Nur keine Panik vor der Memetik
'Douglas Rushkoff
Douglas Rushkoff
Ich bin gewiß kein Wissenschaftler, ja nicht einmal Sozialtheoretiker im engeren Sinn. Ich bin nur ein Amerikaner, der wahrscheinlich viel zu viel ferngesehen und etwas zu viel Zeit online verbracht hat. Ich habe einige Bücher geschrieben – Media Virus, Cyberia und Playing the Future – und auf mein Plädoyer für cyberutopische, anscheinend als faschistisch interpretierte Meme hitzige Attacken geerntet. Das Mem, das mir dabei am meisten Schwierigkeiten bereitet hat, war das Mem "Mem" selbst. Obwohl viele Sozialwissenschaftler ursprünglich das Konzept der Meme bereitwillig aufgegriffen haben, weil es eine doch ziemlich inexakte Disziplin in der Sprache der ernsten Wissenschaft zu verankern wußte, hat sich die Diskussion über die Effizienz derselben bei der Beschreibung kultureller Phänomene rasch in eine Panikmache vor neo-eugenischem, zivilisationsweitem Faschismus bewegt.
Diese im philosophischen Jargon gehaltene Diskussion ist nichts weiter als eine besser artikulierte Version der in den USA in so banalen Foren wie Talk Radio, Präsidentschaftsvorwahlen und Fernsehprediger-Shows gepflegten Dialektik. Das ganze negative Getue um Meme und Neo-Evolutionstheorie geht in Wirklichkeit auf eine tief im Menschen verwurzelte Angst zurück. Wir fürchten anscheinend, daß wir, auf uns allein gestellt, einander vergewaltigen und ausplündern. Der unkontrollierte Mensch, so warnen vorsichtige Sozialtheoretiker, drängt unaufhaltsam Richtung Faschismus.
Ich glaube das nicht.
Meme als treibende Kraft hinter der kulturellen Innovation zu akzeptieren, ist ein logischer und angemessener Schritt in einer Welt, in der Medien, Internet und andere globale Netze genug Verkehr und Turbulenz erzeugen, um unsere sich kreuz und quer überschneidenden Kulturen zu einem selbständigen, chaotisch-dynamischen System zu machen. Wie jedes natürliche System ist auch dieses ein freier Markt – nicht der Gene oder Arten, sondern der Ideen. Nur die besten oder nützlichsten kommen durch.
Allerdings ist es ein Unterschied, ob man Evolutionsabläufe innerhalb der Gesellschaft beobachtet oder Sozialdarwinismus betreibt. Nur weil Darwin, rückblickend, seine Evolutionstheorien anscheinend dazu verwendet hat, das Malthus’sche Rassenschema zu rechtfertigen, heißt das noch lange nicht, daß jeder, der die Evolution versteht, zugleich für imperialistische Konzepte, wie das eines unvermeidbaren Rassenkrieges oder einer mit Umweltgründen legitimierten ethnischen Säuberung, empfänglich sein muß.
Dennoch protestieren sowohl Sozialtheoretiker als auch gottesfürchtige Christen umgehend, sobald ich offen von Memen spreche.
Die Sozialtheoretiker sind Opfer einer vom Sozialpessimismus getragenen Kampagne, die meines Wissens kurz nach dem Ersten Weltkrieg ihren Anfang nahm. Die paar Mächtigen, denen es gelungen war, Krieg und Faschismus relativ unbeschadet zu überstehen, entwickelten eine perverse Sozialtheorie, die Überwachung über alles andere stellt. An den Hochschulen wurde Sozialwissenschaftlern beigebracht, daß die Massen zu dumm seien und sich zu leicht in Richtung einer so destabilisierenden Sozialpolitik, wie es der Nationalsozialismus ist, lenken ließen, weshalb sie von einer aufgeklärten Elite angeführt werden müßten. Die Massen müßten durch Umfragen und andere Testverfahren sorgfältig überwacht und analysiert werden. Anschließend sollte man entsprechende Korrekturen der PR-Strategien vornehmen.
Kein Wunder, daß Sozialwissenschaftler dieser Schule – und von uns sind mehr von dieser Umerziehungskampagne betroffen, als wir offen zugeben – die Behauptung zurückweisen, Kultur selbst sei ein Ausdruck der Evolution oder – noch schlimmer – Technologie ein Ausdruck der kulturellen Evolution. Für sie ist die Gesellschaft ein Ozean, den man bändigen muß; sie erkennen nicht, daß ihre Sozialtheorien nur provisorische Stopfen in einem Damm sind, der der Flut niemals standhalten wird.
