www.aec.at  
Ars Electronica 1996
Festival-Website 1996
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

Das Web und die Meme


'Joshua S. Lateiner Joshua S. Lateiner

Die Memetik gibt uns ein Werkzeug in die Hand, bestimmte sehr komplexe Phänomene in der Interaktion zwischen materiellen Systemen und immaterieller Information zu erklären. Nun gibt es zwar viel zu erklären, doch die Idee, die Memetik zur Erklärung der Welt heranzuziehen, gibt es erst seit kurzer Zeit. Deshalb ist es vielleicht klüger, die Entwicklung komplexer sozio-politischer Machtstrukturen vorläufig nicht mit Hilfe der Memanalyse zu untersuchen und für wirklich komplexe Fragen das ganze Gebiet der anspruchsvolleren Memanalyse einstweilen zu meiden, bis wir ein besseres Verständnis für die Möglichkeiten der Memetik entwickelt haben.

Wenn wir auch eine komplexe Analyse von memetischen Effekten derzeit noch nicht in Angriff nehmen, können wir doch das evolutionäre Zusammenspiel von Physik, Genetik und Memetik einer genaueren Betrachtung unterziehen. Wir werden das Web im Hinblick auf seine Rolle als memetischer Katalysator untersuchen, der nicht nur die Übertragung von Memen, sondern auch die Verwirklichung von memetischen Artefakten beschleunigt.

3D: DIE EVOLUTION DER MEMETISCHEN EVOLUTION
Eine gute Einführung in das Gebiet der Memetik bietet das Werk der 3 D’s – Darwin, Dawkins und Dennett. Es war Darwin, der 1859 als erster eine Methode vorstellte, mit der er die komplexen Strukturen unserer Biosphäre durch natürliche Selektion erklären konnte [Darwin 1859]. Dawkins formulierte als erster die Idee, die Meme könnten neue Replikatoren sein – nicht Selbst-Replikatoren per se, " Bewußtseinsviren" sozusagen [Dawkins 1976]. Mit seinem Konzept eines "Universellen Designraums" [Dennett, 1995] weitete Dennett den Anwendungsbereich von Dawkins’ Idee aus. Dieses Konzept geht von der Annahme aus, daß die natürliche Selektion ein Katalysator ist, der die Erforschung "aller denkbaren Dinge" sowohl auf dem Gebiet der Genetik als auch auf dem Gebiet der Memetik beschleunigt.
DIE GESCHICHTE DES UNIVERSUMS BIS HEUTE
Wenn wir Dennetts Theorie nochmals erweitern und auf das Gebiet der Physik übertragen, wird es uns vielleicht möglich, die Entfaltung des uns bekannten Universums mit den Augen der Evolution zu sehen. Möglicherweise ist dieser Prozeß so abgelaufen, wie die folgende Geschichte ihn schildert: Angefangen von der Materie, die eine "Vorliebe dafür hat", sich in stabilen Strukturen zu organisieren, bis zum Auftauchen replizierender Systeme.

Eine punktuelle Energiequelle sorgte für eine gleichmäßige Verteilung von Energie. Diese Energie breitete sich aus und kühlte schließlich ab. Geringe Schwankungen in der Kontinuität hatten nicht-lineare Auswirkungen, als Energie sich in Materie umwandelte und verfestigte. Mit der Weiterentwicklung des Universums bildete diese Materie unzählige verschiedene Anordnungen. Die stabileren unter ihnen überdauerten und begannen zu wachsen – Galaxien entstanden.

Auf einem kleinen Planeten am äußeren Rand einer solchen Galaxie wirbelte elementare Materie durch eine primitive Atmosphäre. Die Elementarmaterie auf diesem Planeten bildete unzählige verschiedene Anordnungen. Die stabileren unter ihnen überdauerten und begannen zu wachsen – Leben entstand.

Replizierende Anordnungen von Materie wetteiferten miteinander um Ressourcen, die sie für Wachstum und Reproduktion benötigten. Replikatoren, denen es gelang zu überleben, brachten eine neue Generation ähnlicher Replikatoren hervor, von denen wieder einige besser als andere dazu geeignet waren, in der jeweiligen Umgebung zu überleben und sich zu reproduzieren. Wir erkennen in diesem Verhalten die Handschrift der Evolution.

