Mind Viruses
'Richard Dawkins
Richard Dawkins
Computerviren sind Codestücke, die sich in bestehende, funktionierende Programme einschleusen und die normalen Abläufe dieser Programme durcheinanderbringen. Sie können sich über ausgetauschte Disketten und über Netzwerke verbreiten.
DNS-Viren und Computerviren verbreiten sich aus demselben Grund: Es existiert eine Umwelt, deren Geräte gut dafür geeignet ist, diese Viren zu duplizieren und zu verbreiten und die in ihnen verkörperten Instruktionen zu befolgen. Diese Umwelt ist im einen Fall die Umwelt der Zellphysiologie und im anderen jenes Environment, das die große Gemeinschaft der Computer und Datenverarbeitungsgeräte darstellt. Gibt es noch weitere derartige Umwelten, weitere derart üppige Replikationsparadiese?
Wir stecken zwar keine Disketten in anderer Leute Kopfschlitze, aber wir tauschen Sätze aus, nicht nur über die Ohren, sondern auch über die Augen. Wir nehmen den Bewegungs- und Kleidungsstil des anderen wahr und lassen uns davon beeinflussen. Wir nehmen Werbesprüche auf und lassen uns davon wohl auch überzeugen, denn sonst würden nüchterne Geschäftsleute nicht so viel Geld ausgeben, um mit ihnen den Äther zu verschmutzen.
Nehmen Sie die zwei Eigenschaften, die ein Virus oder ein anderer parasitärer Replikator von einem freundlich gesinnten Medium verlangt, jene zwei Eigenschaften, die Zellapparate so freundlich gegenüber parasitischer DNS und Computer so freundlich gegenüber Computerviren sein lassen. Diese Eigenschaften sind erstens die Bereitschaft zur getreuen Replikation von Information, manchmal zwar mit ein paar Fehlern, die aber in weiterer Folge ebenso getreu repliziert werden; und zweitens die Bereitschaft, den Anweisungen zu folgen, die in der so replizierten Information kodiert sind.
Zellapparate und Elektronenrechner besitzen beide virusfreundliche Eigenschaften im Überfluß. Wie hält das menschliche Gehirn da mit? Als getreuer Kopierer ist es zweifellos weniger vollkommen als Zellen oder Computer. Dennoch ist es immer noch ziemlich gut, in etwa so exakt wie ein RNA-Virus, aber nicht so gut wie die DNS mit all ihren ausgetüftelten Korrekturmaßnahmen gegen Textverstümmelungen. Einen Beleg für die Verläßlichkeit des Gehirns, vor allem des Kindergehirns, als Datenkopierer liefert uns die Sprache. Shaws Professor Higgins konnte Londonern mit nacktem Ohr die Straße anhören, in der sie aufgewachsen sind. Obgleich Dichtung nicht als Beweis gelten kann, wissen wir doch alle, daß Higgins’ Kunstfertigkeit nur die Übertreibung von etwas ist, wozu wir alle fähig sind. Jeder Amerikaner kann Südstaatler und Mittelwestler, Neuengländer und Hillbillys unterscheiden. Jeder New Yorker kennt Bronx und Brooklyn auseinander. Und entsprechende Beispiele ließen sich auch für jedes andere Land erbringen. Was dieses Phänomen besagt, ist, daß menschliche Gehirne zu ziemlich genauem Kopieren fähig sind [sonst wären die Akzente von Newcastle zum Beispiel nicht stabil genug, um wiedererkannt zu werden], jedoch auch ein paar Fehler machen [sonst würde sich die Aussprache nicht weiterentwickeln, und sämtliche Sprecher einer Sprache hätten von ihren fernen Vorfahren die haargenau gleichen Akzente geerbt]. Die Sprache entwickelt sich weiter, weil sie sowohl die hohe Stabilität wie auch die geringfügige Veränderlichkeit aufweist, die Voraussetzung für jedes evolvierende System sind.
