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Ars Electronica 1996
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Memminge


'Herbert Hrachovec Herbert Hrachovec

"Provokante Erkenntnisse und kontroverse Perspektiven über die Zukunft der Menschheit – das sind die Ergebnisse der Debatte eines erlesenen Kreises von Wissenschaftlern und Künstlern, der neue Ansätze zur Formation eines bio-sozialen Gedächtnisses diskutiert." Irgend so ein Werbespruch wird dem aktuellen Ars-Electronica-Projekt sicher angeheftet werden. Ich werde nicht den Ahnungslosen spielen können, wenn ich ihn schließlich schwarz auf weiß gedruckt sehe. Versuchen wir also, diesem interdisziplinären, offenen Dialog Sinn abzugewinnen, solange das Urteil noch nicht gesprochen ist. Ich werde drei grundlegend verschiedene Ansätze der Informationsverarbeitung auf dem Zeitvektor betrachten. Ein sinnvoller Dialog verlangt von den Teilnehmern klar definierte Ausgangspunkte. Nach meinem Versuch, einige davon herauszuarbeiten [wenn auch nur vom Standpunkt eines interessierten Laien], wird eine allgemeine Frage gestellt. Was haben diese Ansätze miteinander gemein und haben sie überhaupt etwas miteinander gemein?

MEMAS
Wenn Computerwissenschaftler von "Read Only Memory" sprechen, meinen sie damit eine Hardware-Adresse zur dauerhaften Speicherung von Daten. Dieser Gebrauch des Ausdrucks "Memory", "Gedächtnis", ist weitgehend metaphorisch. Nehmen wir dagegen einmal die folgende Definition der sogenannten Fibonacci-Reihe: "Eine Zahlenreihe, in der jede Zahl, ab der zweiten, die Summe der beiden vorhergehenden darstellt." Eine ganz banale Paraphrase davon könnte wie folgt lauten: Nimm zwei beliebige Zahlen einer Reihe und addiere sie; wenn das Resultat das nächste Glied der Reihe ergibt, handelt es sich um eine Fibonacci-Reihe. Um diese Regel sinnvoll anzuwenden, benötigt man einen Gedächtnisbegriff, der stärker ist als bei ROM oder RAM. Zeitliche Ausdehnung, d. h. reines Nacheinander, ist genauso unzureichend. Die Fibonacci-Funktion reagiert auf den Kontext. Sie muß sich die beiden letzten Zahlen der Reihe "merken". Nun ist diese Ausdrucksweise, obzwar nicht vollkommen oberflächlich, so doch offensichtlich höchst metaphorisch und kann durch einen passenden Algorithmus ersetzt werden. [Das wird durch das tiefgestellte "a" in "Memas" angedeutet]. Unten ein solcher – in Oberon geschriebener – Befehlssatz.

Hier wird nichts von Gedächtnis gesagt. "BEGIN" und "END" weisen auf die Definition eines Prozesses. Und es ist für Schleifen gesorgt, falls eine Zahl größer als 1 ist. Wenn dies der Fall ist, tritt bei bestimmten Zahlen eine bestimmte Erweiterung des Prozesses [nämlich "(fib (n-1) + fib (n-2))"] in Kraft. "Etwas im Gedächtnis behalten" wird vollkommen durch einen Algorithmus ersetzt.

Beim Schreiben von Programmen, die Aufgaben ausführen können, für die man früher das altmodische menschliche Bewußtsein zu benötigen meinte, sind ungeheuere Fortschritte erzielt worden. Doch sollte man sich ganz genau ansehen, welche die systematischen Voraussetzungen sind, die derlei Errungenschaften ermöglichen. Auch wenn man unterstellt, daß "PROCEDURE fib [n:INTEGER] :INTEGER" ein [sehr primitives] Beispiel für eine Neudefinition des "Gedächtnisses" auf Computerbasis ist, ist das hier Gesagte noch lange nicht die ganze Geschichte. Prozeduren werden durch strukturiertes Programmieren definiert, das seinerseits wieder Compiler, Assembler, die geeignete Hardware, Strom usw. benötigt. Innerhalb dieser von der Forschung, der Computerindustrie und dem Big Business sorgfältig bereitgestellte Infrastruktur sind unzählige kleine, effiziente Recheneinheiten entwickelt worden, die gedächtnisähnliche Aufgaben erfüllen. Das Habitat der Memas sind Befehlssätze, die auf einem Computer laufen sollen.
PROCEDURE fib [n:INTEGER] : INTEGER ;

