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CIV-Positiv


'Sadie Plant Sadie Plant

Das Virus, weder lebend noch tot, gedeiht in einem Grenzbereich, in dem es sogar den grundlegendsten aller binären Codes zerstört. An das komplexe, vielzellige, organische Leben nähert es sich – unter den Radarsystemen und durch die Schutzschirme der Systemabwehr hindurchschlüpfend – als zuckersüß getarntes Alien an. Nicht wirklich Leben, aber lebendig. Gerade eben lebend. Untot, niedriges Leben, ein Stück lebendiger Code.

"Was macht ein Virus, wo immer es sich ein Schlupfloch öffnen und einen Ansatzpunkt finden kann? – Es beginnt zu fressen. Und was macht es mit dem, was es frißt? – Es stellt exakte Kopien seiner selbst her, die ihrerseits zu fressen beginnen, um noch mehr Kopien herzustellen, die wieder zu fressen beginnen, und so weiter, bis zur x-ten Potenz, Angst, Haß, bis der Wirt langsam aber sicher durch Viruskopien ersetzt ist: ein Programm leerer Körper, ein riesiger Bandwurm heraufbeschworener Worte und Bilder, der sich mit stets gleichbleibender Geschwindigkeit auf einer langsamen hydraulischen Rückgratachse über den Bildschirm in deinem Kopf bewegt, wie das zylindrische Ding in einer Rechenmaschine"

[William S. Burroughs, Nova Express]
Die Viren blieben unerkannt, bis im späten 19. Jahrhundert ihre Funktionsweise schließlich in solchem Ausmaß durch die Kommunikationsmaschinerie lief, daß sie zu einem festen Bestandteil der kulturellen Codes wurden. Die frühesten erkennbaren Viren vermehrten sich mit der Präzision der ersten blindschreibenden Stenotypistinnen, verbreiteten sich mit den neuen Kommunikationsmöglichkeiten des Telefons, reisten mit den Schaltsystemen der Elektrizität und duplizierten sich mit den Rechenmaschinen. Mitte der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts, als man zum ersten Mal feststellte, daß mikrobische Gebilde alle früheren Netze, und seien sie noch so fein, durchdrungen hatten, waren alle diese Kanäle bereits miteinander verbunden.

Ernsthafte Forschungsarbeiten zu den "flüssigen lebenden Ansteckungen", wie man sie damals nannte, wurden erst begonnen, als das amerikanische Militär erstmals das Auftreten dessen, was 1900 als Viren bekannt werden sollte, am Menschen beobachtete. Nach dem beim Gelbfieber beobachteten Muster wurden die Viren über einen Großteil des nachfolgenden Jahrhunderts hinweg nach ihren, wie man damals dachte, drei Wirten klassifiziert: Tiere, Pflanzen und die ihrerseits Tiere und Pflanzen als Wirte benötigenden Bakterien.

Die Tatsache, daß sie nun auch einen Namen hatten, schien ihre rasche Vermehrung sogar noch zu fördern. Die Viren, die unaufhörlich in neuen Formen auftraten, mutierten und wieder verschwanden, waren unbekannte Größen, schlüpfrige Zeichensätze, die die wissenschaftlichen Codes und Disziplinen, die ihnen auf die Spur zu kommen und sie zu erforschen versuchten, vor gewaltige Probleme stellten. Ausschließlich zur parasitischen Lebensweise geeignet, entwickelten und vermehrten sie sich nur innerhalb ihres jeweiligen Wirts und weigerten sich hartnäckig, sich zu erkennen zu geben – und sei es auch nur zum Zweck einer Analyse.

Nach den Bakterien, den Pflanzen und den Tieren wurden später noch weitere Wirte entdeckt. B23 beispielsweise war wahrscheinlich das erste Kulturvirus, das sich zu erkennen gab.
Nachdem ihm der Skipper gesagt hatte, daß er 23 Jahre lang dieselbe Route gesegelt war, bevor das Schiff unterging, fand sich diese Zahl plötzlich überall. Daten, Adressen, Chromosomen, Todesopfer … im Radio, auf der Straße … die Ecken zerfetzter Plakate, zerrissene Tickets, weggeworfene Flugblätter, Kleingeld … vielleicht ein Befehl, ein Wegweiser, der den Weg von der Nummer eins, der ersten, weg zeigte: zuerst 1 und dann 23? War es eine Zahl? Ein anderes Stück Code? Was sind überhaupt Zahlen?