Auch die zweite Bedingung für eine virusfreundliche Umwelt – daß sie ein Programm kodierter Anweisungen befolgt – trifft auf Gehirne nur in quantitativ geringerem Maße zu als auf Zellen oder Computer. Manchmal befolgen wir gegenseitige Aufforderungen und manchmal auch nicht. Dennoch ist es bezeichnend, daß die Kinder auf der ganzen Welt gröfltenteils der Religion ihrer Eltern folgen und nicht irgendeiner der anderen verfügbaren Religionen. Die Anweisungen, sich niederzuknien, sich in Richtung Mekka zu verbeugen, sich rhythmisch vor einer Mauer zu verneigen, sich wie ein Wahnsinniger zu schütteln, "in Zungen" zu reden – allein die Liste solcher von der Religion empfohlenen beliebigen und sinnlosen Bewegungsmuster ist schon endlos -, werden, wenn auch nicht sklavisch, so doch wenigstens mit einer annehmbaren statistischen Wahrscheinlichkeit befolgt.
Ein weniger ehrwürdiges – und wiederum besonders bei Kindern ausgeprägtes – Verhaltensbeispiel, das mehr der Epidemiologie als einer rationalen Entscheidung zuzuschreiben ist, ist das, was wir einen "Fimmel" nennen: Jo-Jos, Hula-Hoop-Reifen und Pogostöcke mit den dazugehörigen festen Verhaltensweisen grassieren in den Schulen oder springen – sporadischer – von Schule zu Schule in Mustern über, die sich in keinem wesentlichen Detail von denen einer Masernepidemie unterscheiden. Vor zehn Jahren hätte man tausende Meilen quer durch die USA reisen können, ohne auch nur eine verkehrt getragene Baseballmütze zu sehen. Heute ist die verkehrt getragene Baseballmütze allgegenwärtig. Ich weiß nicht, wie das geographische Verbreitungsmuster verkehrt getragener Baseballmützen genau verlaufen ist, sicher aber gehört die Epidemiologie zu den am besten geeigneten Disziplinen, um das herauszufinden. Wir brauchen keinen Streit über "Determinismus" zu führen; wir brauchen nicht zu behaupten, Kinder wären gezwungen, die Hutmode ihrer Mitschüler zu imitieren. Es genügt die Tatsache, dafl ihr Huttrageverhalten statistisch vom Huttrageverhalten ihrer Mitschüler beeinflußt wird.
So trivial sie auch sind, diese Fimmel liefern uns also weiteres Belegmaterial dafür, daß das menschliche Bewußtsein – vor allem vielleicht das kindliche – Eigenschaften aufweist, die wir als wünschenswert für einen Informationsparasiten klassifiziert haben. Zumindest ist das Bewußtsein ein Kandidat dafür, von so etwas wie einem Computervirus angesteckt zu werden, auch wenn es nicht gerade – wie etwa ein Zellkern oder Elektronenrechner – die Traumumgebung für einen solchen Parasiten darstellt.
Die weitere Entwicklung effizienterer Bewußtseinsparasiten wird zwei Aspekte aufweisen. Es wird immer mehr neue "Mutanten" [ob zufällig oder vom Menschen erzeugt] geben, die sich besser ausbreiten. Es wird zu einer Zusammenrottung von Ideen kommen, die jeweils in der Gegenwart der anderen gedeihen, Ideen, die einander – so wie Gene und, eines Tages, wie ich spekuliert habe, vielleicht auch Computerviren – unterstützen. Wir erwarten, daß Replikatoren in zusammenpassenden Banden gemeinsam die Runde von Gehirn zu Gehirn machen werden. Diese Banden werden Pakete bilden, die stabil genug sind, um einen gemeinsamen Namen wie "Katholizismus" oder "Voodoo" zu verdienen. Es macht nicht allzuviel aus, ob wir das ganze Paket oder jedes seiner Bestandteile mit einem Einzelvirus vergleichen. Die Analogie ist ohnehin nicht so exakt, und genauso ist der Unterschied zwischen einem Computervirus und einem Computerwurm nichts, wovon man großes Aufheben machen müßte. Entscheidend ist, daß ein Bewußtsein eine freundliche Umgebung für parasitäre, selbst-replizierende Ideen oder Informationen ist und daß es üblicherweise massiv infiziert ist.
