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Und wir bewegen uns doch
Eine Polemik zur Etablierung der mechanischen Alltäglichkeit

' Time's Up Time's Up / 'Johannes Domsich Johannes Domsich

Die Unendlichkeit der Welt in ihren Möglichkeiten, die sie uns zur Verfügung stellt, zeigt sich gleichwohl in den hämischen Tellerwäscher-Karriere-Phantasien des Kommerzes als in Sätzen wie "jedem Tierchen sein Plaisierchen" – nur: Ist uns diese Chance zur Individualität gegeben, haben wir Wissen, Zeit oder Geld, so saloppe Individualitäten zu leben, sie durchzuhalten und zu ertragen? Wenig ist so klischeehaft umwuchert wie die Freiheit des Menschen, zu tun und zu lassen was ihm beliebt. Wenig so emotional, ja, beinahe mythologisch verklärt wie die Gängelung, die er in seinem Leben erfährt. Leben, so scheint es, bestimmt sich aus den Extremen einer Balance zwischen Wollen und Können, einem Kampf zwischen Ich und der Öffentlichkeit, der nur im Reden oder im Schweigen zu führen ist.

Individualität ist der Imperativ der beginnenden zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine Bürde, an der wir fortan schwer zu tragen haben, die uns quält durch die permanente Evaluation unser selbst und der Bilder der anderen. Verwechselbar und unverwechselbar ist die Borderline der Kultur, ein Stakkato aus Ja oder Nein, das uns zwischen den Extremen der Liebe und der Ablehnung hin und hertorkeln läßt. Nun ist aber Individualität der dornige Weg des Ich mit all seinen Konzepten, seinem Willen, den Wünschen und Träumen in den Raum der Gesellschaft nicht länger ein Scheideweg zwischen dem richtigen und dem falschen Leben, wie der Mythos der Antike ihn zeigt. Wir stehen nicht wie Herakles grübelnd an Weggabelung, versunken in Gedanken, wohin wir uns wenden sollen. Und kein Mentor argumentiert uns die Folgen der Entscheidung, um uns letztendlich mit göttlicher Voreingenommenheit an der Hand zu nehmen. Nein, wir rasen im Zeitlupentempo – früh vergreist und doch ohne erkennbares Ende der Pubertät – auf einem Individualisation-Highway voran, parallel, ohne rechte Chance auf Begegnung, und laben uns bestenfalls in den ungemütlichen Raststätten der Hedonie. Wir vergleichen nicht, variieren nicht mehr die Leben unserer Ahnen, ihr Wissen ist uns nur kindliches Konzept einer überkommenen Zeit. Zeit – sie bräuchten wir, um ein Leben der Verästelungen zu entwerfen, den geschlungenen Pfad der Möglichkeiten beschreiten zu können.

Wer beherrscht unsere Ziele, wer bestimmt die Gefährte zwischen den Mühlen des Alltags und dem Dschungel therapeutischer Verirrungen? Der Zufall und kein innehaltendes Grübeln. Er ist die letzte Religion, die uns geblieben ist, als Nachlaßverweser der Spiritualität, die uns die Religionen dieser Welt gestohlen haben? Alltäglichkeit bildet die Demarkation unseres Lebens, ersetzt Tag und Nacht, Schlaf und Wachsein, die Grauzone zwischen den bedeutungsvollen und den unwichtigen Dingen, die wir als unser Leben akzeptieren müssen.

Nichts ist uns selbstverständlich, denn nichts ist in Wahrheit noch vergleichbar. Aus den Massen der Mediation sind massenhafte Medien [Einzelkämpfer] geworden. So viele Menschen es gibt, so viele Meinungen sind zu hören und Empfindungen zu ahnen. Wir ähneln dem Gedankenexperiment, eine spiegelnde Kugel in einer verspiegelten Hohlkugel zu sein – aber woher käme das Licht unserer Selbstspiegelung, wenn nicht durch den Blick des anderen, des Fremden?

Diese fröstelnde Individualität läßt uns nicht mehr schlafen, sie fordert permanente Kreation des Ich, unentwegte Fixierung der Ziele und die Musealisierung, die Verklärung unserer Vergangenheit. Wir definieren uns [im Partygeplänkel] nicht durch das, was wir tun, sondern durch das, was wir uns erträumen. Der Entwurf unseres Lebens ist mehr Roman als Realität. Nichts darf bedeutungslos sein, kein Lebensrest, der nicht der Analyse würdig wäre. Vielleicht hat der Mensch um den Preis seiner Kultivierung ein Ende in der Extase der Selbstverwirklichung gefunden. Nicht mehr die Produkte oder zuvor noch die Kreativität der Werkzeuge sind es, die uns bestimmen. Verschwunden ist die Gleichheit der Bewegung aus Erfahrung, Sicherheit und dem Wissen um das, was wir tun. [Richtiges produziert auch Frustration in seiner Autorität und verführt uns zum Ornament – dem geschminkten Gesicht, das auch nicht nur Loos'sches Verbrechen sein kann.] Arbeit und Kunst besitzen, wie Meyerhold meint, keine Ähnlichkeit mehr. Verloren ist das Wissen, daß das Richtige keiner Erklärung bedarf, ja, keine besitzt.

