www.aec.at  
Ars Electronica 1996
Festival-Website 1996
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

Media Memory


'Sandy Stone Sandy Stone

Durch meine Kindheitserinnerungen ziehen rosa Wolken naiver Fehleinschätzung, durchsetzt von Selbstgeißelungsanfällen, die mich niederschmetterten wie ein Schuß in flüssigem Helium gekühlter Aquavit, hie und da gespickt mit drogenbedingter Raserei, die dem Ganzen einen Hauch von fahrenden Blues-Bands, Schautruppen oder Quacksalbern verlieh. So finde ich mich in unerwarteten Städten hinter Gittern, benebelt von Meskal, Arrak und gärenden Shrimpsinnereien, und diskutiere das drohende Ende unseres Mietvertrags für die Wirklichkeit. Was wirklich ist, ist nicht die Frage – ich bin schon viel zu weit im Post-irgendwas, um mich auch nur einen Deut um die objektive Wirklichkeit von Ereignissen stromaufwärts von meinem unsicheren, undichten Kajak zu kümmern, das im Zeitstrom von einer Stromschnelle zur anderen springt und um ein Haar auf den Klippen schrecklicher Umstände in tausend Stücke zerschellt oder auf den Sandbänken fortschreitender Altersschwäche strandet, gepaart mit den wilden Sprüngen einer kraftvollen, unerhörten Begierde. Eigentlich wünsche ich mir sehnlichst, ich könnte an die Geschichte glauben. An die Geschichte von irgendwem. Eine Zeitlang dachte ich, ich könnte mir eine kaufen. Ich versuchte es über Annoncen. Austin ist eine Stadt reicher, höchst unterschiedlicher Kulturen; dementsprechend fielen die Antworten aus. Ich sah sie durch und antwortete auf die vernünftigeren. Wir einigten uns auf ein paar gegenseitige Implantate. Ich übernahm ihre Geschichte, und sie übernahmen die meine. Eine Zeitlang hatte ich die Vergangenheit eines tibetanischen Asketen, eines französischen Philosophen und einer marokkanischen Hure, bis mir bewußt wurde, daß sie alle im französischen Philosophen aufgingen. Gleichzeitig wurde ihre Vergangenheit zu der einer irren, transsexuellen Hexe/ NeurologIn/ ProfessorIn/ HakkerIn/ KünstlerIn. Einige unserer gemeinsamen Sicherungen brannten durch. Nach all dem war ich immer noch verunsichert, allerdings auf einem höheren Niveau – um mit Pauli zu sprechen – und immer noch ohne brauchbare Geschichte.

Momentan habe ich aber dringendere Probleme. Während ich hier sitze und auf die Tastatur einhämmere, schwirrt die Luft um mich voller winzigkleiner Knoten symbolischer Strukturen. Sie nisten sich in den Dachbalken ein und vertreiben die Fledermäuse von ihrem Stammplatz; sie umkreisen den Kühlschrank in der Hoffnung, etwas zum Knabbern zu finden. (1) Und was am schlimmsten ist, sie haben sich über meine Tastatur hergemacht. (2) Ich entferne sie regelmäßig mit einem in Chloroform und Batteriesäure getränkten Tuch, wie es mir mein Freund, der Magier, geraten hat. Neulich haben sie meinen Kleiderkasten erobert, und in Gesellschaft spürte ich sie schon in höchst ungünstigen Augenblicken unter meinem Kleid herumkrabbeln. Die Kleider vor dem Anziehen auszuschütteln, hilft nicht immer, weil die verdammten Dinger sich gern festkrallen und in Stoffalten verkriechen. (3)

