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Die Evolution der Meme im Netzwerk


'Francis Heylighen Francis Heylighen

MEME ALS REPLIKATOREN
Ein wesentliches Merkmal der Gene, der biologischen Informationseinheiten, ist, daß sie sich replizieren: Sie stellen Kopien von sich selbst her und verbreiten und vermehren sich auf diese Art und Weise. Manchmal schleichen sich Mutationen oder Kopierfehler ein, die abweichende Varianten hervorbringen. Nur die besten oder "angepaßtesten" werden sich weit verbreiten. Das ist der natürliche Selektionsprozeß, der untaugliche Gene ausscheidet. Variation und Selektion zusammen bringen Evolution hervor, die ständige Erzeugung neuer, immer besser angepaßter Gene.

Richard Dawkins [1976] stellte die These auf, daß ein ähnlicher Mechanismus auch bei kulturellen Informationen zum Tragen kommt. Ideen, Gewohnheiten und Traditionen werden von Individuum zu Indviduum weitergegeben. Diesen Prozeß kann man als Replikation interpretieren: Im Gedächtnis eines zweiten Individuums wird eine [möglicherweise fehlerhafte] Kopie der Information angelegt. Die Einheiten dieses kulturellen Replikationsprozesses nannte Dawkins "Meme". Praktisch alle kulturellen Entitäten sind Meme: Bilder, Bücher, Gedichte, Theorien, Religionen, Sprache, Melodien, Gerüchte usw. Es genügt, wenn das grundlegende Informations- oder Verhaltensmuster kopiert wird, d. h. wenn eine Person die Gewohnheiten oder Stile anderer imitiert, die Gedanken anderer lernt oder Kunstwerke reproduziert. Wie Gene können sich auch kulturelle Varianten mehr oder weniger erfolgreich in der Population verbreiten. Sie erleben also eine natürliche Selektion und somit eine Evolution.

Für einen erfolgreichen Replikator führt Dawkins folgende Merkmale an:
  1. Wiedergabe-Treue: Je getreuer die Kopie, desto mehr bleibt nach einigen Kopiervorgängen vom ursprünglichen Muster übrig. Reproduziert man ein Gemälde, indem man Fotokopien von Fotokopien macht, wird das Grundmuster bald unkenntlich sein;


  2. Fruchtbarkeit: Je höher die Kopierrate, desto schneller wird sich der Replikator verbreiten. Eine Industrie-Druckmaschine kann wesentlich mehr Kopien eines Textes in Umlauf bringen als ein Bürokopierer.

  3. Langlebigkeit: Je länger jedes Exemplar des Replikationsmusters überlebt, umso mehr Kopien können davon gemacht werden. Eine in den Sand geritzte Strichzeichnung wird vermutlich gelöscht sein, ehe sie jemand fotografieren oder sonstwie reproduzieren kann.
In dieser allgemeinen Hinsicht gleichen Meme Genen und anderen Replikatoren wie Computerviren oder Kristallen. Doch gilt die genetische Metapher für den kulturellen Übertragungsvorgang nur beschränkt. Gene sind nur von Eltern auf Kinder übertragbar. Meme können zwischen zwei beliebigen Individuen übertragen werden ["multiple Elternschaft"]. Die Genübertragung benötigt eine Generation. Meme replizieren sich in Minuten. Dagegen besitzen Meme meist eine viel geringere Wiedergabe-Treue. Wenn man eine Geschichte verbreitet, indem man sie von Person zu Person weitergibt, wird sich die Endfassung vom Original vermutlich beträchtlich unterscheiden. Es ist diese Variabilität oder Unschärfe, die die kulturellen Muster wohl am meisten von den DNS-Strukturen unterscheidet: Jede individuelle Version einer Idee oder Überzeugung wird in irgendeiner Hinsicht anders sein. Das macht es schwer, Meme zu definieren oder einzugrenzen.