Die DNS, die lingua franca der genetischen Evolution, entstand als eines der materiellen Hilfsmittel zur Unterstützung der Replikation von Materie. Zu den Produkten dieser [genetischen] Evolution gehörten unter anderem Wesen, die zum Austausch von Information fähig waren. Das versetzte sie in die Lage, ihr angeborenes Verhalten laufend je nach erhaltenen Informationen zu erweitern. In diesem Prozeß, in dem es darum ging, geeignete Baupläne für effiziente Replikatoren zu finden, wirkte die DNS als Katalysator.

Mit dem Hinzukommen neuer Variablen wird die Geschichte komplizierter. Die simple Interaktion zwischen einem genetischen Replikator und einer unparteiischen Umwelt war nicht mehr die einzige Voraussetzung für Lebensfähigkeit. Einerseits waren neue Replikatoren aufgetaucht, andererseits hatte die Entwicklung der Interaktionen zwischen den Replikatoren einen Punkt erreicht, an dem das Überleben von etwas so Ungreifbarem wie Information abhängen konnte.

Wenn zwei primitive Lebewesen mit beinahe identischen Genen in eine ähnliche Umwelt hineingeboren werden, liegt der Schluß nahe, daß ihr Phänotyp [die physische Manifestation des Genotyps] wie auch ihre Fähigkeiten, zu wachsen und sich erfolgreich zu reproduzieren, ähnlich sein werden. Diese Schlußfolgerung ergibt sich aus einer rein physikalischen Erklärung der Situation. Wenn jedoch eines dieser beinahe identischen Lebewesen von einem anderen die Information erhält, wie es Feuer machen kann, kommt plötzlich ein nicht-materieller Faktor ins Spiel, der die Chancen, zu wachsen und sich erfolgreich zu reproduzieren, neu verteilt. So wird nun plötzlich immaterielle Information zu einem wesentlichen Unterscheidungsfaktor zwischen zwei anderweitig gleich [und sehr gut] lebensfähigen Lebewesen.

Diese nicht-materiellen "Werkzeuge", die den Prozeß der Replikation fördern, werden Meme genannt – in Anlehnung an Richard Dawkins’ Bezeichnung für eine Gedankeneinheit. Ein von einem Replikator produziertes Mem ließ sich mittels Sprache einem anderen mitteilen. In der Folge entstanden Kulturen, in denen eine Gruppe von Replikatoren von einer Reihe gemeinsamer Meme profitierte. Die memetische Evolution kann als ein Prozeß verstanden werden, in dem Gruppen von Memen mit Hilfe der Sprache ausgetauscht und durch eine Gruppe von Replikatoren verbessert werden. Die überlebenden Meme waren diejenigen, die zur Schaffung einer Umwelt beigetragen haben, die der künftigen Reproduktion von Memen [und damit sehr wahrscheinlich auch der Reproduktion von Genen] förderlich war.

Eine Spezies machte die Entdeckung, daß die Durchschlagskraft von Memen durch das Festhalten auf einem Datenträger erhöht werden kann. Die Aufzeichnung von Memen unter Zuhilfenahme der Schrift führte zu einer rascheren Entwicklung von Memen und damit zu komplexen menschlichen Kulturen. In diesem Prozeß, dessen Ziel es war, Baupläne für effiziente Kulturen zu finden, wirkte die Schrift als Katalysator.

Somit wird klar, daß der Bewegungsumschlag in Dennetts einheitlichem Designraum mit dem Auftreten neuer Katalysatoren [Gene, Meme, neue memetische Medien, z. B. Schrift] zunahm. Dennett übernimmt Dawkins’ Konzept, die memetische Evolution laufe ähnlich wie die genetische ab, und erweitert es mit seiner Hypothese, alles sei Teil ein und desselben evolutionären Prozesses.
DIE KATALYTISCHE WIRKUNG NEUER MEDIEN
Meme reproduzieren und entwickeln sich durch den Ideenaustausch von Memwirten. Man ist sich einig, daß Menschen mit ihrer Fähigkeit, Meme zu verstehen, zu synthetisieren und an andere weiterzugeben, gute Memwirte sind. Davon unterscheiden müssen wir memetische Medien, deren Aufgabe es ist, Meme von einem Wirt zum anderen zu transportieren.

