Das Auge des Polyphem
'Concha Jerez
Concha Jerez
Der einäugige Riese – hier dient er nur als poetisches Gedankenspiel, das uns aus den Tagen des Odysseus in unsere Zeit führt. Seit jenen Tagen hat sich freilich viel verändert. So auch der Entwicklungsgrad des Riesen oder, mit anderen Worten, das soziopolitische und wirtschaftliche System, in das wir eingebunden sind, während sein Auge mit nie nachlassender Aufmerksamkeit auf uns gerichtet ist und uns beobachtet. Das Auge des Polyphem ist ein unpersönliches, elektronisches; es ist das Auge der Überwachungssysteme.
Es wäre treffender, statt von einem Auge von einem vivisezierenden Gehirn zu sprechen, das Entscheidungen trifft und dabei von tausenden winzigen Augen und Ohren mit Informationen gefüttert wird. Zum einen sind wir von omnipräsenten Überwachungskameras umgeben, zum anderen von Telefonabhörsystemen, von winzigen Mikrophonen, die jedes Gespräch auffangen. Es scheint zudem, als würde durch die Entwicklung der Informationsnetze unser Körper und mit ihm unser privates und öffentliches Leben unentwegt seziert und wieder neu zusammengesetzt – als wäre der Mensch ein digitaler Frankenstein, aufgebaut aus Informationsbruchstücken, die selbstverständlich auch zu unserem Nachteil verwendet werden können.
Was diese Sicherheitssysteme betrifft, so wird behauptet, daß der Unterschied zwischen einem demokratischen und einem diktatorischen System darin bestehe, daß in ersterem die Repression mit viel subtileren, beinahe unmerklichen Methoden geschehe. Diese Behauptung ruft uns die Grenzen der Freiheit in einem demokratischen System in Erinnerung. Überwachung vermittelt uns das Gefühl der Sicherheit innerhalb eines Systems, doch gleichzeitig durchdringt sie auch – unter Umständen sogar pausenlos – unser gesellschaftliches und privates Leben, in dem eigentlich das Prinzip der Unschuldsvermutung gelten sollte. Spinnt man diesen Gedanken weiter, so stellt das Überwachungssystem die Grenzen des Systems der Freiheit dar. Der Ungestraftheit des "Voyeurs" steht dann jenes Auge gegenüber, das ihn seinerseits einer genauen Prüfung unterzieht.
Doch während der "Voyeur" den Privatdetektiv darstellt, der etwas potentiell Verbotenes und daher Gefährliches betrachtet, repräsentieren die Sicherheitssysteme die unablässig und ungerührt herumspionierende öffentliche Wachsamkeit. Sie ist nicht an einem bestimmten Individuum interessiert; alles und jedes wird wahllos und willkürlich von ihr aufgezeichnet. Diese Unpersönlichkeit, der das System dann aus Gründen der Vorteilhaftigkeit den Anschein der Objektivität zu geben trachtet, ist ihr unverwechselbares Kennzeichen. Wie Hörer und Sprechmuschel des angezapften Telefons alle möglichen Nachrichten aufnehmen, fangen verschiedenste technische Gerätschaften diese Unterhaltungen ab und halten sie auf Band fest. Sie sind Abschrekkungswaffen zum Schutz bestimmter Interessen. Ihnen stehen Waffen gegenüber, die im Idealfall dazu dienen, Beweise über den Hergang eines Eigentumsdelikts oder einer Körperverletzung zu sammeln. Das elektronische Auge fängt den Moment des Verbrechens ein, doch die Interpretation dieser Fakten obliegt dem menschlichen Auge und Ohr. Hier jedoch sprechen wir nicht länger über den Blick des "Voyeurs". Hier handelt es sich um einen ganz und gar professionellen Blick oder um professionelles Lauschen. Die Menschen haben in zunehmendem Maße Angst, dem Blick eines Mitmenschen zu begegnen, doch gleichzeitig nehmen sie es unwidersprochen hin, dem prüfenden Blick der Überwachungsprofis ausgesetzt zu sein. Und wenn sie selbst Lust verspüren, die Aktivitäten und Bewegungen anderer Menschen zu beobachten, so tun sie es den Profis gleich und wählen hierfür einen elektronischen Wachturm: die Anonymität des Internet, "Reality Shows" im Fernsehen oder die stets verfügbaren "Hotlines" mit den Nachrichten der Radiostationen. Der "Voyeur" kann in flagranti erwischt werden, nicht aber der von ferne Zusehende, den das System in Schutz nimmt; einen Schutz, den es wie einen Mantel über alle sozialen Gruppen breiten muß, ob sie diesen Schutz nun wünschen oder nicht.
Interaktivität ist also dem kalkulierbaren Risiko einer Geisterbahn vergleichbar. Wahre Interaktivität ist immer mit den Risiken des horizontalen Dialogs verbunden. Die Interaktivität technischer Systeme ist in ihrem Aufbau durch vertikale, hierarchische Strukturen bestimmt. Sie ist die andere Seite der Sicherheitssysteme, eine "spielerische" Version der sie stützenden Technologie. Oder anders ausgedrückt: Elektronische Hilfsmittel sind Kontrollwerkzeug und Fluchtmöglichkeit in einem. Der Verurteilte entflieht in dem Augenblick, in dem er kontrolliert wird; je mehr Kontrolle es gibt, desto stärker ist die Flucht. Fluchtmittel und Zugriffsmittel. Wenn die Kulturindustrie uns die Möglichkeiten geliefert hat, uns immer mehr Fluchträume zu erobern, während unser Lebensraum in zunehmendem Maße dem Zugriff der Überwachungssysteme ausgesetzt ist – was kann Kunst bewirken? Wie soll sie reagieren? Polyphem traf auf Odysseus und der Riese Goliath auf den viel kleineren David. Gehört es heute, wie einige meinen, zu den Aufgaben des Künstlers, "Kontext und Inhalt zu schaffen, die Ersatz sein können für die Strategie der Technokultur, Wissen und Kommunikation auf die durch Medien bereitgestellten Informationen zu reduzieren"? Wenn dies der Fall ist, so sollte die Kunst in der Lage sein, mit den Vorurteilen und schlechten Angewohnheiten der Augen und Ohren der Menschen aufzuräumen. Dann könnten wir alle wie Odysseus sein, denn wenn wir ihn bewußt ansehen, wird unser moderner Polyphem letztendlich bemerken, daß wir alle um seinen Blick wissen und durch seinen Blick die Falschheit der Antwort erkennen.
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