Es gibt mehrere Selektionskriterien, die entscheiden, wie erfolgreich ein bestimmtes Mem sein wird. Je mehr dieser Kriterien ein Mem erfüllt, desto eher wird es durchhalten und sich verbreiten [Heylighen, 1993]. Ob das von einem Mem vermittelte Wissen Ereignisse der Außenwelt verläßlich vorhersagt, bestimmen objektive Kriterien. Wie weit jemand bereit ist, ein bestimmtes Mem zu assimilieren, bestimmen subjektive Kriterien. Zu diesen gehören:
  1. Kohärenz: Das Mem ist in sich konsistent und widerspricht auch nicht den anderen, bereits vorhandenen Überzeugungen eines Individuums;


  2. Neuigkeitswert: Das Mem fügt etwas Neues, Bemerkenswertes hinzu, das die Aufmerksamkeit der Person erregt;


  3. Einfachheit: Es läßt sich einfach begreifen und behalten;


  4. Individuelle Nützlichkeit: Das Mem hilft der Person, ihre Ziele zu verfolgen.
    Wie leicht Meme von Subjekt zu Subjekt wandern, bestimmen intersubjektive Kriterien.
    Zu ihnen gehören:


  5. Auffälligkeit: Das Mem ist von anderen leicht wahrzunehmen, weil es z. B. laut ausgerufen wird oder auf großen Plakaten gedruckt steht;


  6. Ausdrückbarkeit: Das Mem läßt sich gut in Sprache oder anderen Kommunikationscodes ausdrücken;


  7. Formalisierungsgrad: Die Interpretation des Mem-Ausdrucks hängt kaum von der Person oder vom Kontext ab;


  8. Ansteckungsvermögen: Die individuellen Träger des Mems tendieren dazu, es "weiterzugeben", anderen zu lehren, sie zu ihrem Glauben zu bekehren;


  9. Konformismus: Das Mem wird vom Glauben der Mehrheit gefördert;


  10. Gemeinnützigkeit: Das Mem nützt der Gruppe, ohne unbedingt dem Einzelnen nützen zu müssen [z. B. Verkehrsregeln].
Die Geninformation eines Organismus bildet seinen Genotyp. Sein Körper, der sich aus der Interaktion von Genotyp und Umwelt entwickelt, bildet seinen Phänotyp. Die Entsprechung des Phänotyps bei den Memen ist der Soziotyp, die konkrete Organisation jener Menschengruppe, die Träger einer Sammlung von Memen oder eines Memotyps ist. Wenn der Memotyp etwa die Gesamtheit der mormonischen Glaubensinhalte ist, dann wäre der Soziotyp die Gruppe aller Mormonen. Da ein Mem unschärfer als ein Gen ist, ist auch ein Soziotyp unschärfer als ein Phänotyp; es ist überhaupt unklar, wie sich eine Gruppe von Mem-Trägern eingrenzen läßt [Heylighen & Campbell, 1995].
MEME IM NETZ
Der obige Überblick skizziert die Eigenschaften von Memen im allgemeinen, ob es sich nun um wissenschaftliche Theorien, Religionen, Musikstile oder den Gebrauch von Geräten handelt. Es ist jedoch offensichtlich, daß die Medien, über die Meme mitgeteilt werden – etwa wissenschaftliche Zeitschriften, Predigten oder Radiosender –, einen starken Einfluß auf deren letztliche Verbreitung haben. Das gegenwärtig bedeutendste Medium ist das entstehende globale Computer-Netzwerk, das jede Information in einer praktisch vernachlässigbaren Zeitspanne an jeden Ort des Planeten übertragen kann.

Die stark verbesserte Übertragungseffizienz hat direkte Auswirkungen auf die Replikationsdynamik. Die Mem-Übertragung im Netzwerk weist eine wesentlich höhere Wiedergabe-Treue auf als die Kommunikation per Bild, Ton oder Wort. Im Gegensatz zu den analogen Methoden der Fotokopie, des Films oder der Tonaufnahme, läßt die Digitalisierung eine Informationsübertragung ohne Verluste zu. Auch die Fruchtbarkeit wird enorm erhöht, da Computer in kürzester Zeit tausende Kopien einer Nachricht herstellen können. Und schließlich verlängert sich auch die potentielle Lebensdauer, da die Information unbeschränkt auf Disketten oder in Archiven gespeichert werden kann. Diese drei Eigenschaften zusammen sorgen dafür, daß sich Meme über die Netzwerke viel effizienter replizieren können. Das macht die korrespondierenden Memo- und Soziotypen potentiell weniger unscharf. Außerdem liegt das Netzwerk jenseits geographischer und kultureller Grenzen. Das bedeutet, daß neue Entwicklungen nicht erst, wie z. B. Moden oder Gerüchte, vom Zentrum nach außen durchsickern müssen. Ein solcher Diffusionsprozeß kann leicht durch verschiedene physische oder sprachliche Barrieren gestoppt werden. Im Netz kann eine Idee praktisch gleichzeitig in verschiedenen Teilen der Welt auftauchen und sich unabhängig von der Entfernung zwischen Sender und Empfänger ausbreiten.

