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City of News


'Flavia Sparacino Flavia Sparacino

"Haben wir eine Möglichkeit, uns selbst und den Raum, den wir bewohnen, zu definieren, während die Stadt zunehmend als Raum des Verschwindens, als Raum der Zukunft, nicht aber der Gegenwart, als Raum von Angst und Verlust definiert wird?"

M. Christine Boyer
In einem Artikel, der 1995 in Le Monde Diplomatique veröffentlicht wurde, beschreibt der französische Technologietheoretiker Paul Virilio das Phänomen des "Orientierungsverlusts", das die exponentiell wachsende Bevölkerungsgruppe, die der Faszination des Cyberspace erlegen ist, erlebt. Virilio stellt fest, daß die Konstruktion globalisierter, unmittelbar aktualisierter Informations-Superhighways eine Bedrohung für uns darstellt, eine Gefährdung unserer Wahrnehmung dessen, was Realität ist, was es für uns bedeutet, als Individuen hier und jetzt zu existieren. Diese Bedrohung, die auf die Spaltung der sinnlich wahrnehmbaren Welt in eine reale und eine virtuelle und auf die gleichzeitige "Erfindung der Perspektive der Echtzeit" zurückzuführen ist, verursacht einen Schock, eine "mentale Gehirnerschütterung", die das Erleben von Ereignissen auf eine globalisierte, eingleisige Schiene verlegt. Wir haben Virilios Besorgnis auf die vielfältige Welt des Net ausgedehnt, haben die Orientierung in dem von unserem "normalen" Browser angebotenen riesigen Datenflachland verloren und die Informationsangst als einen von der grenzenlosen, unstrukturierten Landschaft unter dem unendlichen Horizont des World Wide Web verursachten Schock erlebt. Als "Spacemakers" [Walser, 1990] haben wir uns deshalb das Ziel gesetzt, ein "Entrinnen aus diesem Flachland" [Tufte, 1990] zu suchen, einen Browser zu erstellen, der die Informationen, während er sie abruft, in Echtzeit in einem virtuellen dreidimensionalen Raum organisiert, der den Fluß der von uns wahrgenommenen Daten in einer kognitiven Karte eines [virtuellen] Orts verankert. Dieser Ort ist eine Stadt.
CITY OF NEWS
Seit William Gibson in seinem visionären Science-Fiction-Roman Neuromancer "die Matrix", d. h. das neue Informationsnetz, mit der Ansicht von Los Angeles aus fünfzehnhundert Metern Höhe verglichen hat, ist der Gedanke an eine Strukturierung der Informationswüste des Web als urbane Landschaft mehr ein Drang als eine Erfindung. Die City of News ist eine dynamisch wachsende, urbane Informationslandschaft. Es handelt sich dabei um einen vom Benutzer betretbaren, interaktiven Web-Browser, der sich die Stärke der Menschen, sich das sie umgebende dreidimensionale räumliche Layout zu merken, zunutze macht. Unser Browser geht von einer gewählten "Homepage" aus, wo das "Home" letztendlich mit einem physischen Raum assoziiert ist, und holt URLs, die er anzeigt, indem er Wolkenkratzer und Straßen aus Text und Bildern entstehen läßt, die der Benutzer "durchfliegen" kann.

Die Stadt ist in Stadtviertel [Bezirke] gegliedert, die eine territoriale Gruppierung der verschiedenen urbanen Aktivitäten darstellen. Analog zu einigen der größten zeitgenössischen Städte gibt es einen Finanzdistrikt, ein Unterhaltungsviertel und ein Einkaufsviertel. Zusätzlich zu dieser Gliederung in Stadtviertel haben wir noch eine zusätzliche funktionelle Gruppierung vorgenommen, indem wir unsere Stadtplanung am Layout einer modernen Zeitung orientierten, wovon sich übrigens auch die Bezeichnung City of News ableitet. Deshalb gibt es Sport-, Bücher-, Werbe-, Wissenschafts- und Meinungsbezirke.