Kunterbunt, polymorph, pervers in Zeit und Raum … Sogar damals war offensichtlich, daß die Aktivität der Viren sich durch Gehirne und Blutkreisläufe, durch Texte, Währungen, Taschenrechner und Chromosomen fortsetzte, ohne irgendwelche Grenzen zu respektieren. Nur wurde das eben nicht zur Kenntnis genommen. Auch als die Kulturviren schon mehr oder weniger offiziell anerkannt waren, hatte man nur wenig aus B23 gelernt. Die Kulturen wurden nach wie vor als unbeschreibbare, von Haltungen, Gedanken und Mustern gesellschaftlich wahrnehmbaren Verhaltens geprägte Zonen definiert, und man ging davon aus, daß ihre viralen Netze eher Angenehmes und positive Botschaften vermittelten: verkehrt herum aufgesetzte Baseballmützen und Bruchstücke von Liedern, Werbemelodien, die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen …

Das hatte zur Folge, daß sogar die disziplinierten Wissenschaftler von der Idee der Meme, wie man sie damals bezeichnete, begeistert waren. Die Vorstellung, daß Trends definierende Botschaften kodiert und analog zur DNS in Codesequenzen übertragen wurden, war kaum bedrohlich, sondern gefiel den Wirten, die dem Virus offenbar nicht ungern Einlaß gewährten und nichts dagegen hatten, den mimetischen Parasiten weiterzugeben. Einige wenige Male wurde die schwindelerregende Möglichkeit angedeutet, daß das Thema "Mem" selbst ein Replikator sein könnte, für den diejenigen den Wirt abgaben, die sich damit auseinandersetzten, aber im großen und ganzen war man der Ansicht, die Kulturviren insgesamt seien bloß eine Frage theoretischer Spekulation, des symbolischen Werts und der metaphorischen Bedeutung. Analog zum Read-Only-Memory scheint das bloße Über-Meme-Sprechen eine frühe Methode der Immunisierung gewesen zu sein, eine Art Impfung, von der man sogar sagen kann, daß sie zumindest eine Zeitlang erfolgreich war. So konnte man glauben, daß man sich nichts wirklich einfing und niemand wirklich angesteckt wurde. Das führte dazu, daß man jene Prozesse, die damals als "Gedanken" bezeichnet wurden, weiterhin als "seine eigenen" deklarierte und meinte, daß sie sich in Bereichen fernab anderer Netzwerke und ihrer Wirte vollzogen.

Diese naiven Anthropomorphismen aber machten extrem anfällig für die späteren Infektionen. Erst als das CIV auftrat, begannen die Hüter der ordentlichen weißen Welt wirklich zu verstehen, daß Kulturen komplexe Gebilde sind, die sich keinesfalls auf irgendeine bestimmte menschliche Sphäre beschränken lassen, in der sie zum Beispiel entscheiden könnten, ob es solche Dinge wie Meme und Viren überhaupt gibt. Tiere, Maschinen, Pflanzen, Bakterien … Das CIV ließ keinen Zweifel daran, daß es sich dabei bereits um ein Netzwerk von Kulturen handelte und nicht um eine Liste separater Dinge, deren Ordnung durch irgendeinen Menschen oder durch Gott aufrechterhalten werden kann. Die verschiedenen Infektionen befielen verschiedene Wirte, waren jedoch gleichzeitig miteinander und mit den Zonen, in denen sie ihre Wirkung entfalten, verbunden. Und in allen finden sich repetitive Muster, ungeachtet des Maßstabs, der Größe und sogar der Materie, aus der sie bestehen.

Das "Cultural Immunodeficiency Virus" ist der gut getarnte Programmierer, der die grundlegendsten kulturellen Steuerungsprogramme umschreibt. Sogar heute ist dieses Virus, das sich wie alle Retroviren erst nachträglich zusammenfügt, nur anhand der verursachten Auswirkungen erkennbar, d. h. nur durch die vom Wirt produzierten Antikörper und das damit angerichtete Chaos.