Das einfachste Beispiel eines Mems, das diese Netzwerk-Eigenschaften ausnutzt, ist der Kettenbrief: eine an verschiedene Menschen verschickte Nachricht mit der ausdrücklichen Aufforderung, diese zu kopieren und weiterzuverbreiten. Der Antrieb dazu ist die Aussicht auf Belohnung, wenn man der Aufforderung nachkommt [und Bestrafung, wenn man es nicht tut]. Papierkettenbriefe sind oft schlecht lesbare Fotokopien oder viele Male per Hand oder Maschine abgeschriebene Manuskripte – unter Hinzufügung von Unmengen orthographischer und semantischer Fehler. Der Kopier- und Distributionsaufwand beschränkt zudem die Kopienanzahl auf etwa 20 pro Generation. Dagegen können per elektronischer Post verbreitete Kettenbriefe praktisch ohne Aufwand und Informationsminderung mit einem Mal an hunderte, tausende Menschen verschickt werden. Obwohl ich mehr Kettenbriefe per E-mail als per Post erhalten habe, sind Kettenbriefe im Netz noch immer eine Randerscheinung. Nicht nur bei Kettenbriefen erleichtert das Netz die Verbreitung, dies gilt auch für alle anderen Nachrichten. Das bedeutet, daß es unter all den verschiedenen Memen einen zunehmenden Wettbewerb um eine beschränkte Ressource gibt: die Aufmerksamkeit, die der Benutzer der erhaltenen Information schenkt. Da Kettenbriefe relativ wenige Kriterien erfüllen, die erfolgreiche von nicht-erfolgreichen Memen unterscheiden, werden sie diesen Wettbewerb wohl kaum gewinnen.

Die neuere Entwicklung des Netzes vom Träger für E-mail-Nachrichten zum World Wide Web als Lagerstätte für untereinander verknüpfte Dokumente hat die Dynamik der Mem-Replikation stark verändert. Im Web geschieht die Informationsverbreitung nicht mehr durch das Versenden von Kopien einer Datei an verschiedene Empfänger, sondern die Information wird an einer bestimmten Stelle, dem "Server", abgelegt, wo sie jeder abrufen kann. "Abrufen" heißt, daß eine temporäre Kopie der Datei in den Arbeitsspeicher des Benutzercomputers heruntergeladen wird, um sie auf dem Monitor zu betrachten. Sobald sich der Benutzer anderen Dokumenten zuwendet, wird die Kopie gelöscht. Es gibt keinen Grund, die Kopie permanent zu speichern, da das Original ständig zur Verfügung steht. Das heißt aber nicht, daß die Replikatordynamik nicht mehr gültig wäre: Der interessierte Benutzer wird normalerweise ein "Lesezeichen" oder "Link" anlegen, d. h. einen Pointer mit der Adresse des Originalfiles, so daß er jederzeit wieder darauf zugreifen kann. Ein Link fungiert als virtuelle Kopie [auch "Alias"-Datei genannt], die bei Aktivierung eine reale aber temporäre Kopie erzeugt.

Der Erfolg eines Web-Dokuments kann an der Anzahl der darauf verweisenden virtuellen Kopien oder Links gemessen werden: die Dokumente mit den meisten Links werden am meisten benutzt. Es gibt bereits Web-Roboter, d. h. das Web automatisch absuchende Programme, die "Hitparaden" der Dokumente mit den meisten Links erstellen. So wird z. B. die Reproduktion der Werke Van Goghs im Web eine wesentlich höhere Linkanzahl aufweisen als das Werk irgendeines unbekannten Malers des 20. Jahrhunderts.
KOOPERIERENDE MEME: UNTERWEGS ZUM GLOBALEN GEHIRN?
Bei Diskussionen über Meme und evolutionäre Systeme wird gewöhnlich die Konkurrenz betont, d. h. das "Überleben des Angepaßtesten" auf Kosten des weniger Angepaßten. Doch ist in der biologischen Evolution die Kooperation zwischen evolvierenden Systemen – im Sinne von Symbiose oder gegenseitiger Stützung – mindestens genauso wichtig. Vielzellige Organismen, in denen einzelne Zellen um des Gemeinwohls willen kooperieren, sind ein ausgezeichnetes Beispiel.

