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'Heimo Ranzenbacher
Heimo Ranzenbacher
Der Begriff "Revolution" wird in der Kunst gern überstrapaziert; und doch kommt man nicht umhin, in der Tat revolutionäre Veränderungen auszumachen. Sie finden ihren Ausdruck in der Praxis und im einschlägigen Diskurs der Auflösungstendenzen sowohl des Werk- als auch des Autorenbegriffs und der damit verbundenen Konsequenzen für ästhetische Handlungszusammenhänge.
Nach Thomas Kuhn konstruiert der Wissenschaftler seine Vorstellung von der Wirklichkeit in bezug auf bestimmte "Paradigmen". Ein Paradigma ist keine eigenständige Theorie, sondern ein Denkschema, um das herum die durch Experiment und Beobachtung erworbenen Daten angeordnet werden. Es ist weder richtig noch falsch, sondern spiegelt lediglich eine Perspektive, einen Wirklichkeitsaspekt wider. Das gilt in einem gewissen Sinn auch für die Kunst. Von Zeit zu Zeit unterliegt die Geistesgeschichte einem Paradigmenwechsel, der mit den Weltbildern auch ästhetische Theorien erfaßt. Ein solcher Wandel hat bereits eingesetzt. In der Wissenschaft vollzieht er sich in der Abkehr von dem mechanistischen-materialistischen Weltbild; in der Kunst, speziell der neuen, der Kunst des elektronischen Raumes und der postulierten Konnektivität, erlangen die Immaterialien maßgebliche Bedeutung. Damit verändern sich auch etwaige disziplinäre Kriterien. Mit den alten ist das Neue nicht zu erfassen; die neuen eignen sich nicht, auf das Alte angewendet zu werden. Sie sind nur im Verhältnis zum jeweiligen Bezugssystem relevant und können daher nicht sinnvoll gegeneinander ins Treffen geführt werden. Kulturelle bzw. paradigmatische Relevanz wird solcherart zu einer, wenn nicht zur zentralen ästhetischen Bestimmungsgröße der neuen Kunst."Beim Begriff 'Immaterial' handelt es sich um einen etwas gewagten Neologismus. Damit ist lediglich ausgedrückt, daß heute [...] das Material nicht mehr als etwas angesehen werden kann, das sich wie ein Objekt einem Subjekt entgegensetzt. Das Bewußtsein von den Immaterialien gestattet uns, den weltweiten Prozeß der Mediatisierung zu begreifen."
Jean François Lyotard, immaterialität und postmoderne, merve 1985
"Der radikale Konstruktivismus und die Theorie der Autopoiesis lehren uns, daß wir, selber aus Punkten bestehend, zu einer Ganzheit werden, die wiederum als Punkt in einer unvorstellbaren Ganzheit des Universums lebt. Das Leben ist nur partikular erfahrbar, somit jede Erkenntnis nur an etwas verifizierbar."
[Gerhard Johann Lischka, kunstforum international, Bd. 103] Die kulturelle Enzyklopädie unserer Zeit und die neuen Bedingungen einer vernetzten Existenz, die sie erfaßt, lassen es angeraten erscheinen, daß sich auch die Kunst von dem Schopenhauer'schen Principium individuationis verabschiedet. Wo das Geschick von Individuen eine Folge von Abhängigkeiten, systemischen Verstrickungen ist, werden schwerlich noch alle Verbindlichkeiten des Lebens am Los von Individuen auszulegen sein. Die Befähigung zur Auslegung selbst, die dem Künstler zugesprochen wurde, ist davon betroffen. Daß uns auch der Abschied von einer Kunst bevorsteht, der wir mehr als schieren Unterhaltungwert [Kontemplation oder die Erregung unseres an Traditionslinien disziplinierten Interesses] abverlangen, hat die Arbeitsweise des Künstlers radikal zu verändern begonnen. Die Abkehr vom Werk zugunsten des Prozesses, der in der Möglichkeit, Kreationen zu prozessieren, begründete Verzicht auf die Autorität als Kreator über die Kreation etc. hat den Blick auf diese Möglichkeiten mit Technologie als ihren Träger selbst gelenkt. Radikalisiert wird diese Arbeitsweise ebenso wie das Selbstverständnis als Künstler von "Netz-Werkern", die openX exemplarisch versammelt.
