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Relationale Architektur #2 Displaced Emperors


'Rafael Lozano-Hemmer Rafael Lozano-Hemmer

RELATIONALE ARCHITEKTUR
Relationale Architektur kann man als die technologische Aktualisierung von Gebäuden und öffentlichen Räumen durch ein Fremdgedächtnis definieren. Relationale Architektur besetzt die Meta-Narrative eines bestimmten Gebäudes durch die Hinzufügung oder Wegnahme audiovisueller Elemente, um so auf sie einzwirken, sie zur Wirkung zu bringen, zu re-kontextualisieren. Relationale Gebäude weisen publikumsaktivierte Hyperlinks zu vorbestimmten raumzeitlichen Situationen auf, die aus anderen Gebäuden, anderen politischen oder ästhetischen Kontexten, anderen historischen Erzählungen oder einer anderen Physis bestehen können.

Virtuelle und relationale Architektur sind vielleicht darin unterschieden, daß erstere vor allem auf Simulation, letztere dagegen auf Dissimulation beruht. Virtuelle Gebäude sind Datenkonstrukte, die auf Realismus aus sind, die die Teilnehmer auffordern, ihre Zweifel auszublenden und mit der Umgebung mitzuspielen; relationale Gebäude hingegen sind wirkliche Gebäude, die sich als etwas anderes ausgeben als sie sind, die sich als etwas maskieren, das sie sein könnten, und die Teilnehmer auffordern, ihren Glauben auszublenden und die Verkleidung zu erproben, mit ihr zu interagieren und zu experimentieren. Die beiden Ansätze bedienen sich auch unterschiedlicher Vorgangsweisen in bezug auf den Maßstab: Die virtuelle Architektur miniaturisiert Gebäude gerne auf die Größe des Teilnehmers, etwa mittels VR-Peripheriegeräten wie Datenhelmen, CAVEs oder Pods, wogegen die relationale Architektur den Teilnehmer mit technischen Mitteln auf den Maßstab des Gebäudes vergrößert oder das Verhältnis zwischen urbanem und persönlichem Maßstab unterstreicht. In diesem Sinne dematerialisiert die virtuelle Architektur den Körper, während die relationale die Umwelt dematerialisiert.

Virtuelle und relationale Architektur sind keine gegensätzlichen Praxen und schließen einander auch nicht aus. Sie sind einander insofern ähnlich, als beide computergeneriert und stark teilnehmerbezogen sind, und daß sie weniger kostspielig, dauerhaft, schutzbietend und territorial als physische Architektur sind.

Relationale Architektur braucht sich weder in die parasitäre oder symbiotische Praxis der Postmoderne noch in die poststrukturalistische Selbstrefentialität einzuschreiben: Sie betreibt nicht unbedingt Dekonstruktion und muß sich auch nicht der Sprache oder Struktur des Gebäudes selbst bedienen. Eher könnte man relationale Architekturereignisse als "Gebäude mit interaktiven Untertiteln" betrachten, deren Übersetzer die Sprache des Gebäudes zwar sprechen können, aber nicht müssen: Die Untertitel müssen nicht kausal, referentiell und nicht einmal kontextuell sein. Relationale Architekturarbeiten erheben Anspruch auf ihre synthetischen, artifiziellen Eigenschaften und nehmen sich das Recht heraus, effektvoll, improvisatorisch und nutzlos zu sein.

Doch die eigentliche Motivation der relationalen Architektur besteht in der Modifikation von Verhaltensweisen: Der Künstler stellt eine Situation her, in der Gebäude, urbaner Kontext und Teilnehmer in einen neuen und "fremdartigen" Bezug zueinander treten. Die Arbeit kann als gelungen betrachtet werden, wenn die Intervention des Künstlers das dynamische Gleichgewicht zwischen Publikumsaktion und Gebäudereaktion – und vice versa – verändert. Eine Vielzahl kausaler, chaotischer, telepräsenter prädeterminierter oder emergenter Verhaltensweisen können in die Arbeit einprogrammiert werden, doch die Ungewißheit des Ausgangs ist eines der Hauptmotive für die Durchführung einer solchen Arbeit.