Bei Genen ist die Konkurrenz auf "Allele" beschränkt: Alternativversionen eines Gens, die im Chromosom eines Organismus um dieselbe Stelle streiten. Gene, die an verschiedenen Stellen des Chromosoms sitzen, konkurrieren jedoch nicht, sondern kooperieren bei der Steuerung der Organismusentwicklung. Jedes Gen produziert in der Zelle ein bestimmtes Protein, je nach dem Vorhandensein oder Fehlen anderer Proteine. Diese Proteine bauen die Zelle miteinander auf, verdauen Nahrungsmoleküle, vernichten Giftmoleküle und stellen überhaupt bei verschiedenen Störungen das Zellgleichgewicht wieder her. Gene kooperieren unmittelbar durch ihre Anordnung in den Netzwerken: Das Produkt eines Gens kann eine Reihe anderer Gene aktivieren oder deaktivieren, die ihrerseits weitere Gene aktivieren können usw.

Ähnlich könnte man sagen, Meme kooperieren, wenn sie miteinander vereinbar sind oder einander stützen. Der Glaube, die Erde sei rund, und der Glaube, die Erde drehe sich um die Sonne, verstärken einander zum Beispiel. Das "Rundheit"-Mem macht es einem leichter, sich das "Dreh"-Mem vorzustellen, und umgekehrt. Dagegen widerspricht das Rundheit-Mem dem Mem, das die Erde für flach erklärt. Rundheit und Flachheit verhalten sich wie Allele, die im Weltbild einer Person um dieselbe Position streiten. Obwohl sich Flachheit und Drehen nicht direkt widersprechen, leuchtet es ein, daß sie weniger gut zusammenpassen als Rundheit und Drehen. Ähnliche Beispiele lassen sich auch in der Kunst und in der Mode finden. Die Musik Debussys paßt anscheinend wesentlich besser zur Malerei des Impressionismus als zu der des Expressionismus. Heavy Metal paßt anscheinend eher zum Motorradfahren, aber weniger zum Fahrradfahren.

Sich gegenseitig stützende Meme werden die Neigung haben, größere kooperierende Ensembles wie Ideologien, Theorien oder Religionen zu bilden. Sich gegenseitig ausschließende Ensembles – z. B. Katholizismus und Protestantismus, das kopernikanische und ptolemäische Weltbild oder die Hippie- und die Punkbewegung – werden miteinander um Konvertiten konkurrieren. Und hier kommt auch die Frage der "multiplen Elternschaft", in der sich Meme und Gene unterscheiden, ins Spiel. Da es sein kann, daß viele verschiedene Menschen ["Eltern"] probieren, dieselbe Person zu bekehren, wird sich diese zwischen den verschiedenen Memen, die sie angeboten bekommt, entscheiden müssen. [Dagegen kann man sich nicht aussuchen, von welchen Eltern man seine Gene erbt]. Bei zwei gleichwertigen Memen ist der entscheidende Faktor die Anzahl der bereits existierenden Konvertiten: Je mehr Menschen einen zu überzeugen versuchen, desto eher wird man ihrem Ruf folgen. Wenn an ein Mem nur ein paar mehr Menschen glauben, wird dieses Mem mehr neue Konvertiten gewinnen und so den Vorsprung gegenüber der Konkurrenz ausbauen. Es handelt sich hier also um eine sich selbst verstärkende Evolution, bei der Erfolg zu Erfolg führt.

Wie ein mathematisches Modell der Mem-Übertragung [vgl. Heylighen & Campbell, 1995] bestätigt hat, führt dies zum Ergebnis, daß am Schluß alle in der Gruppe dasselbe glauben. Das habe ich früher "konformistische" Selektion genannt. Verschiedene Gruppen mit wenig Kommunikation untereinander werden jedoch im allgemeinen verschiedene Dinge glauben, da die konformistische Übertragung kleine Unterschiede in der ursprünglichen Verteilung der Überzeugungen eher verstärkt.

Untersuchen wir nun, wie diese Kooperations- und Konkurrenzmechanismen durch das globale Netzwerk beeinflußt werden. Im Web sind die Meme wie die Gene in Netzwerken angeordnet, in denen ein Dokument auf mehrere andere, es stützende Dokumente verweist, die ihrerseits Links auf weitere stützende Dokumente aufweisen. Verlinkte Dokumente kooperieren, indem sie ihre Ideen gegenseitig stützen, bestätigen oder ausweiten. Konkurrierende Dokumente, wie etwa die Verlautbarungen kommerzieller Anbieter, werden nicht verlinkt sein oder aufeinander höchstens mit einem Satz verweisen wie "Sie sollten keinesfalls glauben, was die sagen".