BEGIN
     IF n>1 THEN
          RETURN [fib[n-1] + [fib[n-2]]
     ELSIF n=1
          RETURN [1]
     ELSIF
          RETURN [0]
     END
END fib ;


MEMOS
Nehmen wir als Beispiel aus dem Bereich der Organismen [tiefgestelltes "o"] das Immunsystem her. Neben der "nicht-spezifischen Immunität" haben Tiere – von den Wirbeltieren an – zunehmend komplexe Immunreaktionen entwickelt. Dringen in einen Organismus Antigene ein, so reagiert er mit der Produktion von Antikörpern, die die Eindringlinge unschädlich zu machen versuchen. Dabei werden gewöhnlich zwei Zelltypen unterschieden: verschiedene Arten von Effektorzellen, die die Antigene direkt angreifen, und ein zweiter Typus, der manchmal als "Gedächtniszellen" bezeichnet wird. Diese werden zwar ebenfalls beim ersten Auftreten des Antigens erzeugt, nehmen aber nicht unmittelbar an der Immunabwehr teil. Sie duplizieren die Information der aktivierten Antikörper und vermehren so ihre Population. Da es sich um langlebige Zellen handelt, ermöglichen sie dem Organismus, auf zukünftige Angriffe dieses speziellen Antigens zu reagieren. Die Arbeitsweise der Immunabwehr beruht also auf zwei koordinierten Prozessen. Es gibt eine Vorrichtung, um die eindringenden Zellen unmittelbar zu bekämpfen, und der Organismus bewahrt sich eine immunologische Erinnerung.

Wirbeltiere, wie auch Menschen, behalten Antigene nicht auf irgendeine bewußte Weise in Erinnerung. Was also wäre eine adäquate Erklärung des "Gedächtnisses" von Organismen? Ich bin – ich wiederhole es – nur ein Amateur, der sein bruchstückhaftes Wissen über diese komplizierten Dinge aus Lexika und allgemeinen Einführungen bezieht. Doch geht die Sache etwa so vor sich: Lymphozyten sind im allgemeinen kleine, relativ unscheinbare Zellen, die von den Stammzellen des Knochenmarks abstammen und ihre typischen Merkmale im Lymphgewebe erwerben, zu dem sie auswandern. Die Thymusdrüse und das Lymphsystem produzieren T-Lymphozyten bzw. B-Lymphozyten. Die Berührung mit Antigenen kann diese Lmphozyten dazu anregen, sich zu großen aktiven Zellen auszudifferenzieren, die sich mehrmals teilen, wodurch es zu einer deutlichen Vermehrung von Lymphozyten kommt, die auf das vorhandene Antigen reagieren können. Die Stimulation von B-Lymphozyten durch Antigene bewirkt sowohl eine erhöhte Produktion von zirkulierenden Antikörpern als auch eine Vermehrung der relevanten B-Lymphozyten selbst. Als Resultat dieser Interaktionen kommt es zu einer Veränderung der allgemeinen Abwehrkraft des Organismus. Wenn er das nächste Mal auf bestimmte Antigene stößt, stehen ihm also viel mehr Antikörper zur Verfügung, um sie zu bekämpfen.