Das Aufkommen eines neuen Mediums zur Übermittlung von Memen hatte oft eine katalytische Wirkung auf das Wachstum und die Entwicklung bereits bestehender Meme. Die Druckerpresse hatte gegenüber der händischen Reproduktion von Dokumenten den Vorteil, daß sie die preisgünstige Übermittlung von Memen an einen größeren Kreis von Memwirten möglich machte. Dies hatte damals eine Verstärkung kultureller Trends zur Folge. Zusätzlich löste die Erfindung der Druckerpresse eine gewaltige Transformation des kulturellen Umfeldes aus, so daß drastische Mutationen bereits existierender Meme neue Memstruk-turen hervorbrachten.

Das 20. Jahrhundert wurde durch das Auftauchen mehrerer wichtiger Massenmedien geprägt, deren Integration in die bestehende Gesellschaft noch nicht abgeschlossen ist. Radio und Fernsehen sind zum größten Teil nicht-interaktive Medien und für die Kommunikation mit einem sehr großen Publikum geeignet. Das Web hingegen stellt ein höchst interaktives Medium dar, das Memwirte dazu verwenden können, Zugang zu neuen Memen zu bekommen [gemeinhin "surfen" genannt, wie zum Beispiel "im Web surfen"].

Das Web unterscheidet sich von früheren Massenmedien durch seine sehr effiziente Methode, Meme direkt an Memwirte weiterzuleiten, die für die Infektion mit einem bestimmten Mem besonders empfänglich sind. Diese Effizienz resultiert aus dem Paradigma des Webs: Memwirte suchen direkt nach neuen Memen, die ihnen interessant erscheinen. Ein solches Verhalten ist natürlich nicht auf das Web beschränkt – man sucht zum Beispiel häufig nach Büchern, für die man sich besonders interessiert –, das Web beschleunigt und erweitert solche Prozesse aber aufgrund seines ausgesprochen interaktiven Charakters.

Gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen den Prozessen der Selektion, des Wachstums und der Reproduktion von memetischen Technologien wie dem Web und der traditionellen Darwin’schen Evolution oder dem Entstehen eines komplexen physikalischen Systems wie unseres Universum? Dennett würde auf diese Frage sicher mit der Feststellung antworten, es gäbe keinen grundlegenden Unterschied, auch wenn die Evolution der Meme in viel schnellerem Tempo vor sich geht als die gemächliche der Gene.
Fazit: DAS EGOISTISCHE MEM
Es gibt vielleicht wirklich einen fundamentalen Unterschied zwischen dem Prozeß der genetischen und dem Prozeß der memetischen Evolution. Menschliche Memwirte sind zu zielgerichteten, bewußten Handlungen fähig – diese Tatsache hat auf den memetischen Evolutionsprozeß weitaus größere Auswirkungen als auf die Entwicklungen in der Genetik.

Aufgrund dieser Intentionalität menschlicher Memwirte ist die Wahrscheinlichkeit größer, daß Angehörige der menschlichen Spezies manche Meme viel häufiger übertragen als andere, weniger interessante. Meme beeinflussen zugleich auch die Wünsche des Memwirtes, und das Auftreten nicht-linearer memetischer Effekte, wie zum Beispiel kulturelle Fixierung, ist dieser Rekursivität der Meme zuzuschreiben. Dieser Faktor beschleunigt vielleicht die memetische Evolution in höherem Ausmaß, als wir erwartet haben.

All das bleibt nicht ohne physische Auswirkungen – Meme breiten sich mit Hilfe ihrer menschlichen Wirte aus und "haben den Wunsch", verwirklicht zu werden.

Egoistische Meme können mit einem Rezept für einen köstlichen Kuchen verglichen werden: Das Mem für das Backen des Kuchens nistet sich in den Gedanken eines Menschen ein, um ihn zu einer bestimmten Handlung zu motivieren [z. B. zum Backen eines Kuchens]. Gibt der Mensch diesem Memimpuls nach, trägt das Memerzeugnis [der Kuchen] vielleicht zur Verbreitung des ursprünglichen Mems [d.h. der Idee, daß das Backen eines köstlichen Kuchens eine erstrebenswerte Sache ist] bei, wenn andere Memwirte mit dem Memerzeugnis in Berührung kommen.