Telematische bzw. netzwerkgestützte Kunst organisiert sich, so könnte man sagen, als Versuchsanordnung für die telematische Gesellschaft; Interaktivität erweitert die starren Grenzen der Werke in fließende und führt die Gestalt als partizipatorische Größe in den Diskurs ein – oder direkt in den Prozeß über, der sich in Anerkennung oder Unterwanderung seiner systemischen Bedingungen vollzieht. Dem Selbstverständnis des Bürgers als Souverän hält der Künstler in Form der betonten Auflösung seines Autorenstatus den Spiegel des Verständnisses vor, das man sich von einer in allem zusammenhängenden Welt zu machen angehalten ist. Es konstituiert sich eine Kunst, die aus der partikularen Erfahrung heraus lebt und im Kontext agiert, dem sie dadurch zur Erscheinung verhilft.
Während in der Wissenschaft die Konsequenzen der konstitutiven Paradigmen mehr theoretischer Natur sind [das theoretische Wissen betreffen, das unser Weltbild prägt], so ist die Kunst in ihrer Praxis betroffen. Nämlich durch ihren Vollzug des Paradigmenwechsels, den die gesellschaftliche Realität sich erst zu vollziehen anschickt. Insgesamt muten die Ausformungen der Kunst wie die eines Projekts von Versuchsanordnungen für mögliche Utopien an. Experimentell skizziert durch Projekte in der Art von openX, treten sie bereits in Form einer Anerkennung technologischer Entwürfe in Erscheinung. Es scheint sich mit dieser Anerkennung das Phänomen der Selbsterfüllenden Prophezeiung einzustellen, die besagt, daß im Zuge der Assimilierung der Kultur von Technologie, diese ihre [durch Konnektivität, Immaterialität, Interaktivität und Reversibilität bekundete] informatische "Natur" als eine kulturelle etabliert.
Analog zum Funktionalismus in der für die KI-Forschung bedeutsamen Frage der Geist-Hirn-Welt-Beziehung, der nicht mehr die Frage nach der Beschaffenheit von Geist, Gehirn und Atom stellt, sondern wie sie bezüglich ihrer Funktion organisiert sind, geht es bei einer Kunst, die sich aus partikulärer Erfahrung heraus und ohne souveränen Autor organisiert, ebenfalls um die funktionelle Organisation, die Ereignisse [Prozesse] hervorruft – nicht mehr um die innere und formale Organisation von Werken [Projekten]. Sie erscheint wie Nässe, die zwar eine reale Eigenschaft von Wasser ist, die wir jedoch niemals einem einzelnen Wassermolekül zusprechen würden, und die als Phänomen erst dann auftritt, wenn sich genug Moleküle zusammenfinden oder ein ausreichender Grad von Komplexität im System "Wasser" erreicht wird. Bei diesem Bild bleibend, ist traditionelle Kunst quasi als molekular orientiert [nämlich an der symbolischen/ ikonografischen Repräsentanz von spezifischen Zuständen] zu beschreiben; die neue Kunst hingegen tritt als Erscheinung der Komplexität im System selbst zutage. Die werkorientierte Betrachtung ist dieser Komplexität nicht adäquat.
Zur Phänomenologie des Werkes zählt, daß es sich monetär beschreiben [und rechtfertigen] läßt. Es zeichnet sich zuletzt dadurch aus, daß es durch die Inanspruchnahme einer auf es abgestimmten, verwalteten, monetär beschreibbaren Infrastruktur diese speziell legitimiert. Nämlich die gesamte Repräsentanz des Betriebssystems Kunst, von den Galerien über die beamteten und "freien" Vermittler bis zu den Akademien und der Kunstgeschichte als wissenschaftliche Disziplin. Als dem Betriebssystem Kunst eingegliedert werden Kunsthochschulen, Museen, Galerien, die Archive, traditionelle Aufzeichnungs- und Vermittlungssysteme und -methoden nominiert. Darin beschreiben sich zugleich die Räume der traditionellen Kunst als Sphäre der Hegemonie über Kunst: Die der Kunstgeschichte und -verwaltung eigene Methode der Kunsterfassung generiert [durch Konzentration auf den Gegenstand der Kunst und nicht ihre Struktur, ihre strukturelle Organisation] Kunstgegenstände, die der Methode adäquat sind.
"Der Künstler" positionierte sich innerhalb dieser [strukturellen] Hegemonie. Bezeichnend ist ihre Entwicklung – von der Befreiung zur institutionalisierten Freiheit ...