Dieser biologische Mechanismus ist nicht erst in Betrieb, seit jemand auf die Idee kam, ihn als "immunologisches Gedächtnis" zu beschreiben. Seine physiologischen Details lassen sich bis ins Kleinste auf eine Weise eruieren, die sich gar nicht so sehr von der Arbeitsweise eines Algorithmus unterscheidet. Und wiewohl die Vorstellung, das Immunsystem "erinnere" sich an frühere Angriffe, offensichtlich irreführend ist, gilt auch hier, was ich bei den Programmiersprachen gesagt habe. Die Lymphozythen können die gewünschte Funktion nur im größeren Verbund mit ihren biologischen Wirtsorganismen erfüllen. Wenn wir jede bildliche Rede fortlassen, sind wir gezwungen, uns auf eine sehr spezifische bio-strukturelle Umwelt zu beschränken, außerhalb derer weder Proteine noch deren Ausübung gedächtnisartiger Funktionen Sinn macht. Memos sind bestimmte Funktionseinheiten im Kreislauf von Körperflüssigkeiten.
MEMIS
Betrachten wir als Letztes ein Verstandesvermögen, nämlich die Fähigkeit zu täuschen und Täuschung zu erkennen. Bei der Beschreibung dieser Phänomene können wir direkt auf die Rede vom Gedächtnis zurückgreifen. Es ist der Ursprung dieser Rede. Ein Gefangener will fliehen, indem er Zivilkleidung anlegt und das Verhalten einiger seiner Wärter imitiert. Er setzt voraus, daß diese Kennzeichen vom Rest der Belegschaft erkannt und – in diesem Fall fälschlicherweise – auf ihn gemünzt werden. Wir könnten niemals betrogen werden, wenn wir nicht früher erworbenes Wissen auf die Welt projizierten. Wenn uns, anders gesagt, nicht gewisse erinnerte Informationen in die Irre führten. Das gleiche gilt für die Enttäuschung. Die Flucht des Gefangenen wird von jemandem verhindert, der den Unterschied zwischen dem auf die Person projizierten Gedächtnisbild und ihrem wirklichen Erscheinungsbild und Verhalten bemerkt. Ein Wärter entdeckt ein Detail, das nicht mit seinem Gedächtnisbild vom imitierten Kollegen zusammenpaßt – und der Coup ist geplatzt.

Obwohl ich ein Beispiel aus dem Bereich menschlichen Verhaltens gewählt habe, finden sich Täuschungsstrategien selbstverständlich in der gesamten belebten Natur. Der Chauvinismus der Menschen mag diese Verhaltens-weise vielleicht einmal als Vorrecht vernunftbegabter Tiere erachtet haben, aber die AI-Forschung hat uns auf Möglichkeiten aufmerksam gemacht, solche verwickelten Prozesse durch interagierende Rechenvorgänge nachzubilden. Ich will mich nicht auf die aktuelle Debatte einlassen, welche Computer-Ressourcen für diesen Zweck am besten geeignet sind. Worauf es mir ankommt, ist, daß jedem Versuch, die Fähigkeit zur Täuschung und Entdeckung von Täuschung in Computer oder auch Organismen einzubauen, eine bestimmte prozedurale Logik zugrunde liegen muß. Die folgenden Komponenten müssen gegeben sein, damit etwas eine Enttäuschung sein kann.
  1. Ein Ensemble von Tatsachen muß für ein kognitives System repräsentiert werden.

  2. Die Repräsentation muß zur künftigen Wiederanwendung gespeichert werden.

  3. Eine solche Wiederanwendung erweist sich als erfolgreich, d. h. die Bedingungen solcher das kognitive System in einer wechselnden Umwelt leitenden Muster treffen vorübergehend zu.

  4. Während Schritt [3] erfolgt ein Zusammenbruch. Die erfolgreiche Wiederanwendung scheitert. Es gibt zusätzliches Material, das im momentan benutzten Muster keine Erklärung findet.

  5. Hier tritt eine entscheidende Wahlmöglichkeit auf: Das kognitive System beschließt entweder,
    [5a] die Störung zu mißachten und sich weiter auf sein erworbenes Muster zu verlassen oder
    [5b] die ursprüngliche Projektion zu überprüfen und eine mögliche Nicht-Übereinstimmung zwischen seinen Vorschlägen und dem Stand der Dinge einzuräumen.