Wiewohl die relationale Architektur ein relativ neues Feld auf dem Gebiet der Medienkunst darstellt, reichen die Vorläufer bis in die Antike [Simonides' Entdeckung der Mnemotechnik] und zum Gebrauch der Gedächtniskunst in der chinesischen und der hermetischen Rhetoriktradition zurück. Zeitgenössische Praktiken der ortsspezifischen Installation, der Straßenperformance und der Kunst im öffentlichen Raum waren für die Entwicklung des Gebietes von wesentlicher Bedeutung. Eine beträchtliche Anzahl von Künstlern haben in Vergangenheit oder Gegenwart diese Praxis beeinflußt, darunter Kristoff Wodiczko, Archigram, Toyo Ito, Gordon Matta-Clark, Jenny Holzer, die Situationisten, Christian Möller, Christo, Peter Greenaway, Vito Acconci, Dennis Adams, Knowbotic Research, Dan Graham, Richard Serra and Rachel Whiteread.

Rafael Lozano-Hemmer und Will Bauer arbeiten gemeinsam an der Entwicklung einer Reihe von relationalen Architekurarbeiten, die im Lauf der nächsten Jahre präsentiert werden. Die Arbeiten umfassen die Entwicklung neuer Architekturschnittstellen, die mit Echtzeitcomputergraphik, 3D-Sensoren, elektroakustischer Musik und besonders Robotic Lighting arbeiten. Die Events, die nach Einbruch der Dämmerung stattfinden, werden in einem halben Dutzend Städten präsentiert, darunter Barcelona, Graz, Madrid und Mexico City.
DISPLACED EMPERORS
Für die Ars Electronica wurde eine relationale Architekturarbeit entwickelt, die das hoch über dem Donauufer liegende emblematische Linzer Schloß transformiert. Die Arbeit stellt einen Vektor zwischen zwei scheinbar unzusammenhängenden historischen Eigentümlichkeiten her, die Mexiko und Österreich miteinander verbinden: das mexikanische Kaiserreich des Maximilian von Habsburg [1864-1867] und der "Penacho de Montezuma", die Quetzalfedernkrone eines der letzten Aztekenherrscher, die im Besitz des Wiener Völkerkundemuseums ist. Die Arbeit möchte das Publikum in ein Gewebe von Machtbeziehungen verwickeln, in dem Geschichte als virtuelle Umwelt und Identität als eine vom Mythos des Kulturbesitzes getragene Performance gesehen wird.
1 ARCHITACT
Die auf dem kleinen Platz zwischen Rudolfstor und Hofbergstraße stehenden Teilnehmer interagieren mit dem Schloß, indem sie mit der Hand darauf zeigen. Ein drahtloser 3D-Tracker errechnet die Richtung des TeilnehmerInnenarms, worauf eine große animierte Menschenhand dort projiziert wird, wohin er/sie zeigt [Abb. 1]. Bewegt der/die TeilnehmerIn seinen/ihren Arm, so bewegt sich auch die telematische Hand; sie gleitet über die Schloßfassade und erzeugt den Eindruck einer verstärkten Liebkosung. Je nachdem wo und wie der/die TeilnehmerIn das Schloß "berührt", verwandelt sich dieses in das Schloß Chapultepec, in die Borda-Park-Residenz oder andere Wohnsitze der Habsburgerkaiser in Mexiko. Die telematische Hand "enthüllt" die mexikanischen Schlösser, als befänden sie sich innerhalb des Linzer Schlosses: Das Außen wird zum Innen [Abb. 2]. Wenn die Hand bestimmte Fenster aktiviert, werden andere mit einschlägigen architektonischen Bezügen gekoppelte audiovisuelle Ereignisse ausgelöst und gesteuert. FleshFactor: Durch die Architact-Schnittstelle können die Teilnehmer die Medienschicht des Gebäudes wie eine telematische Blindenschrift lesen, die die Wahrnehmung zu einem hochgradig körperlichen Akt macht.

Die Wahl Maximilians und seiner Frau Carlota zum Kaiser von Mexiko wurde durch eine kleine Gruppe konservativer Notabeln betrieben, die ihre Interessen gegen die von Benito Juarez propagierte national-liberale Politik schützen wollten [Abb. 3]. Getäuscht über den Rückhalt seines Regimes im Volk übernahm Maximilian, der selbst ein Liberaler war, im Jahr 1864 mit Hilfe der Armee Napoleons III. das Land. Die Geschichte endet tragisch mit dem Rückzug der französischen Truppen und der Gefangennahme und Hinrichtung Maximilians im Jahr 1867, ein Ereignis, das Manet in einem von Bataille als Beginn der Moderne bezeichneten Gemälde dargestellt hat [Abb. 4]. Der Leichnam Maximilians wurde einbalsamiert und auf der Novara nach Europa zurückgebracht: Er befindet sich heute in der Kaisergruft der Kapuzinerkirche in Wien [Abb. 5].