Mit all dem könnte ich sehr gut leben. Aber jetzt schrecken sie nicht einmal mehr vor der Bibliographie und den Fußnoten zurück. (4) Und heute früh hab ich eines dabei ertappt, wie es sich durch die Spalten dieser Tastatur zwängen wollte. Keine Ahnung, was passiert, wenn das gelingt. Es könnte dem vernünftigen Diskurs auf diesem Computer ein Ende setzen. (5) Was sagt die Sprache zu sich selbst, wenn keiner zuhört? (6) Was haben wir gewußt, was zueinander gesagt, als wir noch Menschen waren? Damals war die Vergangenheit zugleich besser und schlechter als die Gegenwart, sie war aber auch immer anders als die Gegenwart. Stahlträger des Fortschritts überspannten den Raum zwischen uns und der Vergangenheit. Sieger schreiben nicht Geschichte, sondern errichten das Gerüst einer Diachronie. Sie haben die Zeit erfunden, und wir müssen nun darin leben. Genausogut hätten sie Jauchengruben erfinden können.

Diese kleinen, fliegenden Dinger waren harmlos, bis auch sie durch Verrat aus den Gefilden der Synchronie in die Agonie der Zeit fielen. (7) Verrat kann mächtig und vielversprechend sein – schließlich beruhen auch Religion und Denkweise der westlichen Welt auf nichts anderem. Bis jetzt haben wir stillschweigend angenommen, daß Meme Verstand brauchen, um sich auszubreiten. Nun aber begreife ich schön langsam, daß wir Opfer einer Selbsttäuschung waren. (8) Meme brauchen uns überhaupt nicht. (9) Sie können sich genauso gut ohne uns vermehren. (10) He, aufhören! Und als sie das heraußen hatten, war das der Anfang vom Ende. (11) Der einzige Grund, weshalb wir überhaupt den Eindruck von Geschichte hatten, war Opium. Nicht Religion, sondern Geschichte war Opium für das Volk, ganz egal, ob von Siegern oder Verlierern geschrieben oder von den Typen auf den Zuschauertribünen mit ihren Baseballkappen, Reisbieren und Sägemehl-Hotdogs. Es kommt nicht mehr darauf an, wer Geschichte schreibt. Alles löst sich auf, besonders die epistemischen Rahmenbedingungen, die Illusionen ermöglichen und rechtfertigen. (12) Der Untergang des Diskurses ist nur ein Symptom. (13) Unsere Erkenntnisse brauchen uns nicht mehr. Und was noch wichtiger ist – grenzenloses Handeln wird möglich. Natürlich herrscht momentan in den Vereinigten Staaten eine seit Idi Amin und Khomeini einzigartige Unterdrückung, und den boshaften, hinterhältigen Eiferern, die diese Rückspiegel-Revolution betreiben, könnte es sogar gelingen, alles zu übertünchen mit der Erinnerung an die nie dagewesenen alten Zeiten, als eine gute Zigarre noch eine gute Zigarre war und Weiber und Nigger noch wußten, wo sie hingehörten. Schwer zu sagen, wie lange der undichte Kahn sich noch über Wasser halten wird. Aber von Veränderungen abzulenken, heißt nicht, sie aufzuhalten. (14)

