Ars Electronica, bitte einsteigen!
'Hannes Leopoldseder
Hannes Leopoldseder
Wenn John Lasseter, der vor zehn Jahren der erste Gewinner der Goldenen Nica für Computeranimation beim Prix Ars Electronica war, im September 1996 nach einem Nachtflug aus San Francisco in Wien landet und einen Frühzug nach Linz zur Verleihung seiner dritten Goldenen Nica, für "Toy Story", nimmt, ist er auf dem Wiener Westbahnhof vielleicht verwundert. "Der Eurocity, EC 562, Ars Electronica" – so hört er die Zugankündigung – "von Wien-Westbahnhof über Linz-Salzburg nach Bregenz fährt von Gleis 6 ab. Ars Electronica, bitte einsteigen, bitte Türen schließen!" Seit 1. Juni 1996 ist einer jener EC-Züge, die in Österreich die längste Strecke zurücklegen, nämlich die von Wien nach Bregenz, nach Ars Electronica, dem Festival für Kunst, Technologie und Gesellschaft benannt. Ein Spektrum der österreichischen Kulturszene – die Züge werden nicht nur nach Mozart, Kepler oder den Wiener Philharmonikern benannt, sondern auch nach Ars Electronica, einem zeitgenössischen Medienfestival, das durch seine Gründung im Jahre 1979 das traditionsreichste Festival dieser Art ist.
Das Jahr 1996, Österreichs Millenniumsjahr, ist für Ars Electronica ein weiterer Meilenstein. Mit der Eröffnung des Ars Electronica Centers als Museum der Zukunft erfährt die Entwicklung dieses Festivals einen vorläufigen Höhepunkt, gleichzeitig wird damit der Weg in die nächste Zukunft der Jahrtausendwende anvisiert. Das Festivalthema 1996 zielt allerdings noch in eine weitere Zukunft, mehr auf eine Jahrtausendzahl denn auf ein Jahrhundert.
Ausgehend von Richard Dawkins Theorie der Meme, unter denen er in Anlehnung an die Gene in einem gewissen Sinn die kulturelle DNS versteht, will sich Ars Electronica 96 – mit dem Kunstwort "Memesis" als Motto – neben dem dialogischen Bezug auch bewußt auf die Genesis berufen und damit eines der großen Themen des nächsten Jahrtausends ansprechen: die Zukunft der Evolution des Menschen, die mit dem digitalen Zeitalter in eine neue Ära eintritt. Mit der Entfaltung der virtuellen Systeme erhält die Verschränkung von Mensch und Maschine eine neue Dimension. Klangen die Ausführungen von Marvin Minsky bei Ars Electronica 1990, man werde in 50 Jahren einen Chip in die Cortex implantieren können, noch utopisch, läßt das "Things That Think"-Projekt von Nicolas Negroponte vom MIT Media Lab diese damals noch utopischen Gedanken nun bereits in eine reale Diskussionsphase rücken.
Die Auseinandersetzung mit Themen, die aus dem Spannungsfeld von Kunst, Technologie und Gesellschaft heraus unser Leben bewegen, ist eines der Charakteristika des Festivals Ars Electronica, das sich gerade auch durch diese Zielsetzung seine besondere Position innerhalb der Szene der Medienfestivals weltweit über nahezu zwei Jahrzehnte sichern konnte.
Ars Electronica 96 will aber nicht nur in seiner thematischen Orientierung über das Jahr 2000 hinauszielen, sondern präsentiert sich gleichzeitig in einem neuen Umfeld, das dem Festival selbst seine Schubkraft und seine Vitalität über die Jahrtausendwende hinaus sichern soll. Wie jedes Produkt in bestimmten Zeitrhythmen verändert werden muß, um die entsprechende Kundenattraktivität zu halten, hat auch Ars Electronica von Beginn an versucht, als Festival in bestimmten Zeitabschnitten entscheidende Neuerungen und Erweiterungen seines Wirkungsfeldes zu erreichen.
Nach den Pionierjahren der Gründung von Ars Electronica 1979 durch das Brucknerhaus Linz und durch den Österreichischen Rundfunk, Landesstudio Oberösterreich, in denen das Festival seine erste Positionierung erhält, erfährt das Festival 1986/87 durch die schärfere Thematisierung, durch die philosophische und künstlerische Ausrichtung durch Peter Weibel sowie durch den nunmehr jährlichen Rythmus und dank der Initiative des ORF zum Prix Ars Electronica als Wettbewerb für Computerkünstler eine Ausweitung und eine weitere Internationalisierung.