Bei zwei konkurrierenden, aber im übrigen gleich überzeugenden Dokumenten wird die Konkurrenz durch die jeweilige Anzahl der Links entschieden. Je mehr Links ein Dokument aufweist, umso mehr Menschen werden es konsultieren und umso mehr weitere Links werden produziert. Das ist derselbe sich selbst verstärkende Prozeß wie beim Konformismus, wo sich alle Mitglieder einer Gruppe auf dasselbe Mem-Ensemble einigen. Der Unterschied besteht darin, daß es hier keine verschiedenen Gruppen gibt. Im globalen Netzwerk kann jeder mit jedem kommunizieren und jedes Dokument mit jedem anderen Dokument verlinkt werden. Das Endergebnis ist wahrscheinlich eine globale Ideologie oder "Weltkultur", die die alten geographischen, politischen oder religiösen Grenzen übersteigt. [Man beachte, daß diese Homogenisierung nur bei sonst gleichwertigen Memen wie Konventionen, Standards oder Codes eintritt. Überzeugungen, die sich in anderen Dimensionen der Memselektion unterscheiden, sind von der konformistischen Selektion wesentlich weniger betroffen.]

Eine solche Netzwerk-Ideologie könnte eine ähnliche Rolle wie das Genom spielen, jenes Netzwerk miteinander verbundener Gene, das die Blaupause eines vielzelligen Organismus speichert und seine Physiologie kontrolliert. Der entsprechende "Organismus" oder Soziotyp dieses Mem-Netzwerks wäre die gesamte Menschheit, im Verbund mit der sie stützenden Technologie. Individuen spielten darin eine Rolle ähnlich der von Organismuszellen, die im Prinzip Zugang zum gesamten Genom haben, aber in der Praxis nur den Teil davon nutzen, den sie zur Ausübung ihrer spezifischen Funktion benötigen.

Es gibt für das entstehende globale Netzwerk aber eine bessere Metapher. Statt es mit dem Genom eines Organismus zu vergleichen, das normalerweise statisch ist und sich nur infolge zufälliger Kopierfehler weiterentwickelt, kann man es auch mit seinem Gehirn vergleichen, das auf nicht-zufällige Weise lernt und sich entwickelt. Das Netz funktioniert wie das Nervensystem des sozialen Superorganismus [Stock, 1993]; es überträgt Signale zwischen seinen verschiedenen "Organen", speichert seine Erfahrungen, hält sie bei Bedarf abrufbereit und steuert und koordiniert ganz allgemein seine verschiedenen Funktionen. Es kann demnach als globales Gehirn angesehen werden [Russell, 1995].

Das Erlernen neuer Assoziationen kann durch das Automatisieren des Evolutionsprozesses, der neue Links erstellt, implementiert werden. Wir haben ein Experiment durchgeführt, in dem ein Hypertext-Netzwerk seine Links seinem Benutzungsmuster anpaßt, indem es die implizite Semantik seiner Benutzer "erlernt". Ein solches lernfähiges Web könnte man noch intelligenter machen, wenn man ihm das Äquivalent von "Gedanken" einpflanzte: Software-Agents, die durch Ausbreitung über assoziative Links das Netz absuchen und die Informationen sammeln, die die Fragen des Benutzers beantworten [Heylighen & Bollen, 1996]. Es mag aussehen, als ob sich solche gehirnartigen Netzwerke vom ursprünglichen Mem-Modell weit entfernt hätten, aber sie beruhen immer noch auf derselben Dynamik der Variation und Selektion [realer oder virtueller] Informationskopien.

DAWKINS R. [1976]: The Selfish Gene, Oxford, Oxford University Press, 1976;
dt.: Das egoistische Gen, Reinbeck b. Hamburg: Rowohlt 1996

HEYLIGHEN F. [1993]: Selection Criteria for the Evolution of Knowledge, in: Proceedings 13th International Congress on Cybernetics, International Association of Cybernetics, Namur, p. 524-528

HEYLIGHEN F. & BOLLEN J. [1996]: The World-Wide Web as a Super-Brain, in: Cybernetics and System ’96, Austrian Society for Cybernetic Studies, p. 917-922

HEYLIGHEN F. & CAMPBELL D.T. [1995]: Selection of Organization at the Social Level, in: World Futures:45, p. 181-212

RUSSELL P. [1995]: The Global Brain Awakens: Our Next Evolutionary Leap, Miles River Press

STOCK G. [1993]: Metaman: the merging of humans and machines into a global superorganism, Simon & Schuster, New York