Man könnte nun meinen, diese Bezirke wären nichts weiter als Stadtviertel, die den verschiedenen Begriffsgebieten einer der unzähligen Web-Suchmaschinen entsprechen. Den architektonischen Überlegungen der Brüder Krier [Krier, 1984] zufolge fragmentiert eine Zonengliederung die virtuelle Stadt nicht in riesige Bereiche, in denen ein Bürger jeweils nur eine einzelne Aufgabe ausführen kann. City of News ist ein Verbund autonomer Viertel, die jeweils "eine Stadt innerhalb der Stadt" [ibid] sind und sich hauptsächlich durch ihre Bewohner [z. B. Studenten oder Künstler] sowie ihre gemeinsamen Vorlieben oder Präferenzen [wie Paris] voneinander unterscheiden. Die Stadt entwickelt sich und wächst organisch durch ihre Erforschung. Folgt man einem Link, entsteht ein neues Gebäude in genau dem Bezirk, dem es aufgrund seines Inhalts begrifflich zuzuordnen ist.

Bisher haben wir eine Navigationsschnittstelle eingerichtet, die auf Sprach- und Gestenerkennung [Wren, 1997] beruht. Gegenwärtig denken wir daran, einen drahtlosen digitalen Steuerknüppel und eine "Raumschiffkonsole" zu verwenden, um unseren dreidimensionalen Browser zu steuern. Diese Arbeit, die in Apples e-World [1994] einen Vorläufer besitzt, wurde von Jeffrey Shaws Legible City [1989] inspiriert.
DIE STADT DER ERINNERUNG
In den späten siebziger Jahren schuf eine Gruppe von Forschern am MIT, die sich unter der Bezeichnung Arch-Mac [Architecture Machine Group] zusammengetan hatten, einen vom Benutzer betretbaren, videobasierten, simulierten Raum, dem sie den Namen Aspen Movie Map gaben. Dieses interaktive System, das eine getreue digitale Reproduktion der Stadt Aspen darstellt, wurde zu einer Plattform für die Erforschung des räumlichen Lernens in virtuellen Umgebungen [Mohl, 1981]. Obwohl die Movie Map im vorhinein detaillierte Informationen über den zu erforschenden Ort erforderte, stellt sie einen wichtigen Vorläufer der City of News dar, da sie dem Benutzer eine kognitive Karte der virtuellen Umgebung liefert. Kevin Lynch [Lynch, 1960] hat eine bemerkenswerte Studie durchgeführt, in deren Verlauf er jene Elemente identifizierte, die eine Stadt zu einem lesbaren, einprägsamen und kohärenten Ort machen: Wege, Ränder, Bezirke, Knoten und Erkennungszeichen. Während wir die City of News in Form von Bezirken organisiert und dabei einprägsame Erkennungszeichen wie organische Strukturen oder virtuelle Skulpturen hinzugefügt und typographische Gebäude entlang der Wege angeordnet haben, konstruierten wir unsere City of News gleichzeitig so, daß sie als Schauplatz der Erinnerung dienen kann.

Die "klassische Erinnerungsweise" war von der mentalen Konstruktion komplexer architektonischer Strukturen abhängig, die sich aus von lebendigen Bildern bevölkerten Orten zusammensetzen. Diese Bilder lieferten die Assoziationsverbindungen zu dem Material, das es sich einzuprägen galt.

