von Daten weltweiter Erdbeben aus dem Netz und deren Konfiguration in Schallwellen zur Streßstimulanz der Besucher des Resonanzraumes.

    Anlaßfall dabei ist nicht das Internet selbst [das wäre in diesem Fall trivial], sondern die netzbasierte Struktur weltweit verteilter seismographischer Meßstationen.

    Der Resonanzraum ist sinnlich-physiologisches Interface zwischen beiden Strukturen der Kommunikation [die ihrerseits Interfaces zwischen den materiellen Konfrontationen von Körper/Besitz mit Erdbeben darstellen].

    Unter dem Resonanzraum befindet sich eine Sub-Baß-Anlage zu dessen Beschallung mit niederfrequenten Klängen [Sub-Baß – 16 bis 70 Hertz]. Die Aktivierung der Anlage erfolgt durch den jeweiligen Ereignisbereichen entstammende Daten.

    Der Resonanzraum ist mit einem Biofeedbacksystem ausgestattet. Auf einem Monitor erfolgt die optische Wiedergabe der Erhebung des psychophysischen Zustands anwesender Personen [Resonatoren] durch das Biofeedbacksystem. Zustandsveränderungen werden bewirkt von im Raum befindlichen Personen respektive deren Wahrnehmung des Körpers als Resonator und ihrer daraus resultierenden Befindlichkeit, aus denen zuletzt ein Maß für die "Deformation" der Web-Daten gewonnen wird.

  2. Bereich der Konfiguration infolge von Streßzuständen erhobener Daten in informationelle Beben mit Wirkung auf die Kommunikation [und Kommunikatoren] über diese Wirkung.

    Eine im World Wide Web als Kulminations- und Kommunikationsknoten eingerichtete Webpage, thematisch an Körper und Besitz orientiert. Ihre Rezeption erfolgt potentiell aktiv, einerseits durch informationelle Beben, andererseits durch Userzugriffe auf Web-Seiten, deren textuelle Struktur erdbebensensitiv ist. Jedem kontaktierten Erbebenserver ist eine eigene Seite zugeordnet, deren Entropie von Reaktionen der Besucher des Resonanzraumes abhängt. Das heißt: Ab bestimmten Datenwerten – beispielsweise der Summe sinnlich-körperlicher Wahrnehmung und/oder den Webpage-Aktivitäten und/oder aktuellen Erdbebendaten – erfolgt eine [vorübergehende] Störung im Wirkungsfeld des Userzugriffs. Userzugriffe erfolgen dadurch, daß Ordnung in das gestörte Webgeschehen gebracht wird. Das Maß der in "Anti-Erdbeben" umgewandelten Ordnungsinformation wird mit den durch Unordnung repräsentierten realen Beben überlagert und kommt einer destruktiven Interferenz gleich. Diese Webpage-Aktivitäten erzeugen Parameter, welche die Daten der informationellen Beben mit Folgewirkung auf den Resonanzraum beinflussen. So vermögen User die Auswirkungen realer Beben auf Besucher des Resonanzraumes zu minimieren


  3. Bereich der Konfiguration infolge der Wirkungsweise auf die Kommunikation [und Kommunikatoren] erhobener Daten in informationelle Beben zur reale Beben betreffenden Datenmodulation mit Wirkung auf die streßstimulierenden Schallwellen.

    Die aus den Ereignissen in den jeweiligen Bereichen gewonnenen Daten fließen den realen Erdbeben entsprechend ins Konfigurationsprogramm zur Steuerung des Ausgangspegels des Tongenerators. Dadurch daß Schall ausschließlich im tieffrequenten Bereich erzeugt wird, wird er weniger als Lautheit über das Ohr denn als Druck am Körper wahrgenommen.
Alle drei Bereiche der Installation sind aleatorischen Bedingungen unterworfen, die der bloßen Potenzierung entgegenstehen. Bei [1] sind es das unvorhersehbare Auftreten von Erdbeben, ihre Dauer und ihre Stärke; bei [2] sind es die ungeregelte Anwesenheit von Personen im Resonanzraum, deren individuelle Reaktion/ Befinden; bei [3] sind es die Webpage-Aktivitäten.

Dem Betrieb des Gesamtsystems ist – analog der als "Weltbeben" bezeichneten Intensität eines Erdbebens der Stärke 9 auf der Richterskala – ein Sättigungswert eingeschrieben, der im Falle seines Eintreffens die Zerstörung des Gesamtsystems bedeuten würde. Repräsentiert wird er als realer Ereigniswert im Sinne von Gefahr/Bedrohung, formal als Virus auf Software-Ebene sowie als die Technologie zerstörende Intensität auf Hardware-Ebene und der Ebene des Körpers [durch Übelkeit und Erbrechen infolge des Schalldrucks].
TECHNISCHE GRUNDSTRUKTUR
Über automatisierte Telnets aufgebaute Verbindungen gelangen die Daten realer Erdbeben in Ascii-lesbarer Form in einen zentralen Server und werden – nach Interferenz mit User-generierten Daten zur Steuerung einer Sub-Baß-Anlage – in ein Klangbild umgewandelt. Die Anlage der Daten im Server erfolgt auch zum Zweck ihrer protokollarisch nach Ort, Stärke und Dauer – dem Erdbeben-Protokoll ["eb-proto"] gemäß – geregelten Verteilung. In diesem Server sind verschiedene vom Controlling Client gesteuerte Daten-Streams etabliert, über die angemeldete Joined Clients Informationen erhalten beziehungsweise am Server anmelden.
Für die Grundstruktur bedeutsame Streams sind:
  1. Der Stream realer Erdbebendaten: Vermittels dieses Streams werden die von Erdbebenservern empfangenen Daten verteilt. Controlling Client ist ein Datenauswerter, Joined Clients sind Sound- und Biofeedbackkonverter.