Zehn Jahre später erfolgt 1996 der nächste Schritt, der allerdings bereits 1992 eingeleitet wurde: Die Eröffnung des Ars Electronica Centers. Damit ist Ars Electronica nicht nur mit dem Namen eines Festivals oder mit einem Wettbewerb verbunden – oder mit dem längsten EC-Zug Österreichs von Wien nach Bregenz – sondern auch mit einer ständigen Institution in Linz, dem Ars Electronica Center, dem Museum der Zukunft.
Ars Electronica ist damit nicht mehr nur ein Ereignis, das einmal im Jahr in Linz stattfindet und zur Begegnung einlädt, sondern Ars Electronica ist täglich präsent. Das Ars Electronica Center lädt nicht nur die virtuellen Besucher im WWW ein, sondern existiert auch real als eines der ersten digitalen Mediencenter, das ein breites Publikum ebenso anspricht wie Fachexperten, die dort die Gelegenheit erhalten, sich mit den digitalen Medien in beispielhaften Projekten auseinanderzusetzen und die Möglichkeiten und Anwendungen neuer Technologien kennenzulernen.
Das Ars Electronica Center liegt an der Schnittstelle von Kunst, Technik und Wirtschaft. Das Center, das sich bewußt als "house in progress" versteht, will ein lebendiger Organismus sein und dem Publikum nicht nur Einblick in Virtual Reality, Datenvisualisierung, Netze oder in den Einsatz digitaler Medien in Bildung, Wissenschaft und Kunst geben, sondern vor allem auch aktiv zur Interaktivität einladen.
Das Ars Electronica Center will vor allem eines sein: ein Haus der Bewußtseinsbildung für den digitalen Wandel, für die Radikalität des digitalen Medienbruchs und damit für die neue digitale Kulturstufe, die sich vor uns auszubreiten beginnt.
Wir stehen in der Morgendämmerung dieser neuen Zeit. Vieles ist noch nicht sichtbar und erkennbar, vieles liegt noch verborgen, niemand weiß letztlich, wohin die digitale Revolution in einem neuen Jahrhundert führen wird. Vor zehn Jahren, zu Ars Electronica 86, habe ich in einem Aufsatz zehn Indizien für das Werden der Computerkultur darzustellen versucht. "Würden wir das Computerzeitalter auf 100 Jahre ansetzen," schrieb ich damals, "könnten wir uns vielleicht jetzt im Jahre 10 befinden. Die jetzigen Kindergartenkinder, die mit Videoclips und Homecomputer aufwachsen, werden von Anfang an den Computer als vorhandenes Instrument, als vorhandenes Werkzeug betrachten." In der Zwischenzeit sind seit 1986 zehn Jahre vergangen; wenn wir von einem Jahrhundert ausgehen, wären wir im Jahre 20. Eines hat sich in diesem letzten Jahrzehnt allerdings verändert: die neue Goldgräberzeit hat – zumindest in den USA, wenn man die Zahl der sprunghaft ansteigenden Unternehmensgründungen betrachtet – längst begonnen. Noch etwas ist in diesen zehn Jahren passiert: der Inhalt der Datenbanken der Welt übersteigt heute die Kapazität des menschlichen Gedächtnis. Wir haben den Punkt der kritischen Masse erreicht. In einem sind sich alle Prognosen einig: Die neue digitale Zeit verändert das Leben eines jeden einzelnen. "Wir werden die Welt", sagt Peter F. Drucker, "nach einer Generation nicht wiedererkennen."
Das Ars Electronica Center, vor allem das Festival Ars Electronica, geht von der Kunst aus: Kunst erweist und versteht sich mehr denn je als Sensor für neue Entwicklungen, die schließlich das ganze Leben umfassen. In diesem Sinne versteht sich das Ars Electronica Center als "Evangelist": als Evangelist für die digitale Zeit der Virtuellen Realität, des Cyberspace und der Evolution der Kommunikation, in der erstmals die Qualität des Geistes verstärkt wird, im Gegensatz zu den bisherigen Tools, die Verstärker unseres Körpers waren.
Ars Electronica, Prix Ars Electronica und Ars Electronica Center bilden ein Triangel, um Linz damit verstärkt positionieren zu können.Wie jedes neue Medium bestimmte Orte hervorgebracht hat – der Buchdruck die Bibliotheken, das Telefon die Telefonzelle, der Film das Kino oder wie das Fernsehen jedes Wohnzimmer verändert hat –, wird die digitale Medienkultur ebenfalls neue Plätze, neue Orte, neue Einrichtungen schaffen: das Ars Electronica Center will ein Prototyp eines solchen Ortes der neuen digitalen Kulturstufe sein. Linz will damit die Vorreiterrolle der Ars Electronica weiter ausbauen und sich durch das Ars Electronica Center als Prototyp eines neuen Kraftortes digitaler Kultur festigen.