Egoistische Meme streben nach "Verwirklichung" – Verwirklichung bedeutet hier, daß sie den Memwirt zu bestimmten Handlungen veranlassen. Sind Meme in ihrem egoistischen Bestreben erfolgreich, tragen die Handlungen des Memwirtes häufig zur Weiterverbreitung des Meminhaltes bei.
Der Prozeß, der dazu führte, daß die Amerikaner sich von Futurismus, Raumfahrt und dem Flug zum Mond faszinieren ließen, kann durch ein System egoistischer Meme erklärt werden, die ein selbstverstärkendes Muster aufbauten, das dann schließlich das memetische Konzept [einen Menschen auf den Mond zu bringen] in die Tat umsetzte. Eine Mondlandung hätte vielleicht zu irgendeinem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte ohnehin stattgefunden. Daß es aber bereits in diesem Jahrhundert dazu kam – also vielleicht zu einem viel früheren Zeitpunkt, als es sonst zu erwarten gewesen wäre –, kann durchaus auf memetische Feedbacksysteme zurückgeführt werden.

Auch die Entstehung und kontinuierliche Weiterentwicklung des Web könnte die Folge eines ungemein positiv verstärkenden memetischen Feedbacksystems sein. Im Jahre 1984 wurde Gibsons folgenreicher Roman Neuromancer veröffentlicht, in dem er eine nahe Zukunft beschreibt, die sehr stark von aktuellen Trends inspiriert wird. Gibson beschreibt in diesem Roman eine Cyberspace-Matrix:
"Kyberspace. Unwillkürliche Halluzinationen, tagtäglich erlebt von Milliarden Berechtigten in allen Ländern, von Kindern zur Veranschaulichung mathematischer Begriffe […]. Grafische Wiedergabe abstrahierter Daten aus den Banken sämtlicher Computer im menschlichen System. Unvorstellbare Komplexität."

[Gibson, 1984, S. 76]
Gibsons Roman, in dem der Einfluß zeitgenössischer kultureller Trends zu erkennen ist, inspirierte die Programmierer dazu, auf ein System hinzuarbeiten, das sie ohnehin bereits anstrebten. Wenn sie nicht bereits an einem solchen System gearbeitet hätten, hätte Gibson die Themen, die Neuromancer dominieren, nicht aufgreifen können. So half Gibsons Roman also, einen Prozeß zu beschleunigen, der bereits im Laufen war – einen Prozeß, der gemeinsam mit anderen Entwicklungen unsere Vorstellungen von Online-Informationssystemen geprägt hat.

Mit seiner Unmittelbarkeit und Interaktivität fördert das Web – als Memkatalysator – das Entstehen von memetischen Feedbacksystemen viel stärker als jedes andere Medium. Das Web übermittelt auf sehr effiziente Art und Weise Meme, die ihrerseits vielleicht die Bedürfnisse eines Wirtes so stark erhöhen, daß dieser beginnt, verwandte Meme ausfindig zu machen und weiterzuübertragen.

Das Web kommt gerade jenen egoistischen Memen entgegen, die ihre Verwirklichung jenseits bloßer Weiterübertragung suchen, indem es die Menschen in die Lage versetzt, gemeinsam an der Schaffung noch komplexerer memetischer Artefakte zu arbeiten. Ein Beispiel: Meme, die die Bürger einer Stadt veranlassen, eine Brücke über einen Fluß zu bauen, profitieren von der Fähigkeit des Webs, die menschlichen Bemühungen zu vergrößern – indem es die Bewohner dieser Stadt bei der Koordination der notwendigen Ressourcen unterstützt und so dazu beiträgt, die Brücke tatsächlich zu bauen.

Im Web haben wir wahrscheinlich ein Medium vor uns, das die memetische Evolution beschleunigen wird, aber der Nutzen der Memetik geht über das Web hinaus. Auch Feedbacksysteme, das Zusammenspiel von Kunst und Wissenschaft und große soziale Bewegungen lassen sich mit Hilfe der Memetik analysieren. Auf ähnliche Art und Weise wird die in hohem Ausmaß beschleunigte Evolution, die uns das Web vor Augen führt, Auswirkungen haben, die über die Memetik hinausgehen, wenn egoistische Meme danach streben, in der Realisie-rung memetischer Artefakte verwirklicht zu werden.

Bestimmte Meme haben sich in ihrem egoistischen Streben nach Verwirklichung in unserer Alltagskultur breitgemacht: Viele Menschen in unserer Gesellschaft sind von Memen, wie z. B. Weltfrieden oder Einsatz der Technik, um den Körper buchstäblich oder im übertragenen Sinne zu transzendieren, fasziniert [Lateiner, 1992]. Das Web wird wahrscheinlich auch in Zukunft eine zunehmende Rolle spielen, indem es unsere Phantasie anregt und uns bei der Verwirklichung von Memen unterstützt.