  2. Der Biofeedback-Stream: Controlling Client ist der Biofeedbackkonverter, Joined Client ist der WWW-Server, welcher die Biofeedback-generierten Erdbebendaten mit der jeweiligen Information über den Ort eines realen Erdbebens erhält.

  3. Der Repair-Stream: Controlling Client ist der WWW-Server, Joined Client der Soundkonverter. Über diesen Stream wird die Qualität der Reparatur der Textseiten in eb-proto-Format ausgetauscht.
Controlling Clients sind befähigt, einen neuen Stream zu öffnen, an den Joined Clients anzudocken vermögen. Die Streams sind also dynamisch und nicht statisch. Sendet ein Controlling Client Daten an den Stream, werden diese Daten auch an die Joined Clients verschickt und beispielsweise vom Soundkonverter interpretiert und über MIDI-Protokoll dem Soundsystem weitergeben. Als MIDI-Velocity-Daten steuern sie wiederum den Ausgangspegel des Soundgenerators. Das Ausgangssignal wird mittels acht Subbässen [à 1200 watt/129 db] in eine Kraft von maximal 3000 n gewandelt.

Das Biofeedback der dem Schalldruck ausgesetzten Personen wird quantifiziert und im Biofeedback-Konverter wieder in erdbebengerechte Form gebracht. Als Hardware findet ein Computer-Aided-Biofeedback-System der Firma Insight Instruments, Wien, Verwendung, das in Zusammenarbeit mit dem Künstlerduo Sodomka/Breindl und Norbert Math für künstlerische Anwendungen weiterentwickelt wurde. Herzstück ist ein Interface ["Medat"], das an einen Multisensor angeschlossen wird. Dieser ermittelt Hautleitwert, Temperatur und Pulsschlag. Über eine serielle Schnittstelle sendet die "Medat" die Biofeedback-Daten an einen PC, wo diese Daten via MIDI ausgegeben, an einem Monitor visualisiert und wieder über eb-proto dem Server zugespielt werden, der nun diese Daten – in Abhängigkeit von Anfragen verschiedener Clients oder Server – etwa dem WWW-Server über eb-proto zur Verfügung stellt.

Der WWW-Server wertet die Ortsinformation aus und zerwürfelt je nach Stärke den mit der Ortsinformation korrespondierenden Text der Webpage, dessen Reparatur durch WWW-User qualifiziert und lokalisiert wird. Ort und Güte der Reparatur werden als Bebeninformation dem lokalen Server zugeführt, der sie wieder dem Soundkonverter vermittelt.

Die Software wurde in C geschrieben. Bei der Installation befinden sich vier Linux 200 Pentium im Einsatz.



Erdbeben sind von einem Herd ausgehende Erschütterungen, die sich über Teile der Erdoberfläche und des Erdinneren ausbreiten. Erdbeben, die sich über die gesamte Erde erstrecken, werden Weltbeben genannt.

Die Seismik untersucht u. a. die zerstörenden Wirkungen von Erdbeben und die geologischen und geotektonischen Kräfte im Herdgebiet.
Erdbebenenergie wird durch die Magnitude M ausgedrückt. Bei den energiereichsten Beben hat M Werte zwischen 8,5 und 9.

Charles Francis Richter, amerikanischer Seismologe, Professor am California Institute for Technologie, stellte 1935 die Richter-Skala auf.

Richter-Skala [Magnitudenskala]: moderne Erdbebenskala auf instrumenteller Basis zur objektiven Beurteilung der Erdbebenstärke. Die im wesentlichen als dekadischer Logarithmus der – durch eine Bezugsamplitude von 1µm dividierten – Maximalamplidude festgelegte Magnitude M schwankt zwischen den Werten 0 bei sehr schwachen Erdbeben und etwa 7,7 bis 8,6 bei stärksten Erdbeben [Weltbeben], ist aber nach oben hin unbegrenzt.

Im Jahresdurchschnitt ereignen sich weltweit zwei Beben mit Magnituden zwischen 8 und 9, 800 Beben zwischen 5 und 6 und 50.000 Beben zwischen 3 und 4.


Das Projekt IPzentrum wurde als Siegerprojekt des Kunstprojektpreises "stroemung 97" der Steweag in Zusammenarbeit mit dem Ars Electronica Center realisiert.

Idee, Konzept, Durchführung und Text:
TXTD.sign
Heimo Ranzenbacher
Gerold Muhr

Systemprogrammierung:
Volker Christian

Biofeedback-Adaption:
Norbert Math
Webpage-Design:
Norbert Math
Bauten und Ton:
Helmut Schäfer, Stefan Ebelsberger