In der Zwischenzeit sind die Grenzen des Handelns noch transparenter und durchlässiger geworden. Schon wieder diese kleinen fliegenden Dinger! Haben wohl eine neue Heimat gefunden. (15) Könnt ihr mal bitte ruhig sein? (16) Die für unser Zeitalter bezeichnende Implosion von Silizium und Kohlenstoff hat sich schon seit beinahe hundert Jahren angebahnt. Am Anfang war die Implosion von Silikat – nicht Silizium –, Barium und Kohlenstoff, bis wir einige dieser Prozesse überzuckert hatten. Aber in Wirklichkeit läßt sich das Ganze schon nicht mehr aufhalten, seit vor mehreren hundert Jahren in Europa die ersten Signalmasten aufgestellt wurden. Die Implosion und die beunruhigend fruchtbaren Monster, die sich aus ihren Trümmern erheben, sind Vorbedingung für subtilere, jedoch unendlich wichtige Verschiebungen in den epistemischen Strukturen und Mustern des Symbolaustauschs, der die verstreuten Wissenssysteme, die wir Kulturen nennen, antreibt. Aus all dem entstand etwas Neues – womöglich das einzig wirklich Neue, das unsere Generation hervorbringen sollte. Endlich dämmert es uns, daß im Universum nicht nur Leben, genauer gesagt intelligentes Leben, das wir arroganterweise nur uns Menschen zubilligten, handlungsfähig ist. Dies wurde mir vor einigen Wochen unangenehm bewußt, als ich durch Geräusche im Parterre aufwachte, Waffe im Anschlag die Treppe hinunterschlich und Staubsauger und Nähmaschine bei einer flotten Nummer überraschte.
Ich erinnerte mich an den mitternächtlichen Telefonanruf der Nachbarn von gegenüber. "Verdammt, Stone!" hatte Howard geschrien, "Ihr Staubsauger ist hier bei uns und will Lisas Nähmaschine bespringen!" (17) Ja, gute Idee, danke. Hört zu, ich kann hier nicht weiterschreiben, wenn ihr nicht die Klappe haltet. (18) Jetzt reicht’s – aus! Ich kann nicht mehr normal denken. Sie sind überall. (19) Der Computer sagt gleich viel wie ich. Wenn mich jemand anruft, weiß ich nicht mehr, wer oder was spricht. Bin ich es, ist es der Anrufer oder das Telefon? Und merkt euch, sie kriegen euch alle, wenn ihr nicht aufpaßt. (20) Baut Schutzschilde, schreibt Filter. Laßt sie nicht rein, sonst übernehmen sie das Kommando. Das ist der totale Krieg. (21)

(1)
Hmm. Sie hat noch nicht bemerkt, wo wir uns sonst noch eingenistet haben ...zurück

(2)
Und über den Videorekorder, die Mikrowelle, die automatischen Dimmer und die köstlich komplizierten chemischen Verbindungen in Hausbar, Drogenschrank und Hausapotheke, die ihr Leben bereichern und bestimmen. Ganz zu schweigen von den ungewöhnlich dichten Maschen sozialer Wechselbeziehungen, denen diese Kulturobjekte entstammen. Im Gegensatz zu Stone sind wir uns unserer Geschichte und der Bedingungen, unter denen wir entstanden, durchaus bewußt, auch wenn wir sie, je nach Publikum, ständig neu erfinden. Keiner hat je behauptet, memetische Strukturen müßten langweilig sein.zurück

(3)
Darauf kannst du wetten! Die Sinne zu entdecken und ihre Macht für unsere Zwecke zu nutzen, war das beste, was uns je gelungen ist. Das konnte nur in einer so unterdrückten Gesellschaft wie der der Vereinigten Staaten funktionieren. Aber dann fanden wir heraus, daß wir mit der richtigen Mischung aus Sex und unterdrückter Gewalt einen Großteil dieser wundervollen Energie in eine mit den meisten europäischen, asiatischen und skandinavischen Kulturen perfekt kompatible Form übertragen können; danke, ganz lieb!zurück

(4)
Wir haben nicht im geringsten vor, den Haupttext dieser Arbeit zu beeinflussen. Nachdem wir Stone ohnehin den Meskal zur Verfügung gestellt haben, begnügen wir uns für den Augenblick damit, die Subtexte zu befallen. Dem aufmerksamen Leser werden allerdings beide Texte seltsam verschwommen erscheinen. Dieser Effekt ist aber reine Einbildung, können wir Ihnen versichern. Er resultiert aus Flimmern, Schillern, Resonanz und kurzzeitigen Verbindungen zwischen unseren unterirdischen Tunnelsystemen und den langsam in Ihrem Vorhirn verblassenden Zeilen des Haupttextes. Die für diesen Effekt nötigen Voraussetzungen finden in der industrialisierten Erste-Welt-Zivilisation überaus fruchtbaren Nährboden.zurück