Erfolgreiche Bewußtseinsviren sind wie Computerviren für ihre Opfer eher schwer zu entdecken. Wer einem Virus zum Opfer fällt, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst nicht wissen und vielleicht sogar heftig bestreiten. Räumt man ein, daß ein Virus im eigenen Bewußtsein schwer zu entdecken ist, nach welchen verräterischen Zeichen könnte man dann Ausschau halten? Ich stelle mir in meiner Antwort vor, wie ein medizinisches Lehrbuch die typischen Symptome eines [hier willkürlich als männlich angenommenen] Befallenen beschreiben würde.- Der Patient fühlt sich im klassischen Fall von einer tiefen inneren Überzeugung getrieben, daß etwas wahr, richtig oder moralisch sei: eine Überzeugung, die sich offenbar auf keinen Beweis oder Vernunftgrund stützt, die aber dennoch als absolut zwingend und schlüssig empfunden wird. Wir Ärzte nennen eine solche Überzeugung "Glaube".
- Der klassische Patient macht aus der Stärke und Unerschütterlichkeit seines Glaubens eine Tugend – ungeachtet der fehlenden Beweise. Er kann den Glauben sogar als umso tugendhafter empfinden, je weniger Beweise dafür vorhanden sind.
- Ein weiteres Symptom, das Glaubensbefallene mitunter aufweisen, ist die Überzeugung, daß ein "Mysterium" an sich eine gute Sache sei. Es ist nichts Lobenswertes, Mysterien aufzuklären, wir sollten sie eher genießen, in ihrer Unauflöslichkeit schwelgen.
Jeder Antrieb zur Aufklärung von Mysterien könnte der Ausbreitung eines Bewußtseinsvirus ernsthaft im Wege stehen. Es würde daher nicht überraschen, wenn der Gedanke, daß man "Mysterien besser nicht aufklärt", ein besonders beliebtes Mitglied einer Bande von sich gegenseitig stützenden Viren wäre. Nehmen wir das "Mysterium der Wandlung". Es ist weder schwer noch irgendwie mysteriös zu glauben, daß sich der Wein der Eucharistie in einem symbolischen oder metaphorischen Sinn in das Blut Christi verwandelt. Die römisch-katholische Lehre von der Transsubstantiation behauptet allerdings viel mehr. Der Wein wird in seiner "gesamten Substanz" in das Blut Christi verwandelt; der Fortbestand des Weins ist ein "rein akzidentelles" Erscheinungsbild, dem "keinerlei Substanz zugrundeliegt" [Kenny, 1986, S. 72]. Die Transsubstantiation wird umgangssprachlich so erklärt, daß der Wein "buchstäblich" in das Blut Christi verwandelt wird. Ob in seiner undurchsichtigen aristotelischen oder in seiner direkteren umgangssprachlichen Form – die Behauptung der Transsubstantation läßt sich jedenfalls nur aufstellen, wenn wir der Normalbedeutung von Wörtern wie "Substanz" oder "buchstäblich" ziemliche Gewalt antun. Es ist keine Sünde, Wörter umzudefinieren. Wenn wir dafür aber Wörter wie "gesamte Substanz" oder "buchstäblich" hernehmen, welche Wörter verwenden wir dann, wenn wir wirklich und wahrhaft sagen wollen, daß etwas tatsächlich passiert ist? So hat Anthony Kenny über seine eigene Verwirrung als junger Seminarist bemerkt: "Soviel ich verstand, hätte meine Schreibmaschine ein transsubstantiierter Benjamin Disraeli sein können ..."
Katholiken, deren Glaube an eine unfehlbare Autorität sie zu akzeptieren zwingt, daß sich Wein wider allen Anschein physisch in Blut verwandelt, nennen es das "Mysterium" der Wandlung. Es als Mysterium zu bezeichnen, bringt also alles in Ordnung. Zumindest bei einem Geist, der durch Hintergrundinfektion gut präpariert ist. Genau derselbe Trick wird beim "Mysterium" der Dreifaltigkeit angewandt. Mysterien sollen nicht aufgeklärt werden, sie sollen Ehrfurcht erwecken. Die "Mysterium-ist-Tugend"-Idee hilft Katholiken aus der Klemme, die die Verpflichtung, den offensichtlichen Unsinn der Transsubstantiation oder des "Drei-in-Einem" zu glauben, sonst unerträglich finden würden.