In der Romantik bildete sich – im Gefolge der Aufklärung – ein neues Selbstverständnis des Künstlers heraus, das in der Befreiung von Vorschrift und Zwang in der alleinigen Verpflichtung dem eigenen Ingenium gegenüber mündete. Der Künstler als Künder einer nur ihm zugänglichen Wahrheit; die Originalität wird Mittelpunkt des Geniebegriffs. Diesem geistigen Elitedenken entsprach eine zunehmende gesellschaftliche Isolation des Künstlers. Deren Klischee bestimmt seine Stellung ungeachtet des sich abzeichnenden Bildes, das sein historisches Äquivalent im Renaissance-Künstler hat, nach wie vor. Denn der Ingenieur-Künstler hat den gesellschaftlichen Wahrnehmungshorizont noch nicht überschritten.
Eine weitere Traditionslinie leitet sich vom Verlust der Auftraggeber her, der sich durch politische und gesellschaftliche Veränderungen als Folge der Französischen Revolution ergab. Die politische Restauration richtete sich wiederum gegen fortschrittliche Künstler [wie Millet oder Daumier], diesmal gegen sein politisches Engagement für demokratische oder sozialistische Ideen.
Das Verhältnis der Kunst zu den gesellschaftlich herrschenden Kräften ist letztlich zwiespältig geblieben. Seit der Antike bedienten sich diese der Kunst zur Repräsentation, Glorifizierung und Propaganda. Erst seit dem 19. Jahrhundert, nachdem sich der Künstler von seinen traditionellen Auftraggebern [die nur zum geringen Teil durch das Bürgertum und private Mäzäne ersetzt wurden] gelöst hatte, konnte er der Vereinnahmung wirksamer begegnen. [Gewiß, die Freiheit war mit Narrenkappe und Hungertuch bekleidet.] Anerkennung erfuhr er letzten Endes durch die institutionalisierten Ausbildungsstätten, den Kunsthandel und die Kunstkritik – ein nicht nur relativ unzureichendes Instrumentarium der Förderung, sondern zugleich auch ein Instrumentarium der [begrifflichen] Vereinnahmung. Der sogenannte bürgerliche Kunstbegriff rekurriert im Grunde nur auf die "Anerkennung der Instrumente der Erfassung". Das ist seine formale Beschreibung. Stilistische und thematische Innovationen, gegen die er sich oberflächlich stemmt, tangieren sein formales Konzept in keiner Weise.
Indes walten die herrschenden Kräfte subtiler, sie fordern die Bestätigung ihrer ungebrochenen Kraft zu herrschen durch organisatorische Entsprechungen. Das Betriebssystem Kunst ist als eine dieser Entsprechungen zu interpretieren. Was für die Kunst im Gefolge der Französischen Revolution der Verlust der Auftraggeber bedeutete, wiederholt sich heute in Form der Preisgabe eines einigermaßen gesicherten Betriebssystems zugunsten der Sphäre einer allgemeinen Kulturtechnologie. Die politisch-gesellschaftliche Restauration, die in Anerkennung des Wandels erfolgt, richtet sich nunmehr nur indirekt gegen den "fortschrittlichen Künstler", als die hinter ihr stehenden Kräfte seinen Verlust der monetären und infrastrukturellen Beschreibungsmodelle, die Instrumente der Akzeptanz, zuletzt teilen. Dafür teilt sich die restaurative Kraft der informatischen Kunst in Form des Widerstands der Kräfte gegen den drohenden Wirksamkeitkeitsverlust ihrer Instrumente mit. Die Mobilisierung der restaurativen Kraft erklärt sich speziell dann, wenn man die Methodik der Institutionen zur Kunstbetrachtung [-erfassung] als Festschreibung der institutionellen Struktur erkennt. Der Unterschied zu früher ist: sie können zwar die neue Kunst ignorieren, aber nicht den Wandel. Sie würden nämlich das ihnen eigene Instrumentarium und damit ein nicht unbeträchtliches Segment ihres organisatorischen Selbstverständnisses in die Bedeutungs- und Wirkungslosigkeit entlassen. Das hieße zuletzt den bürgerlichen Kunstbegriff [sein formales Konzept], für den sie stehen, selbst zu torpetieren.
Die seit jeher existierende Zwiespältigkeit im Verhältnis von Kunst und Macht wird auf völlig neue Weise virulent. Sie kann zugleich als Indiz für die Probleme erkannt werden, die unserer Kultur allgemein durch die informationelle Revolution bevorstehen. Die Kunstgeschichte als wissenschaftliche Disziplin [und ihr anverwandte Bereiche wie die Kunstkritik] ist davon sehr direkt betroffen.