Inspiriert durch Yates Beschreibung von Camillos Memory Theatre statteten wir City of News mit einprägsamen Bildern aus, die wir den Titelseiten von Web-Zeitungen entnommen hatten. Diese fungieren in den verschiedenen Bezirken als architektonische Erkennungszeichen und Gedächtnisstichworte. Sie sind auf großen, hohen Plakatwänden angebracht, die jenen ähneln, die die Stadt Tokio mit düsterer Publicity beleben. Darüber hinaus beschreibt Yates auch eine weniger bekannte Erinnerungsmethode, die von Raymond Lull entwickelt wurde. Dabei handelte es sich um eine abstrakte Erinnerungsweise, die auf mit Buchstaben assoziierten Begriffen beruht. Das Erinnern wurde dabei eher zu einer Übung in Kombinationsfähigkeit als zu einem Spaziergang auf einem virtuellen Weg. Ein ähnliches abstraktes Modell für die Organisation von Nachrichtendaten [nicht in Echtzeit] wurde von Earl Rennison in seiner Galaxy of News im Visible Language Workshop des MIT Media Lab verwendet. Der Hauptunterschied zwischen dieser letzten Arbeit und City of News besteht in der räumlichen, stadtartigen Organisation der Daten sowie in der Echtzeitkonstruktion und -evolution der Landschaft in City of News .
ORGANISCHE ARCHITEKTUR
City of News ist eine "Architekturmaschine", die "der physischen Umgebung die Möglichkeit gibt, sich selbst zu gestalten" [Negroponte, 1975]. Diese Maschine funktioniert nach den organischen Gesetzen eines Gartens. Während der Benutzer innerhalb des World Wide Web einem Link folgt, erzeugt er neue Stadtelemente, die einem künstliches Wachstum und Evolution simulierenden Algorithmus entsprechend der bestehenden Struktur hinzugefügt werden. Das Verfolgen eines Links wird damit gleichbedeutend mit der Verfolgung einer Möglichkeit, die eine Veränderung der Umwelt bewirkt: Die Konsequenz jeder getroffenen Wahl wird intensiviert und führt dazu, daß ein Gebäude hochwächst oder ein Weg weiterverfolgt wird. Im vorangegangenen Maschinenzeitalter folgten die Stadtplaner bei ihrer Planungstätigkeit der strengen Disziplin der Arbeitskette und planten den Verkehrsfluß zum Rhythmus des Uhrwerks.

In unserer gegenwärtigen Zeit definieren die globalen Computernetze, die Time-Sharing-Aktivitäten, das Leben im Internet und die Usenet-Gruppen eine lebensähnliche Haut bzw. Membran virtueller Orte und Aktivitäten. Daher sind wir zu dem Schluß gelangt, daß ein organisches Stadtentwicklungsmuster am besten geeignet wäre, um das Leben im Web, d. h. "das Net" abzubilden. Von William Mitchells mathematischem Formalismus in The Logic of Architecture bis hin zu Marcos Novaks genetikbasierter Liquid Architecture, von Christopher Alexanders rationalen Notes on the Synthesis of Form bis hin zu seiner späteren, von der Natur inspirierten Pattern Language erleben wir einen Trend hin zu biologisch gesteuerten oder das Leben simulierenden Lösungen für komplexe Konstruktions- und Organisationsprobleme. Parallel zu diesem Phänomen möchten immer mehr Einzelpersonen, Gemeinschaften und soziale Gruppen ihre eigenen Welten planen und dadurch das Techno-Versprechen personalisierter Nachrichten- und Unterhaltungsdienste in Anspruch nehmen. Eine neue utopische Bewegung scheint die Auffassung der Stadt als einen "Schauplatz der Prophezeiung" [Rowe, 1978] zu beleben, der sich mit dem vorne beschriebenen "Schauplatz der Erinnerung" überschneidet.
POSTMODERNE UTOPIE
Der Traum von einer umfassenden Stadt der Erlösung, der auf die frühe moderne Architektur zurückgeht, findet sich auch in der kollektiven Vorstellung vom Cyberspace wieder. Howards rauchfreie "Garden City", Wrights dezentralisierte "BroadacreCity", Le Corbusiers enthusiastische "Cité Radieuse" und Sant'Elias dynamische "New City" sind nur einige unter den vielen historischen Beispielen für visionäre Architekturen für zukünftige Städte. In jüngerer Zeit hat eine englische Gruppe von Architekten, die unter dem Namen "Archigram" [Architectural Telegram] arbeiten, phantastische Räume wie gehende Städte, ansteckbare Städte, Instantstädte und aufblasbare Städte erfunden, die unserer zeitgenössischen transformierten imaginären Auffassung vom urbanen Raum entsprechen.

Die neue Stadt wird aufgefaßt als "ein immenser Kommunikationsknoten, ein wirrer Nexus von Botschaften, Speicher- und Transportmedien, eine massive Bildungsmaschine ihrer eigenen Komplexität, die alle Medien einschließlich der Gebäude gleichermaßen umschließt" [Benedikt, 1991]. Die City of News hat sicherlich Anteil an der utopischen Dimension dieses historischen Gedankens, da sie die Hoffnung auf einen idealen Raum in sich trägt, in dem Information geteilt und konsumiert werden kann. Gleichzeitig nimmt das Projekt nicht für sich in Anspruch, die gesamte im Web verfügbare Information auf absolut rationale, nicht kontaminierte Art und Weise anzubieten.