Die Ars Electronica Aktivitäten von Linz umfassen daher fast zwei Jahrzehnte, von 1979 – einer Zeit, in der gerade der Personal Computer im Aufbruch war – bis 1996 – einer Zeit, in der das Internet dabei ist, alle bisherigen Medien in sich zu vereinen und damit der neuen digitalen Ära voll zum Durchbruch zu verhelfen: sei es in der bisherigen Vernetzungstruktur oder in der Vision von Craig McCaw mit "Teledesic" und den 840 Satelliten, die ab 2002 in einer Höhe von 435 Meilen die Erde umkreisen und Internet in Breitbandqualität an jedem Punkt der Erde zugänglich machen sollen.
Mit der Errichtung des Ars Electronica Centers werden auch die Aktivitäten der Ars Electronica neu organisiert: Wurde bisher Ars Electronica von Brucknerhaus Linz, einer städtischen Kultureinrichtung, und dem ORF organisiert, werden künftig innerhalb der Stadt Linz die Aktivitäten der Ars Electronica in der Ars Electronica Center Betriebsgesellschaft zusammengeführt. Mitveranstalter des Festivals Ars Electronica ist, so wie bisher, der Österreichische Rundfunk, Landesstudio Oberösterreich, der als besonderen Schwerpunkt innerhalb des Festivals den Prix Ars Electronica betreut. Das Ars Electronica Center geht ebenfalls als Projektidee auf den ORF zurück, der damit bewußt seine Rolle als Impulsgeber im Bereich der digitalen Medienaktivitäten vorantreiben will.
Die Geschichte des Ars Electronica Centers reicht nahezu fünf Jahre zurück, also in eine Zeit, in der WWW, Netscape oder Yahoo noch nicht erfunden waren.
Das Ars Electronica Center basiert auf einer von mir 1992 vorgelegten Projektidee, für deren Realisierung sich die Stadt Linz im Zuge der Nutzungsdiskussion des bereits planmäßig bestehenden Gebäudes Donautor der Architekten W. H. Michl und K. Leitner nach einem Hearing und einer Präsentation von insgesamt fünf Projektideen im März l992 entschieden hat. Daraufhin wurde ART+COM, Berlin, unter Prof. Edouard Bannwart mit einer Machbarkeitsstudie beauftragt. Die Projektleitung lag bei Mag.Siegbert Janko, Stadt Linz, und Dr. Hannes Leopoldseder, ORF. Aufgrund der Machbarkeitsstudie entschied die Stadt Linz im März 1993, das Ars Electronica Center mit einem Kostenaufwand von 180 Millionen zu errichten, wobei sich das Land Oberösterreich mit 30% und der Bund mit 10% in Form eines ERP-Kredites beteiligten. Mit dem Bau des AEC wurde die Bau-und Errichtungsgesellschaft der Stadt Linz mit ihrem Geschäftsführer Dipl.Ing. Fritz Angerhofer beauftragt. Für die Innengestaltung ist Architekt Rainer Verbizh verantwortlich. Für den Betrieb des Ars Electronica Centers wurde 1995 die Ars Electronica Center Betriebsgesellschaft ins Leben gerufen. Zum Geschäftsführer wurde mit Juli 1995 der Medienkünstler Gerfried Stocker bestellt. Gerfried Stocker ist sowohl für den Betrieb des Ars Electronica Center verantwortlich, als auch, gemeinsam mit Dr. Christine Schöpf vom ORF, für das Festival Ars Electronica.
Ein digitales Mediencenter wie das Ars Electronica Center bedarf in besonderer Weise auch der Kooperation und der Partnerschaft der Industrie, insbesondere im Elektronik-und Technologiebereich.
Die wichtigsten Partner des Ars Electronica Centers sind: Creditanstalt, Digital Equipment, Hewlett Packard, Microsoft, Österreichische Brau AG, ORF, Oracle, Quelle AG, Ericsson Austria, Siemens Nixdorf und Silicon Graphics.
Mit dem Triangel Ars Electronica, Prix Ars Electronica und Ars Electronica Center will sich Linz nicht nur regional, sondern weltweit im Cyberspace positionieren. Das Ars Electronica Triangel von Linz zielt schließlich darauf ab, den digitalen Wandel unserer Kultur hin zu einer kognitiven Gesellschaft, deren entscheidende Ressource das Wissen ist, im Einklang mit den wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten zu bewältigen.