Der Mensch als Kreator ist – aus Hybris oder aus Faulheit – zur Kreatur seiner selbst geworden. Er ist das Produkt, das nur danach bewertet wird, wie sehr es begehrt wird, wie lange es sich Jugend zu erhalten vermag, wie gut es sich für ein Archiv der Kultur eignet [B.Groys], ein Platz in der mechanisierten, medialisierten Erinnerung anonymer Massen, den man sich nur mir Macht erkaufen kann. Wir produzieren uns selbst, mit Maschinen der Eitelkeit in den Gazetten und den Fitneßstudios der Zivilisation. Wir ertüchtigen uns für ein Projekt, das wieder nur ein Ich ist und kein Wir, und wir leben die Einsamkeit in der Schizophrenie, zugleich Ware und Käufer zu sein. Und eben diese Einsamkeit – oft noch wird sie als selbst gewählte oder ersehnte Eremitage interpretiert – stürzt uns in eine Ahnung von Verlorenheit. Beziehungslosigkeit zerrt an unseren Nerven und läßt uns von der Wiege der wilden Großfamilie schwärmen. Doch in der Segmentiertheit unserer Leben haben wir nur die Kraft für "Lebensabschnitt-Partnerschaften", denn Treue, die Verantwortlichkeit bedeutet, ist uns im Kollaps der Wegwerfgesellschaft abhanden gekommen.

Der Mensch scheint in einer Hysterie, in einer flirrenden Nervosität sich dem Zustand völliger Erschöpfung zu nähern [G. Steiner]. Er kann nicht schlafen, denn der Schlaf ist der Automatismus des Alltags, in dem die Sozialisierung und nicht der "Regisseurschauspieler Ich" bestimmt. Wir können nicht in die Kultur zurücksinken, nur reagieren, nur treiben, da wir uns nur noch selbst Kultur sind – einer für einen, jeder ist sein Künstler, jeder ein Medium seiner selbst. Und unser Bild findet sich nur in den Vorurteilen, die der letzte kümmerliche Reste der Sozietäten sind, als Parodie kultureller Identität.

Wir wollen und wir wollen nicht, wir können und wir können nicht. So leitet Delegation [Kapitulation] die Kreativität des Menschen, mit deren Hilfe er sich eine Gemütlichkeit des Nichtstuns erschaffen wollte – ein [digitales] Schlaraffenland, in dem sein Wille befiehlt und nicht wie im Paradies Glück [-seligkeit] die Folge des Leidens [Bravseins] ist. Wer allein ist, kann wohl auch allein bestimmen [und über seine eigenen Befehle murren]. Maschinen sind gedacht wie Knechte, die gleichermaßen Verantwortung und Arbeit übernehmen. Alles ist von uns "exkarniert" [A. Assmann], indem wir regieren lassen, denken lassen, arbeiten lassen ... Nichts ist geblieben, wir haben nichts mehr zu tun, als uns uns selber, quasi kosmetisch, zu widmen. So spielt man Arbeit mit gelockerten Kravattenknöpfen und roten Ohren, die uns die Droge macht und nicht der Fleiß, der wiewohl auch nur eine Narkotikum ist. Aus der beruhigenden [wenngleich verklärten] Geste der Arbeit ist die der Selbstbefriedigung geworden.

Doch ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse. Was geschieht in der Welt, aus der wir uns [die Perle der Schöpfung als Privatier] zurückgezogen haben? Können wir uns der Automaten, der Gutsverwalter unseres Materialismus sicher sein? Darum mißtrauen wir den Maschinen oder verherrlichen sie, was eigentlich das selbe ist. Wir sind unfähig uns ihrer zu bedienen nur aus der Tatsache heraus, daß wir uns nicht mit uns [still] beschäftigen können. So vermenschlichen wir, die wir eigentlich selbst virtuelle Weltendörfler geworden sind, sie zu virtuellen Kollegen, Agenten, Sekretären, Dialog- und Sexualpartnern und verpassen ihnen den Irrgarten Digitalität.