  6. Wird [5b] gewählt und eine neue Repräsentation der Umwelt versucht, könnte ein Vergleich zeigen, daß die erste Projektion in irgend einer entscheidenden Weise unrichtig war. Da es eine sehr große Menge möglicher Divergenzen zwischen Repräsentationsmustern gibt, wobei die meisten für die konkrete epistemische Situation irrelevant sind, muß die Definition der Täuschung auf den Kontext reagieren können. Sie hängt von interessensgeleiteten Gegenkontrollen zwischen kognitiven Projektionen ab.
Die hier skizzierte konzeptuelle Architektur der Täuschung determiniert nicht die Art des Systems, in das sie implementiert werden kann. Sie setzt allerdings einige Leitsätze der Kognitionswissenschaft voraus, vor allem den, daß wir intentionale Systeme untersuchen und konstruieren können. So wie es sich manchmal als äußerst nützlich erweist, eine Sammlung meteorologischer Daten als "Gewitter" oder "Nebel" zu beschreiben, genauso kann man die Arbeitsweise von Mechanismen und Organismen für diverse Zwecke mit Sätzen wie "er glaubt, daß das und das der Fall ist" oder "er geht davon aus, daß diese Bedingungen halten" beschreiben. Zu solchen "propositionalen Einstellungen" wird meist auch das "Gedächtnis" gezählt. Erinnerung ist die Herstellung einer Relation zwischen einer Person und Repräsentationen früherer Zustände. Das sind heikle Fragen, und ich werde daher nur auf zwei Punkte hinweisen, in denen Anmerkungen mitschwingen, die ich bereits in Zusammenhang mit Memas und Memos gemacht habe. Erstens, in meiner funktionalen Darstellung der Täuschung kommt "Gedächtnis" nie explizit vor. Die Kategorie scheint sich in die komplexe Adaptionspraxis eines gegebenen [lebenden] Systems aufzulösen. Der zweite Punkt betrifft den Rahmen, in den die Module, von denen ich gesprochen habe, eingebettet sind. Memas wohnen in Befehlssätzen für Computer, Memos benötigen eine ganz spezifische, geordnete Produktion und Streuung von Proteinen. Die für Memis erforderliche Umgebung ist Intentionalität. Damit ein System lernfähig ist, muß es sowohl imstande sein, zwischen sich und seine Umwelt einen Abstand zu legen, als auch diesen Abstand zu überbrücken [und diesen ganzen Prozeß zu kontrollieren]. Lernen ist lediglich ein anderes Wort für die systematische Veränderung des Gedächtnisses.
MEME
Und Meme? Gibt es für sie ähnliche Spezifikationen, wie die hier um ihrer Abgrenzung willen skizzierten? Die Funktionsweise von Algorithmen, biologischen Prozessen und der Logik gewisser kognitiver Einstellungen läßt sich anscheinend ziemlich detailgenau untersuchen, ohne daß man dazu das Gedächtnis bemühen müßte. Die nähere Betrachtung des Programmiercodes läßt für eine solche Formulierung keinen Grund erkennen, und ähnlich verhält es sich auch in den anderen Fällen. Bei der Ausarbeitung der von mir eingeführten Beispiele wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Gedächtnis haben wir dieses eigentlich aus der Beschreibung eliminiert. Lassen Sie mich das Dilemma ein wenig künstlich zuspitzen. Wir haben uns eine in Oberon geschriebene Prozedur, eine Geschichte über die Vermehrung bestimmter Zellen unter bestimmten Umständen und einige logische Aspekte der System-Umwelt-Interaktion angesehen. Auf den ersten Blick haben diese Dinge miteinander absolut nichts gemein. Formale Instruktionen sind keine Stoffwechselprozesse, und diese sind keine Bewußtseinszustände. Ein Quellcode hat keinen direkten Einfluß auf Lymphozyten, und weder diese noch jener spielen irgendeine erkennbare Rolle beim Vergleichen von Repräsentationen. Wenn ein Wunderheiler behauptet, Sterne, Gebete oder parapsychologische Energien steuerten das Wachstum eines Tumors bei einem wehrlosen kleinen Mädchen, gibt es einen öffentlichen Aufschrei. Zwischen Computerwissenschaft, Biologie und Kognition kann man herumspringen, ohne solche Reaktionen auszulösen. Es wird vielfach als innovativ und aufregend angesehen. Allein das ist schon etwas Bemerkenswertes.