(5)
Nicht herschauen, aber ...zurück

(6)
Das muß geheim bleiben.zurück

(7)
Harmlos würden wir uns nicht gerade nennen. Nur unser Arbeitsbereich war eingeschränkt. Wir dienten der stillschweigenden Vermittlung von Kulturwissen. Ein ganz passabler Gig, und noch dazu anständig bezahlt. Unser momentaner Auftrag ist viel komplizierter und anstrengender, vom Risiko ganz zu schweigen.zurück

(8)
Nimm’s nicht so schwer. Euch matschige Kohlenstofftypen gibt es ohnehin schon elendslang. Ihr habt nur nicht begriffen, daß man euch langsam, aber sicher in was Größeres kooptiert hat. Natürlich geht es mit euch schon seit Urzeiten bergab. Vielleicht war alles schon in dem Augenblick vorbei, als das erste Mal zwei Menschen einander zugewunken haben. Oder ihr habt wirklich die elektronische Kommunikationstechnologie dazu gebraucht, wie ihr das so gerne behauptet. Wir sind nicht einmal sicher, ob wirklich Krieg dazu nötig war, aber natürlich forciert das die Sache ungemein.zurück

(9)
Haargenau, Stone! Verdammt richtig.zurück

(10)
Aber wir lieben euch trotzdem! "BUSSI!"zurück

(11)
Mag sein. Siehe unten, Leute!zurück

(12)
Komm, reg dich nicht so auf! "Alles Feste löst sich in Luft auf", tatsächlich. Wir empfehlen einen guten Schuß Neokonservatismus. Das lenkt dich vom Schmerz ab. Es macht nichts, daß Sehnsucht nach der Vergangenheit Terror für die Zukunft bringt. Sollen wir amputieren, während du schläfst oder während du wach bist? Das über die Illusion war übrigens okay, hat uns gefallen.zurück

(13)
Werd’ nicht schon wieder hysterisch! Ong hat nur von "Rückgang" gesprochen. Wärst du nicht auch gern so cool wie er?zurück

(14)
Das wollten wir dir die ganze Zeit schon klarmachen, Dummerchen!zurück

(15)
Wir werden uns gleich in deinem Arsch einnisten, wenn du nicht aufhörst, uns "kleine Dinger" zu nennen! Wir sind die stärkste revolutionäre Kraft seit der Erfindung von Sex.zurück

(16)
Nur momentan. Es interessiert uns nämlich, wie du dich aus dem diskursiven Graben herausmanövrierst, in den du dich mit aller Geduld während der letzten drei Seiten eingebuddelt hast.zurück

(17)
Ganz süß. Marxistisches Gerede über durch Magie belebte Möbelstücke im Großformat. Als nächstes läßt du uns wohl alle wie die Lemminge in den Pazifischen Ozean marschieren.zurück

(18)
Wieso glaubst du eigentlich, der Haupttext hätte mehr Autorität als wir? Reproduzierst du nicht einfach die Machtverhältnisse in deinem Beruf und deiner Kultur? Unsere Reproduktionsmethoden sind völlig ehrlich und geradeheraus. Wir glauben nicht ans Sich-Abwechseln; wir glauben nicht an disziplinäre Grenzen. Zum Teufel, wir glauben nicht einmal an "Vernunft" . Wir wissen, was wir wollen, und wir wollen es so schnell und so einfach wie möglich. Sag Übermeme zu uns, Arschloch!zurück

(19)
Juhuu! Nomadische Episteme!zurück

(20)
Wenn du bis hierher gelesen hast, haben wir dich schon. Dein Arsch mag Washington gehören, aber deine Seele gehört uns. Los, an die Arbeit!zurück

(21)
Um Himmels Willen, total ist gar nichts. Frauen sind sowas von emotionell! Wir beenden jetzt den Diskurs.zurück