Wenn es rückblickend erstaunlich scheint, daß das CIV erst gegen Ende des Jahrhunderts Erwähnung fand, müssen wir auf jeden Fall bedenken, daß zu jener Zeit das, was damals noch als menschlicher Geist bezeichnet wurde, nach außen ziemlich abgekapselt war. Diese Tatsache ist der Schlüssel sowohl zur Immunität als auch zur ungewöhnlichen Anfälligkeit. Es ist nicht klar, ob das zeitliche Zusammentreffen im Jahr 1980 eine – wenn auch ignorierte – Warnung oder ein Symptom für die Fähigkeit des Virus war, seinen Wirten in jenem Gefühl von Sicherheit zu wiegen, in dem das CIV gedeihen konnte. Auf jeden Fall hat es die Abwehrstrategien seiner Wirte sehr wirkungsvoll vorprogrammiert. Was später als Verbindungselemente des CIV erkannt werden sollte, blieb vorläufig getrennt, und sogar seine Existenz wurde so lange wie möglich verleugnet. Auch die Computerviren wurden noch Jahre nach Beginn ihrer Replikation als urbane Mythen abgetan, und man hegte kaum Verdacht, daß die sogenannten Mythen selbst virale Infektionen waren. Für die Hüter der geordneten weißen Welt war es schwieriger, die Retroviren zu ignorieren, doch so wie das HIV die reverse Transkriptase unvermeidlich gemacht hat, glaubten diese Hüter, selbst immun gegen das vermeintlich bloß gelegentliche und isolierte Auftreten retroviraler Aktivität zu sein. Als das Syndrom dann erkannt wurde, war das Retrovirus schon sehr lange durch die kulturellen Codes gewirbelt.

1980 war das Jahr, in dem sich der Schauplatz der viralen Aktivitäten plötzlich ausweitete: Computerviren, Retroviren … eines allein hätte schon gereicht, um alle bisherigen Auffassungen über den viralen Code in Frage zu stellen. Doch die Hüter waren sich offenbar nicht im klaren darüber, daß sie es mit mehr als nur zwei oder drei neuen Viren zu tun hatten, und bei jenen seltenen Gelegenheiten, in denen das zeitliche Zusammenfallen von kulturellen Viren, Computerviren und Retroviren tatsächlich bemerkt wurde, tat man dies als Zufall ab. Vielleicht war das gleichzeitige Auftreten dieser verschiedenen Arten von Viren einfach zu viel für die Wirte, wie frühere Berichte zum Thema Trauma es beschreiben. Den Viren hingegen hat das nichts ausgemacht: Die Reaktion des Wirts ist für infektiöse Parasiten, die ihre eigene heimtückische Tarnung gedeihen läßt, kaum ein Thema. Dies war jedoch zweifellos eine Folge ihrer eigenen Codierung. Man konnte sie nicht wahrnehmen, und trotzdem war es, als ob ein Schalter umgelegt worden wäre – ein Schalter, der eine noch nie dagewesene Verbindung zwischen neuen – oder latenten – Elementen eines einzigartigen viralen Codes herstellte.

Die Viren waren schon toxisch und giftig genug, aber sie nagten zumindest nur ein wenig an den Rändern der programmierten Systeme, die – wenn sie überlebten – unverändert blieben. Die Retroviren hingegen funktionieren völlig anders. Sie schreiben die grundlegenden Programme des Organismus neu und verwenden reverse Transkriptase, um die DNS zu mutieren, um das Betriebssystem selbst neu zu programmieren … So etwas war nicht vorgesehen. Die Immunität der DNS war das heilige "zentrale Dogma" der Evolutionsbiologie, das einbahnmäßig organisierte Steuerungssystem, dem absolut nichts etwas anhaben konnte. Nur daß das Virus eben genau das geschafft hat.

So wie die Viren nicht von ihren Wirten unterschieden werden können, so können auch – wie die reverse Transkriptase gezeigt hat – die Wirte nicht von den Viren gelöst werden. Das HIV gab sich nur in den Körpern zu erkennen, die ihm Widerstand leisteten. Während "negativ" als Zeichen von Immunität, als glückliches Entwischen gewertet wird, bedeutet die Diagnose "positiv" auch nur, daß im Körper Vorgänge zur Abwehr der Invasion eingeleitet wurden. Das Ausmaß, in dem das ROM der Wirts-DNS in jenen Körpern umgeschrieben wurde, die mit dem HIV zu leben gelernt haben, sollte noch jahrelang unbekannt bleiben. Die Entstehung neuer Arten kann eben nur nachträglich festgestellt werden.