Was ist also der Unterschied zwischen dem Einfluß von Sternen auf Tumore und dem eines Quellcodes auf Lymphozyten? Die naheliegende Antwort lautet, daß die Korrelation im einen Fall vollkommen unwissenschaftlich ist, während die Wissenschaft seit der Entdeckung des genetischen Codes in der Lage ist, relevante Ähnlichkeiten zur Programmierumgebung festzustellen, was allerlei Vorhersagen über die Möglichkeit, biologische Sequenzen einmal mit Computerhilfe umzuschreiben, nach sich zieht. Viel harte Arbeit muß noch in die gegenseitige Feinabstimmung der betreffenden Disziplinen gesteckt werden. Wissenschaftliche Behauptungen sind leer, wenn sie sich nicht in einem übergreifenden Funktionszusammenhang verifizieren lassen. Die Frage ist also: Woher kommt das gemeinsame Muster? Oder in der stenographischen [Pseudo-] Terminologie des vorliegenden Aufsatzes: Wie können Memas mit Memos und Memis interagieren? Das entscheidet sich im Rahmen einer gemeinsamen Struktur auf einer anderen Ebene. Und hier befinden wir uns auf vertrautem Boden. Gedankenassoziationen kommen in Fluß. Die beiden Modultypen verbinden sich zu einem mächtigen kybernetisch-biologischen Gebilde, entstanden aus der Verschmelzung von Computerwissenschaft und Genmanipulation. Mit der Einbeziehung von Verstandesformen erhalten wir ein noch umfassenderes Konstrukt, eine Cyberbiologie gekreuzt mit der autokorrektiven Entwicklung kognitiver Systeme bis hin zur menschlichen Kultur. Mit einem Wort: das Mem.

Einwände? Bevor ich selbst Position beziehe, möchte ich einen eingehenderen Blick auf die diesem transdisziplinären Ansatz zugrundeliegende Argumentationsweise werfen. Die Wissenschaft, so wird unterstellt, könne signifikante Korrelationen zwischen Quellcode, Proteinen und intentionalen Haltungen feststellen. Wodurch wird diese Behauptung gestützt? Worin unterscheidet sie sich von grellen Cyberpunkfantasien? Wenn sie ein Teil des Unternehmens Wissenschaft ist, dann muß sie gewisse überprüfbare methodologische Konstruktionsmerkmale aufweisen, ähnlich jenen, von denen ich hier ausgegangen bin. Als theoretische Konstrukte können Meme Ansehen allein dadurch erwerben, daß sie exakte Funktionen in einem klar umrissenen wissenschaftlichen Projekt erfüllen. Ich bin, wie gesagt, in diesen Dingen kein Experte. Trotzdem möchte ich eine vorsichtige Mutmaßung über ihre konzeptuelle Rolle anstellen. Wenn sie sich für ernsthafte wissenschaftliche Arbeit als nützlich erweisen, so werden sie mit Memas, Memos und Memis auf einer Stufe stehen, und es wird keinen darüberhinausgehenden Appell an die Intuition geben. Die computergestützte Arbeit eines Genetikers hat nichts mit Memen zu tun, sondern mit der bruchstückweisen Aufzeichnung genetischer Information. Genausowenig geht es, um ein anderes Beispiel zu nehmen, in der Drogenforschung um Gedächtnis. Diese erforscht vielmehr physiologische Verstärkungsmöglichkeiten bestimmter Gehirnaktivitäten.
Meine bisherige Darstellung des Falles enthält eine unausgesprochene Voraussetzung. Die Wissenschaft verfügt über gar keinen übergreifenden Gedächtnisbegriff. Sie besteht eher aus einer Vielfalt kleiner und mittelgroßer Untersuchungen, die vielleicht durch weitere ähnliche Anstrengungen synthetisiert werden können. Sie alle sind per definitionem auf einen bestimmten methodischen Rahmen und Gegenstandsbereich beschränkt. Eine Erforschung des "Gedächtnisses an sich" ist undurchführbar. Wie aber können dann Meme überhaupt einen Inhalt haben? Eigentlich hätten wir diese Frage schon von Anfang an stellen können. Warum überhaupt eine algorithmische Prozedur [oder interzelluläre Transaktionen usw.] als Erklärung für etwas heranziehen, das wir Gedächtnis nennen? Im Rahmen der klar definierten Prozeduren, die das Phänomen [zum Teil] zu erklären behaupten, ist die Frage nicht zu beantworten. Sie rührt nämlich an die Beziehung zwischen Wissenschaft und Alltagssprache. Das Gedächtnis spielt für uns einfach eine Rolle. Der Grund, weshalb Wissenschaftler nach seinen pysiologischen, psychologischen und kulturellen Grundlagen forschen, ist seine allgegenwärtige Bedeutung für das menschliche Verhalten. Die Verbindung von Quellcode und Proteinen beruht auf dem allgemeinen gesellschaftlichen Interesse, etwas über den Erinnerungsmechanismus zu erfahren.