Für Linz ist Ars Electronica Vorreiter und Zukunftssignal für diesen Wandel geworden, der für diese Stadt, so wie für viele andere Städte und Regionen, parallel verläuft mit der Entwicklung einer Eisen-und Stahlmetropole zur modernen Industriestadt, die heute Stahlerzeugung mit Recht als High-Tech-Unterfangen versteht. Ars Electronica personifiziert die Zukunftsorientierung dieser Stadt an der Schwelle zur neuen Kulturstufe der Jahrtausendwende.
Für Österreich ist Ars Electronica ein Botschafter nach außen, der das traditionelle Bild von Österreichs Kultur erweitert. Der Prix Ars Electronica als Auszeichnung für digitale Medien erfährt daher beispielsweise besonders in den USA eine ungewöhnlich positive Aufnahme, kommt er doch aus einem europäischen Land, in dem die "Kultur" auf eine lange Tradition zurückblicken kann.
Der Prix Ars Electronica ist seit zehn Jahren dank seiner Kontinuität, seiner künstlerischen Entscheidungskriterien, dank seiner medialen Gesamtwirkung - von Buchpublikationen über Ausstellungen und TV-Dokumentationen – zu einem Sensor für die künstlerischen Entwicklungen im digitalen Medienbereich geworden. Vor allem auch deshalb, weil jeweils neue Kategorien, entsprechend der Medienentwicklung, aufgenommen wurden, wie 1995 das World Wide Web.
Seit 1979 hat Ars Electronica in der Welt der "Electronic Community" viele Freunde gewonnen. Ars Electronica hat für viele den "Spirit of Linz" geschaffen, um mit dem ersten Preisträger der Goldenen Nica in der Computergrafik, Brian Reffin Smith, zu sprechen. Es ist ein Treffpunkt von Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Bereichen geworden: aus der Wissenschaft, der Kunst, Philosophie, aber auch Wirtschaft.
Mit der Goldenen Nica des Prix Ars Electronica sind seit 1987 insgesamt weit über eine Million Dollar an Preisgeldern an digitale Künstler gegangen, ein Betrag, der kaum anderswo in dieser Kontinuität direkt den Neuen Medien und ihren Gestaltern gewidmet wurde. An dieser Stelle ist all jenen Unternehmen zu danken, die in diesen Jahren durch die Förderung des Prix Ars Electronica dazu beigetragen haben: Siemens AG, Kapsch AG, Austria Tabak AG, Gerhard Andlinger Foundation, VOEST-ALPINE Stahl AG and Siemens Nixdorf.
Für den Österreichischen Rundfunk bedeutet das Ars Electronica Center einen Markstein im Engagement und in den Initiativen zu den Ars Electronica Aktivitäten seit 1979. Mit diesem Engagement will der ORF bewußt seine offensive Haltung im Zusammenhang mit den digitalen Medien, den Herausforderungen, die daraus für alle bisherigen Medien erwachsen, zum Ausdruck bringen. Gleichzeitig ist für den ORF sein Einsatz für das Ars Electronica Center eine Einladung an das Publikum der Zukunft, eine Einladung zum Kennenlernen der neuen Medienwelt, die sich vor uns auszubreiten beginnt. Darüber hinaus wird der ORF, zusätzlich zum Festival Ars Electronica, mit dem Ars Electronica Center als Partner weitere gemeinsame Projekte realisieren, sei es auf dem Gebiet künstlerischer Medienprojekte, sei es in der Ent-wicklungsarbeit bei der Nutzung der ATM-Strecke zwischen dem Ars Electronica Center und dem Rundfunkstudio, sei es in der Zusammenarbeit bei der Produktion von Radio- und Fernseh-programmen.
Die Geschichte der medialen Kommunikation bewegt sich in säkularen Zeiträumen – von den Höhlenmalereien über Gutenberg zu Telegraf, Telefon, Radio, Fernsehen und schließlich zum Universalmedium Computer, der die bisherigen Medien wie ein Werwolf aufzufressen scheint. Damit beginnt alles neu. Neue Speicherung, neue Übermittlung, neues Design, neue Formate, eine neue Gesellschaft. Dies alles braucht zur Manifestation neue Orte. Die digitale Ära mit ihrem universalen Medium, mit ihrem Online-Sein, schafft neue Orte, neue Plätze, neue Häuser. Wenn das neue Zeitalter des Digitalen über die Standorte der Elektronik-Industrie hinaus neue Kraftzentren der gesellschaftlichen Reflexion dieses digitalen Wandels benötigt, die ein Knoten in der realen Welt sind, gleichzeitig aber auch ein Knoten und Ansprechpartner im Cyberspace, dann will Linz mit seinem Ars Electronica Center Prototyp, Testfeld und Einladung an alle sein, die mit Optimismus und kritischer Reflexion der neuen Ära der digitalen Kultur begegnen.
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