Wie viele Architekturtheoretiker beobachtet haben, gibt es einige Gemeinsamkeiten zwischen dem virtuellen Raum der Computernetze und den posturbanen Räumen von Unordnung und Verfall. Die City of News spiegelt diese Auffassung der Stadt von "der Peripherie des Reichs" als Science-Fiction-Erzählung à la Hugh Ferris wieder. Sie ist eine glitzernde Metropole, eine verführerische Stadt, ein glorreicher Informationsslum, der sowohl dem Internet-Süchtigen als auch dem hypereffizienten Geschäftsmann, die beide auf der Welle der Echtzeit surfen, ein Zuhause bietet, eine Stadt, die die Menschen willkommen heißt, erregt und verschlingt. Sie ist eine Stadt, die durchdrungen ist von einem postmodernen nostalgischen Sehnen nach der Zukunft, die sich selbst ehrgeizig mit den Filmarchitekturen aus Blade Runner, Brazil und Batman zu vergleichen sucht.
SCHLUSSFOLGERUNGEN
Die City of News wurde im Mai 1996 fertiggestellt und befindet sich seither in einem laufenden Prozeß der Weiterentwicklung. Während unser Projekt gedeiht, haben wir das Gefühl, daß es mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Während wir uns weiter mit der Metapher der Stadt beschäftigen, fragen wir uns: "Was bedeutet es, ein Informationskrankenhaus oder einen Informationsfriedhof zu haben?" "Welche Kriterien bestimmen den Lebenswert dieser Cyberstadt?" Denn obwohl wir Städte schaffen, schaffen sie gleichzeitig uns. Wir haben eine virtuelle Umgebung geschaffen, indem wir dem Naturgesetz der "creatio mundi" anstatt dem Drang zur "fuga mundi" folgten. Es handelt sich dabei um eine Umgebung, in der Organisation gleichbedeutend mit Konstruktion ist und den Aufbau einer Informationsstruktur bedeutet, die das Abrufen von Erinnerungen erleichtert. Gleichzeitig hoffen wir, daß unsere Besucher erkennen, wie Information das beeinflußt, was sie sind, und wie das urbane Layout ihrer Umgebung sie beeinflußt, indem es sie zu dem macht, was sie sind. In der nahen Zukunft, während wir uns unter der neuen Perspektive einer globalisierten Echtzeit aneinandergefesselt finden, werden wir uns wahrscheinlich nicht mehr fragen: "Wie spät ist es?", sondern "Wo sind wir?"
"Die Metropolis kam an wie der Zirkus, schlug ihre Zelte auf, blieb eine Zeit lang in Betrieb und zog dann weiter."

Ron Herron

"Orte sind Räume, an die man sich erinnern kann, um die man sich sorgen kann und die man zu einem Teil seines Lebens machen kann … Die Welt sollte voll von Orten sein, die so lebendig und einzigartig sind, daß sie Bedeutungen tragen können … Orte könnten Emotionen, Erinnerungen, Menschen und sogar Ideen ins Gedächtnis rufen."

Donlyn Lyndon

"Architekten, die danach streben, ihre Konstrukte innerhalb des Unraums des Cyperspace zu plazieren, werden lernen müssen, die genetischen Motoren des künstlichen Lebens in ihr Denken miteinzubeziehen."

Marcos Novak

"Könnte nicht diese ideale Stadt zu ein und derselben Zeit explizit als Schauplatz der Prophezeiung UND als Schauplatz der Erinnerung fungieren? … Denn so, wie es ohne Prophezeiung keine Hoffnung gibt, kann es ohne Erinnerung keine Kommunikation geben."

Colin Rowe

"Einprägsame Orte sind notwendig. Wir müssen darüber nachdenken, wo wir sind und was an unserer Umgebung einzigartig und besonders ist, damit wir uns selbst und unser Verhältnis zu anderen besser verstehen können."

Donlyn Lyndon



Teilweise realisiert innerhalb des Research & Residence Program.