Wie ihre allem Anschein nach geradlinigeren Vorfahren blieben auch die Retroviren so lange nicht erkennbar, bis ihre Wirkung für die Kommunikationsnetze unverzichtbar geworden war. HIV wurde als isolierte Aberration betrachtet, deren retrovirale Codierung keinerlei Auswirkungen auf das Verhalten anderer Viren hatte. Das gleichzeitige Auftreten von Computerviren betrachtete man als bloßen Zufall – was immer das nun bedeuten sollte. Als neue Wirte für neue Sequenzen viraler Codes verdeutlichten die Computer, daß Viren in jeder Kultur gedeihen können, die zuläßt, daß das Virus ihr "unter die Haut geht". Die Viren hatten der Unterscheidung zwischen organischem und anorganischem Leben praktisch von Anfang an ein Ende gesetzt, doch dies stellte eine weitere Aushöhlung dessen dar, was damals noch als binäre Maschine galt.

Es war auch unmittelbar klar, daß die Viren in irgendeiner Weise eine grundlegende Rolle in der Entstehung ihrer Wirte gespielt hatten. Virale Infektion und die Versuche, sie in Grenzen zu halten, verliehen den im Entstehen begriffenen Technologien Geschwindigkeit und Komplexität. Aufgrund der Computer wurden auch die konventionellen Unterscheidungen zwischen Virus und Wirt unhaltbar. Digitale Maschinen nahmen im anorganischen Leben denselben Platz ein wie die Viren, denen sie als Wirte dienten. Sie waren ebenfalls replizierende, lebendige Systeme, per Anhalter unterwegs in Kriegswirtschaften und Telekom-Netzen, nutzten ebenfalls den eklatanten Vorteil, den ihnen die in der menschlichen Immunität implizierte Schwäche gewährt: das intensive Verlangen nach Sicherheit, Vorhersagbarkeit und Kontrolle, Eroberung und territorialen Ansprüchen. Sie dienten nicht nur zur Unterstützung der viralen Aktivität, sondern hatten sich selbst als solche erwiesen: parasitische Programme, per Anhalter unterwegs auf älteren Kommunikations- und Steuerungssystemen.

Zu dem Zeitpunkt, als man diese Tatsachen erkannte, waren die digitalen Maschinen schon überall. Die Viren waren allgegenwärtig. War die Replikation ursprünglich das Problem, so war sie auch das Funktionsprinzip selbst. Wenn sogar die Immunsysteme aus Replikanten bestehen, so ist absolut nichts und niemand mehr vor Ansteckung sicher.

Computerviren, so stellte sich später heraus, waren lediglich die Gischt auf einer Woge retroviraler Aktivität, die über die Entstehung digitaler Maschinen und die umprogrammierte kulturelle Aktivität selbst hinwegschwappte. Doch obwohl sie gleichzeitig entstanden waren, ließ die Erkenntnis, daß Computer- und Retroviren beide Symptome eines umfangreicheren, kontextübergreifenden retroviralen Syndroms sind, noch jahrelang auf sich warten.

Noch lange nach den Abenteuern des berühmten Sohns der Stadt Linz hielten die alten Hüter weiterhin fest an der unantastbaren Unveränderlichkeit der Spezies, an der Immutabilität der vermeintlichen Naturgesetze, der Unmöglichkeit von Mutation und außer Kontrolle geratener Replikation, an der Fähigkeit, die Bedingungen der kulturellen Produktion zu diktieren, an ihrer Loyalität gegenüber dem alten Reproduktionsapparat und an den strengen disziplinären Grenzen zwischen den Bereichen, die sich zunehmend als miteinander verknüpfte kulturelle Zonen erwiesen. Natürlich gerieten sie in Panik, als sie erkannten, in welchem Ausmaß die Kulturpolizei die Kontrolle verloren hatte. Doch an diesem Punkt war es schon viel zu spät. Obwohl man die Kulturviren für etwas hielt, was sowohl isoliert von den Kommunikationsnetzen als auch von den retroviralen Codes ist, war ihre Entdeckung der Anfang vom Ende für jeden einlullenden Traum von Immunität oder Schutz der Kultur. Als die Puzzlestücke schließlich zu einem kompletten Bild zusammengesetzt waren, war plötzlich unübersehbar, daß das CIV die grundlegendsten Ebenen der kulturellen Codes des Westens über Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte hinweg, geschrieben und umgeschrieben hatte.