In ihrer Neuorganisation scheint die Kunst in gewisser Hinsicht noch Kriterien der kunsthistorischen Anschauung zu folgen, die seit Kants Kritik der Urteilskraft [1790] als ein grundlegendes Prinzip der Methodik der Kunstgeschichte [als wissenschaftliche Disziplin] und der ihr anverwandten Instrumente der Kunst-Erfassung gilt, der Kunstkritik, -vermittlung usw. Aber die Konsequenzen sind völlig andere.
Mit Kants [und Hegels] philosophischer Ästhetik etablierte sich eine systematische Anschauungsweise, die den Begriff der Wahrheit des Geistes in der Geschichte zum Maß nahm. Die so eingeführte Konvergenz ästhetischer Systeme und kulturhistorischer Prozesse begründete ein Beurteilungssystem im Hinblick auf die ästhetische Bedeutung [den Wahrheits-Charakter] der Kunst. In der Anerkennung dieses Prinzips fand mehr oder weniger die Entwicklung der Künste durch ihre Werke statt. Das Beurteilungssystem ging im Grunde in der Organisation des Gegenstands der Beurteilung, des Werkes, auf. Doch stieß Kunst in ihrer Entwicklung ehedem auf den Widerstand, der durch Konvention motiviert war, die sie negierte, so entzieht sie sich nunmehr, da sie den "Wahrheits-Charakter" organisatorisch realisiert, selbst dem Erfassungsradius des möglichen Widerstands in der Beurteilung. Die Prinzipien des Dualismus Beurteilungssystem [Anschauung und Betrachtung] und ästhetische Bedeutung konvergieren. Das hat insbesonders für den Status des Beobachters Folgen.
Wie Chaosforschung, Kosmologie, Informatik, die Chemie selbstorganisierender Systeme und die unbequemen Erkenntnisse der Quantenmechanik den Paradigmenwechsel im wissenschaftlichen Weltbild untermauern, gerät auch das Kunstbild nicht zuletzt durch die Einsicht ins Wanken, daß auch in diesem Bereich der Beobachter auf äußerst fundamentale Weise in die beobachtete Welt verstrickt ist. Diese Verstrickung ist in der Kunst noch einleuchtender als in der Physik, zumal die Beobachtung den Bedingungen des Erscheinens des beobachteten Gegenstands [eines Prozesses] unterworfen ist. Der Wandel [Paradigmenwechsel] manifestiert sich für den Beobachtbar nachvollziehbar gerade durch die sukzessive untauglicher werdenden traditionellen Methoden der Beobachtung. In der neuen Kunst fallen Produktion, Präsentation und Distribution ineinander; ihr Erscheinen begründet sich in der Sphäre der Konnektivität, darin Beobachtung zum prozessualen Akt mutiert.
Nicht genug, daß für die Kunstgeschichte damit das Schwinden ihrer instrumentellen Kompetenz einhergeht, sie vermag auch als im Prinzip zu den Phänomenen der Kunst objektiv positionierte Disziplin [ein Anspruch, der ohnehin genug Widerspruch auslöst] ihrem Programm gar nicht mehr zu entsprechen. Sie müßte ihre Methoden den Bedingungen des Erscheinungs- und Organisationsraumes der informatischen Kunst gegenüber öffnen und darauf eichen.
Informatische Kunst steht außerhalb des formalen bürgerlichen Kunstbegriffes, der sich durch einschlägige instrumentelle Kompetenz und Wirksamkeit definiert. Informatische Kunst exekutiert den Paradigmenwechsel, den die Gesellschaft implizite durch [notwendigen] Widerstand – nämlich zur Lösung der organisatorischen Probleme, vor der er sie stellt – anerkennt. Die Instrumente der Anerkennung von Kunst sind indes wenig geeignet, deren Paradigmenwechsel nachzuvollziehen. Kunstgeschichte, die nicht nur das Mandat des Erfassens und Beurteilens von Kunst hat, sondern damit sozioökonomische Beschreibungsmodelle des Projekts Kunst liefert, ist als Teil dieses Projekts und als Ausdruck des historischen Bewußtseins angehalten, Voraussetzungen für eine soziale und kulturelle Wahrheit neben der des Geistes in der Geschichte zu schaffen. Dieser Auftrag ist prospektiv: Denn soziale Wahrheit als Maß im Beurteilungs- und Erfassungssystem erscheint als die Wahrheit des Geistes in der Zukunft.
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