Maschinen sind zu mehr nutze. Im eitelsten und gleichzeitig feigsten Fall erträumen wir uns ein Vehikel unseres Geistes durch die Zeit. Unsterblichkeit erfeilscht durch den Verzicht auf Körper. Doch ohne den Körper würde sich unser Denken und unser Wollen mit einem Schlag verändern. Wunderbarerweise hat Hollywood recht: Der Tod steht uns gut! Wer möchte endlos leben, ohne die Bedingungen des Körpers? Wir hätten keine Sprache mehr, denn nichts ist mehr zu "begreifen", zu "vertreten", zu "begehen", der Reiz zweiter Chancen [M. Frisch] ist vorüber, Adrenalin als Droge wirkungslos und Sex als Monolog zu einsam, um zu gefallen. Ergo, ohne Körper geht es nicht, und die nächste Phantasie betritt die Bühne: kein Altern mehr, sondern die unendliche Pubertät. Alles, was hinfort getan werden muß, hat Zeit, die es damit eigentlich [visualisiert als grinsender Sensenmann] nicht mehr gibt. Die Inszenierung des Verfalls kann nun beginnen, denn wir spüren ihn nicht mehr an uns selbst, sondern an Akteuren, um uns an der Wirkung der Zeit zu delektieren [J. Tinguely]. Romantik hat ihren Platz in einer menschenfreien Patina gefunden – die Erde nutzt sich ab, nicht der Mensch [M. Jackson]. Denn ist der menschliche Körper und seine Bewegungen das letzte Produkt des Ich, maximiert das nur die schaurige Todesangst. Der Verfall beweist uns die Unmöglichkeit von Kontinuität, und die Sehnsucht nach Stillstand, nach einem Leben ohne Patina steigt. Patina aber ist nicht digitalisierbar, vielmehr löst Digitalität die Zeit als die Funktion der Abbildung auf. Darum ist das Schlaraffenland der Ort der absoluten Bewegungslosigkeit, der menschliche Wille dirigiert im Stillstand. Mit der Magie der Genetik lassen wir Maschine für uns leben und sterben. Warum [darum] lernen Roboter so widerwillig gehen?

"Schau, daß etwas aus dir wird!" Wie habe ich sie gehaßt , diese Phrase derer, die nichts mehr vor sich haben. Wir können uns von der Parabel des Fließens ["the river flows, the wise man knows", M. Gore] nicht trennen, sie ist tröstlich wie der Regen, der uns entschuldigt, wenn wir unsere Höhlen nicht verlassen wollen. Das Synonym des Weiterkommens im Leben ist eine endlose Quelle des Luxus, der Traum vom Bewegtwerden, eben so wie uns das Schöne, das Richtige "bewegt". Doch wir sind zu träge geworden, den Bildern der Welt zu vertrauen, uns ihnen hinzugeben und uns in unseren Köpfen zu bewegen. Wieder diese zermürbende Delegation. Die Essenz des Erfolges ist nicht mehr Glück, denn jetzt "läuft es wie am Schnürchen", und wir haben Spaß "am laufenden Band". Das erklärt wohl unter anderem auch die Faszination der "weather channels" und des medialen Sports. Der Erfolg des Wetters und der Olympiaden jeder Art liegt in ihrer Unbedingtheit vom menschlichen Willen. Vielleicht ist es so banal: Der Mensch konzipiert das, was ihm gerade fehlt, denkt binär banal in Haben und Nicht-Haben. Ist er schutzlos wie ein Wurm im Jammertal zwischen Erbsünde und Fegefeuer eingekeilt, erträumt er Golem, Avalon und fliegende, gebratene Täubchen. Hängt er hingegen an der Nabelschnur, abgeschottet wie ein Tiefseetaucher, deliriert er von Ausgeliefertheit in einer drohenden Natur von kantschem Format. Dem Menschen kann es nicht recht gemacht werden [genau wie seinem Gott], darum findet man so viele hungernde Manager in der "freien" Natur und Workaholics im freien Wettbewerb der freien Welt.

Lifestyle der Gegenwart – er hat die Konzepte der Modernen, vielleicht aller Zeiten, ersetzt – kann man in zwei Determinanten beschreiben: Permanente Existenz bei punktueller Anwesenheit. Anders ist diese Manipulierbarkeit der Menschheit nicht zu erklären, anders kann ich mir die Energie nicht vorstellen, die aufgewandt wird, um Systeme der Abwesenheit zu erschaffen. Wir gehen, scheint's , gerne an den Marionettenfäden, vereinfachen die Welt bis zur Essenz eines PR-Handbuchs: Ist unser Produkt [ich] richtig, kommunizieren wir [ich] es richtig, wird es [ich] vom Kunden [ich] angenommen – lieben Sie sich?

Alles, was wir uns zurechtgebastelt haben, um mehr zu erleben, mehr zu wisssen und genauer zu erkennen, hat auch das Gegenteil erreicht. Denn die Verstärkung einer Wahrnehmung führt gleichwohl zur Schwächung oder Auslöschung der anderen. Hellhörigkeit, Weitsichtigkeit, Sensibilität und Eloquenz bedeuten zugleich Taubheit, Blindheit, Oberflächlichkeit und Sprachlosigkeit. Intensivierung überdeckt in Wahrheit, und die Welt ist wahrlich intensiv genug. Sie ist uns fern und rumort doch in unseren Ängsten. Nehmen Sie sich Zeit für den Alltag! Der Schlaf gebiert nicht Ungeheuer, er verhindert Unfug und Verbrechen. Bleiben Sie in den Daunen der Unreflektiertheit, Sie versäumen nicht allzuviel, denn: Wenn die Katze aus dem Haus ist, schlafen die klugen Mäuse.