Meme kann es nicht geben, führen sie an, denn gäbe es sie, wäre alles verloren. Trifft das Mem-Konzept zu, so befürchten sie, muß Kulturkrieg Grundmuster der Zivilisation sein. Sie glauben, daß nur die am besten "angepaßten" sozialen Ideen überleben werden und daß diese "bestangepaßten" – d. h. von den dummen Massen vertretenen – Ideen Faschismus und Rassenkrieg heißen. [Mit welchem Gefühl, frage ich mich, wachen Leute morgens auf, die glauben, daß der ungezügelte menschliche Wille alle anderen zu vernichten trachtet?] Was die Sozialtheoretiker übersehen, ist, daß die Evolution nicht immer bestimmte Individuen anderen gegenüber begünstigt.
Die natürliche Auslese kommt gelegentlich zum Tragen, wenn nicht genug für alle da ist. Sehr oft aber ist der einfachste Weg, das Überleben eines Individuums zu sichern, der, das Überleben der anderen zu sichern. Aus diesem Grund jucken Mückenstiche und wirken schweißtreibend [damit die anderen Mücken uns riechen können]. Dadurch können Mücken sich gegenseitig im Überlebenskampf helfen. Könnte die ungezügelte soziale Evolution es uns nicht ermöglichen, ein globales Bewußtsein zu entwickeln? Wenn Malthus tatsächlich in einigen Bereichen recht behielte und die Ressourcen auf diesem Planeten beschränkt wären, wäre es dann nicht am besten, ein globales Miteinander zu entwickeln? Können wir nicht das Internet und andere Kommunikationstechnologien als Artikulation eines überwältigenden kulturellen Überlebensmechanismus sehen, der das aufkeimende globale Bewußtsein zumindest fördert?
Die Fundamentalisten können das nicht. Wie die bedauernswerten Sozialtheoretiker entwickelten sie ihre eigenen Techniken zur Bewußtseinskontrolle, um den Fortgang der sozialen Evolution zu stoppen. Ihre Absicht war es, sich Veränderungen entgegenzusetzen und die eigene Macht zu bewahren; ihre Technik bestand darin, das Christentum – eine wirklich äußerst progressive Religion – zu einer anti-evolutionären Ideologie zu verzerren. Ihrer Meinung nach ist der Mensch in seinem Innersten ein Sünder. So sind wir geboren, und ließe man uns frei herumlaufen, würden wir zwangsläufig unseren niedrigsten Begierden nachgeben.
Die Mythologie der Apokalypse unterscheidet sich kein bißchen von der Malthus’schen Furcht vor der Umweltzerstörung. Den Fundamentalisten dient die Apokalypse dazu, den Fortschritt zu leugnen. Für sie hat jede Geschichte ein Ende. Die einzige Wahl, die uns Menschen bleibt, ist, ob wir am Tag des Jüngsten Gerichts "gerettet" werden wollen oder nicht. Um gerettet zu werden, müssen wir uns in die Rolle als Kinder Gottes fügen. Kinder, die man nie selbst urteilen lassen darf. Nein, wir ergeben uns dem Urteil des Herrn und bleiben, kulturell gesehen, präpubertär.
Wer Meme und Evolution fürchtet, fürchtet in Wahrheit nur den Fortschritt. Deshalb hassen so viele beredte Sozialtheoretiker uns Pro-Internet-Utopisten der kalifornischen Schule und nennen uns blinde Optimisten, um so jegliche Zukunftsvision, die nicht auf Vorsicht, Überwachung und dem Einbremsen der kulturellen Dynamik besteht, zu diskreditieren. Diejenigen, die glauben, daß man die Apokalypse auf keinen Fall abwenden kann, haben einen künstlichen Wettlauf mit der Zeit initiiert. Ich aber sage euch, es gibt sehr wohl einen Ausweg. Veränderung. Fortschritt. Evolution.
Die Evolution bekämpfen heißt, die einzige Möglichkeit, uns an die Welt der Zukunft anzupassen, zu minimieren. Die Zivilisation beginnt nur dann, sich so zu verhalten wie die Natur selbst, wenn so viele Meme bewegt und ausgetauscht werden, daß Turbulenzen entstehen. Wenn wir versuchen, die Übertragung von Memen durch die Kultur zu bremsen, werden wir mit Sicherheit dahinwelken und verrotten wie die durch übermäßige Inzucht geschwächten Königsfamilien vergangener Tage. Nur wenn wir der Memesis nach dem Motto "Bahn frei!" begegnen, können wir hoffen, der Natur in ihrem evolutionären Streben nach mehr Bewußtsein, Organisation und dynamischem Zusammenspiel zu helfen.
Aber ich glaube, ich sollte mir keine Sorgen machen. Die Anti-Evolutionisten stehen auf verlorenem Posten. Da ihre Meme letztendlich nur sozialen Verfall weitergeben, werden sie auf lange Sicht unweigerlich vom Erdboden verschwinden.
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