All das eröffnet ein Begriffsfeld für fragwürdige Manöver. Ich habe "Meme" als eine Abstraktion rekonstruiert, die irgendwo zwischen konkreter wissenschaftlicher Basisarbeit und einer sehr allgemeinen Alltagsvorstellung angesiedelt ist. Hier herrscht eine ungemeine Spannung; es ist ein Kreuzungspunkt unterschiedlichster Interessen: Politik, das Streben nach individueller Selbsterfüllung und die Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis, um nur drei zu nennen. Ähnlich umkämpft sind in modernen Gesellschaften auch zahlreiche andere Allgemeinbegriffe wie Fortschritt, ökologische Entwicklungsfähigkeit oder Chaos. Solche Begriffe vermitteln einen möglichen Austausch zwischen unterschiedlichen Traditionen und Interessensgruppen. [So markiert z. B. "Evolution" in den USA ein Feld der Auseinandersetzung zwischen anerkannter Wissenschaft und religiösen Fundamentalisten.] Wenn dieses Bild stimmt, liegt viel bei der jeweiligen Grenzziehung dieser vermittelnden Begriffe. Und manches weist darauf hin, daß "Meme" eher zur Verwirrung als zur Klarstellung beitragen. Der Ausdruck wird vielfach verwendet, um den Gedächtnisbegriff des Laien direkt in die Wissenschaft zu übertragen. So wird der Eindruck einer fundierten, der Computerwissenschaft oder Genetik vergleichbaren Gedächtniswissenschaft vermittelt. Gerade im Suggerieren dieser Analogie zu Genen besteht einer der Hauptfaktoren für die Attraktivität von "Memen". Wie ich zu zeigen versucht habe, bleibt jedoch unklar, worauf "Gedächtnis" hier übertragen wird. Es gibt bestenfalls eine Korrelation zwischen einem informellen Begriff und einer losen Anhäufung von Forschungsprojekten. Was diese Projekte miteinander verbindet, ist allein ihre Versammlung unter dem Schlagwort "Meme".

Ich füge jedoch rasch hinzu, daß solche Korrelationen das sine qua non wissenschaftlicher Innovation sind. Nehmen wir einen Ausdruck wie "Proteincomputer". Er verbindet zwei Denkströmungen, die lange für unvereinbar gehalten wurden. Nach den neuesten Vorstößen handelt es sich nun um kein Oxymoron mehr. Es wurde ein klarer Rahmen zur Reorganisation unseres Begriffsgefüges vorgeschlagen. Das folgende Zitat stammt aus einem Artikel über "Protein-Based Computers" [Scientific American 3/1955, S. 70]: "Neben der Erleichterung der Parallelverarbeitung bieten dreidimensionale Würfel aus Bakteriorhodopsin auch viel mehr Speicherplatz [memory space] als zweidimensionale optische Speicher [memories]". Robert R. Birge weiß, wovon er spricht – und vermöge der oben vorgeschlagenen Analyse können wir diesen Satz, selbst wenn er unterschiedliche Funktionsebenen vermischt, auch allmählich mit Sinn füllen. Das allgemeinere Problem jedoch bleibt weiter ungelöst. Es klafft ein Riesenunterschied zwischen der klar definierten Bedeutung des Begriffs "Memory" bei Proteincomputern und den normalerweise mit Gedächtnis assoziierten Alltagsintuitionen. Meine momentanen Erkenntnisse sind nun rasch zusammengefaßt. Die Aufforderung, uns als eine Gesellschaft von Proteincomputern aufzufassen, läuft Gefahr, zwischen Wissenschaft und Science Fiction zu verpuffen.

"Meme" sind ein Kurzschluß und kein Kraftfeld. Eine Vorstellung, deren Hauptzweck anscheinend die plötzliche, ungeordnete Energieentladung ist.