Während seiner Herrschaft residierte Maximilian mit seiner Frau im Schloß Chapultepec, das sie sich ähnlich ihrem Schloß Miramar in Triest umbauen ließen. Dieses italienische Schloß wies seinerseits zahlreiche Bezüge zu Habsburgerschlössern in Österreich, darunter auch Schönbrunn, auf. Die österreichischen Schlösser wiederum zitierten eine Vielfalt klassischer stilistischer Archetypen. Dieses aus Schlössern in Schlössern bestehende "Mise-en-âbime" wird in Displaced Emperors als Quelle von Architektursamples ausgebeutet, die vom Teilnehmer immer wieder neu abgemischt werden können, wodurch dieser zu einer Art deterritorialem, detemporalem "architecture jockey" wird [Abb. 6].
2 PUSH BUTTON OVERRIDE [ABSCHALTUNG PER KNOPFDRUCK]
In einem improvisierten Andenkenstand ist ein Computermonitor aufgestellt, der den Schauplatz der Architact-Teilnehmern mit Orwellscher Präzision wiedergibt [Abb. 7]. Neben dem Monitor befindet sich ein großer knallroter Druckknopf, der deutlich mit "Montezuma" gekennzeichnet ist. Das Drücken des Montezuma-Knopfs hat drei Dinge zur Folge: a] Es schalten sich bis auf einen Suchscheinwerfer mit dem Kulturbesitzsymbol, der automatisch den Teilnehmer mit dem Tracker ins Visier nimmt, sämtliche Lichter aus; b] eine übergroße Projektion des "Penacho de Montezuma" wird auf die Schloßfassade geworfen; c] verzerrte mexikanische Straßenmusik setzt ein [Abb. 8]. Sobald der Knopf wieder losgelassen wird, können die Teilnehmer am Schloß ihre Interaktion fortsetzen.

Der "Penacho de Montezuma" ist ein aztekischer Kopfschmuck aus den grünen Schwanzfedern des ausgestorbenen Quetzal. Wiewohl es keinen sicheren Beweis dafür gibt, daß der Penacho die "Krone" Montezumas II. war, stellt er bekanntermaßen das Symbol der höchsten politischen und religiösen Macht des präkolumbischen Mexiko dar. Einer Geschichtsversion gemäß überreichte Montezuma den Penacho dem spanischen Eroberer Hernán Cortèz, der ihn 1519 seinerseits dem König von Spanien, Carlos I., zum Geschenk machte. Im selben Jahr nahm Cortèz den Aztekenherrscher gefangen, und ein Jahr später starb dieser unter mysteriösen Umständen: Nach indianischen Zeugenberichten wurde er von den Spaniern ermordet. Carlos I. gab den Penacho an seinen Bruder Fernando weiter, der ihn in seiner Kunstsammlung in Schloß Ambras aufbewahrte. Von dort gelangte er nach Wien, wo man ihn 1878 schließlich aus dem Schrank hervorholte, in dem er jahrzehntelang zusammengefaltet und mottenzerfressen gelagert hatte. Das Objekt ist heute im Wiener Völkerkundemuseum ausgestellt.

Für Mexikaner ist der Penacho ein äußerst wichtiger Bestandteil ihrer nationalen Identität, ein Objekt von außerordentlichem emotionalem, kulturellem und symbolischem Wert. Überdies maßen Azteken Objekten aus Federn wesentlich größere Bedeutung bei als solchen aus Gold oder Silber. Viele angesehene Österreicher – darunter Rudolf Burger, Carl Pruscha und Peter Noever – haben erklärt, daß sie den Penacho gerne an Mexiko zurückgegeben sähen. Diese Österreicher sind der Meinung, man sollte den Penacho den Mexikanern zum Geschenk machen, um ihnen unter anderem dafür zu danken, daß sie 1938 beim Anschluß Österreichs an Deutschland beim Völkerbund Protest eingelegt haben.

Der Montezuma-Knopf ist eine kausale, irritierende 1-Bit-Intervention, die als Metapher für die einfachen, in allen komplexen Kontrollsystemen zu findenden Automatikabschaltfunktionen dient. Der Knopf ist von einer Unmenge Informationsmaterial [Poster, Handzettel usw.] über die politische und rechtliche Lage des Penacho umgeben: ob er an Mexiko zurückgegeben, in Wien behalten, verbrannt, digitalisiert oder auf andere Weise erhalten oder zerstört werden soll. Der Montezuma-Knopf ist eine Parodie auf die Währung des kulturellen Austausches und eine Hinterfragung der Willkür des Begriffs "Kulturerbe".