Ein schweres Symptom einer "Mysterium-ist-Tugend"-Infektion ist das "Certum est quia impossibile est" ["Es ist gewiß, weil es unmöglich ist"] des Tertullian. Da lauert schon der Wahnsinn. Man möchte Lewis Carrolls Weiße Königin zitieren, die auf Alice’ "etwas Unmögliches kann man nicht glauben" erwidert: "Du wirst darin eben noch nicht die richtige Übung haben ... in deinem Alter habe ich täglich eine halbe Stunde darauf verwendet. Zuzeiten habe ich vor dem Frühstück bereits bis zu sechs unmögliche Dinge geglaubt." Oder Douglas Adams elektrischen Mönch, einen arbeitssparenden Automaten, der darauf programmiert ist, einem das Glauben abzunehmen, und der imstande ist, "Dinge zu glauben, die man nicht einmal in Salt Lake City glauben würde". Wie er dem Leser vorgestellt wird, glaubt er gerade allem Anschein zum Trotz, daß alles auf der Welt einen einheitlichen Rosaton hat. Aber weiße Königinnen und elektrische Mönche sind lang nicht mehr so witzig, wenn man bemerkt, daß sich diese Glaubensvirtuosen in nichts von angesehenen, realen Theologen unterscheiden. "Man muß es unter allen Umständen glauben, weil es absurd ist" [erneut Tertullian]. Sir Thomas Browne [1635], der Tertullian zustimmend zitiert, geht noch weiter: "Mir scheint, für einen aktiven Glauben fehlt es der Religion an Unmöglichkeiten." Und: "Ich habe den Wunsch, meinen Glauben in der allerschwierigsten Sache auszuüben; denn das Alltägliche, Sichtbare zu glauben, ist kein Glaube, sondern Überredung."
- Der Befallene verhält sich manchmal intolerant gegenüber Überträgern rivalisierender Glaubensrichtungen; im Extremfall tötet er sie sogar oder tritt für ihren Tod ein. Ähnlich gewalttätig reagiert er auch auf Apostaten [Menschen, die den Glauben einmal hatten, ihn aber abgelegt haben] oder auf Häretiker [Menschen, die eine abweichende – vielleicht bezeichnenderweise meist nur leicht abweichende – Version der Glaubens vertreten]. Manchmal entwickelt er auch feindselige Gefühle gegenüber anderen Denkweisen, die seinem Glauben potentiell schaden könnten, wie etwa die Methode wissenschaftlicher Vernunft, die eher wie eine Antivirus-Software wirkt.
- Der Patient entdeckt vielleicht, daß die speziellen, von ihm geglaubten Überzeugungen zwar auf keiner Evidenz beruhen, dafür aber einiges der Epidemiologie verdanken. Warum, so fragt er sich vielleicht, halte ich genau an diesen und nicht irgendwelchen anderen Überzeugungen fest? Etwa deshalb, weil ich mir alle Glaubensrichtungen dieser Welt angesehen und dann die mit den überzeugendsten Ansichten ausgesucht habe? Fast mit Sicherheit nicht. Wenn man einen Glauben hat, wird es mit überwältigender statistischer Wahrscheinlichkeit der sein, den auch schon die Eltern und Großeltern hatten. Zweifellos helfen emporragende Kathedralen, aufwühlende Musik, bewegende Geschichten und Gleichnisse ein wenig mit. Aber die bei weitem wichtigste Variable, die bestimmt, welche Religion jemand hat, ist der Zufall der Geburt. Die Glaubensinhalte, von denen man so leidenschaftlich überzeugt ist, wären ganz andere, und weitgehend entgegengesetzte, gewesen, wäre man zufällig an einem anderen Ort geboren. Epidemiologie also, nicht Evidenz.
- Ist der Patient eine der seltenen Ausnahmen, die einer anderen Religion als der ihrer Eltern folgen, kann die Erklärung immer noch eine epidemiologische sein. Sicherlich könnte er sich die Religionen der Welt nüchtern angesehen und die überzeugendste davon ausgesucht haben. Doch ist es statistisch wahrscheinlicher, daß er einem besonders infektiösen Überträger – einem John Wesley, einem Jim Jones oder einem Apostel Paulus – ausgesetzt war. In diesem Fall liegt, wie bei Masern, horizontale Übertragung vor. Davor hatten wir es, wie bei der Huntington-Chorea, mit der Epidemiologie der vertikalen Übertragung zu tun.
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