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Medienkultur


'Robert Adrian X Robert Adrian X

1839, im Jahr, als Charles Darwins Notizbücher von seiner berühmten Forschungsreise an Bord der "Beagle" erstveröffentlicht wurden, stellte auch Daguerre sein "Daguerrotypie"-Verfahren öffentlich vor. Das hat nichts miteinander zu tun? Gewiß – aber ist es wirklich bloß ein Zufall? Die Ideen, die Darwin und Daguerre inspirierten, hatten seit mindestens einem Jahrhundert in der Kultursuppe gebrodelt und auf ihre Formulierung gewartet. Als zwanzig Jahre später Darwins Die Entstehung der Arten erschien, war die Fotografie längst ein etabliertes Medium, und es waren bereits die ersten Schritte in der Fotogravur und Fotolithographie, in der Telegraphie und in der Tonaufnahme unternommen worden - das Zeitalter der "technischen Reproduzierbarkeit" (1) hatte begonnen.
Ebenso wie Darwins materialistische Theorie der Evolution durch natürliche Auslese die Metaphysik unterminierte, so zerschlugen die Fotografie und andere Aufzeichnungstechniken das Mysterium der Repräsentation. Künstler sahen sich plötzlich mit von Technikern bedienten Geräten konfrontiert, die ein objektives, authentisches Bild der Welt zu liefern behaupteten. Das war jedoch erst der Beginn einer Lawine von technischen Revolutionen, die schließlich die gegenwärtige Medienkultur hervorbrachten. Medienkultur, das sind die Bilder, die am Fernsehbildschirm vor unseren Augen vorbeiflimmern. Die Medienkultur ist stets gegenwärtig, immer "jetzt". Es ist, als wäre der Bildschirm eine Art Leselupe, die über ein unendliches Feld von Ereignissen gleitet, denen es an jeder narrativen bzw. zeitlichen Abfolge mangelt. Seit Erfindung der Fotografie ist jedes Bild Teil dieses Feldes, gleichermaßen präsent, gleichermaßen "jetzt": wie die Geister der lang verstorbenen Schauspieler – Bogart, Chaplin, Monroe – die nach Mitternacht unsere Bildschirme bevölkern. Seit Edison seinen Phonographen auf den Markt gebracht hat, werden wir von den Stimmen der Toten heimgesucht. Die Medienkultur ist virtuelle Geschichte, die aus dem unerschöpflichen Reservoir der Töne und Bilder – manche ein Jahrhundert, manche eine Stunde, manche eine Sekunde alt – tagtäglich neu zusammengesetzt wird – eine Vielzahl von Ansichten eines einzigen Moments: des Moments der Aufnahme, des Erfaßtwerdens durch das Aufzeichnungsmedium.

DUCHAMP, WARHOL UND DIE NEUE WELTORDNUNG
Marshall McLuhan – so Arthur Kroker – gab Seurat immer eine Sonderposition als "Kunstdrehscheibe zwischen dem renaissancehaften Visuellen und dem modernen Taktilen. Verschmelzung von Innen und Außen, von Subjekt und Objekt. [...] Seurat zeigte uns ein eindringliches Bild der Epoche des "verängstigten Objekts". (2) Ohne McLuhans [oder Krokers] Seurat-Begeisterung in Abrede stellen zu wollen, entdecke ich hier ein weiteres Beispiel für die Neigung von Philosophen, Kunst als etwas zu betrachten, das sich auf Malerei und Bildhauerei beschränkt.

Seurats Faszination für die neuen Wahrnehmungstechnologien und seine Erkenntnis, daß man das Bild der Welt auf der Netzhaut als fragmentierte Licht- oder Farbpunkte empfängt, war ein wichtiger Entwicklungsschritt weg von einer reinen Repräsentationskunst. Doch Seurats vorzügliche Kunst blieb selbst immer nur Repräsentation der Fragmentierung und Dematerialisierung. Erst in der Generation nach Seurat, nach dem Zusammenbruch der Newton’schen Physik und dem Auseinanderdriften der Paradigmen in der Topologie der spätindustriellen Kultur, traten wirklich "verängstigte Ojekte" auf – Objekte, die sich ihrer Identität nicht sicher und auf Vermittlung angewiesen waren. Die berühmtesten sind Duchamps "Ready-mades", die aus der Zeit direkt vor oder während des ersten großen Industriekrieges datieren.

Die "Ready-mades", die – in ihrer Identität als nützliche Alltagsgegenstände – einerseits "sie selbst" und – in ihrer Identität als Kunstwerke – zugleich "etwas anderes" sind, werden in diesem Spannungsfeld zum reinen Inhalt [oder reinen "Sinn"] – ein Medium ohne Botschaft wie McLuhans elektrisches Licht. (3) Es ist sicherlich kein Zufall, daß dieses ikonoklastische künstlerische "Statement" genau im selben Moment in die Auseinandersetzung über die Natur der Welt eintrat, als die Revolutionen in Linguistik, Physik, Psychologie und Wirtschaft die rationalistischen Gewißheiten des 19. Jahrhunderts erschütterten – und genau in dem Moment, als das Industriezeitalter seinen langen Zerfall begann, der schon bald durch die Sprengkraft der industriellen Kriegsführung beschleunigt werden sollte.

Mit dem "Ready-made" ist das vermittelte Objekt geboren – ein Objekt, das durch Ankündigung, Erklärung, Verhandlung hergestellt wird. Das "Ready-made" zeigt deutlicher als alle verschlungenen semiologischen Texte sämtliche Probleme von Signifikant und Signifikat im Kontext der industriellen Erfahrung: die fragwürdige Identität von Millionen identischer Produkte, die Trennung von Inhalt und Kontext in der "Marken"-Vermarktung, die Ausweitung der Massenproduktionstechniken auf die Massenmordmaschinerien der 40er Jahre – oder auch der industriellen Automationstechnologie, die sich im Golfkrieg als automatisierte Tötungsmaschine zu erkennen gegeben hat.

Etwa 50 Jahre nach Duchamps prophetischem Statement und 15 Jahre nach dem zweiten großen Industriekrieg begann Andy Warhol mit der Ikonographie der "Logolandschaft" amerikanischer Küchen, Supermärkte und Medien zu arbeiten. Nach dem Duchamp’schen Prinzip waren die Suppendosen-Logos in Andys Studio – in einem schillernden und verwirrenden Wechselspiel von Identitäten – zum einen sie selbst als Industriegüter und gleichzeitig ein Warhol-Kunstwerk. Warhol erforschte in der Folge die ganze Bandbreite medialer Flüchtigkeit im 20. Jahrhundert: Er entwickelte den gefährlichen Begriff der "Business-Art" [im Gegensatz zum "art business"], verwischte seine Identität, indem er ein "Double" und einen Warhol-Roboter erfand, gründete eine Fabrik, ein Filmstudio, eine Popgruppe [Velvet Underground] , eine Zeitschrift [Interview] und die Promotionsmaschine, die ihn zu einer Medienpersönlichkeit und einem Kulturhelden machte. Nichts was Warhol machte, hatte viel Substanz oder "Qualität" – und Warhol tat alles, um "Substanz" und "Qualität" zu vermeiden. In der Kultur des Kommerzes ist alles durch die Fragen "Hat es sich verkauft?" und "Für wie viel?" bestimmt, und Warhol gelang es, diese Fragen zu einem Teil des Inhalts seiner Kunst zu machen. Der Erlös aus dem Verkauf der Bilder und anderen Produkte Warhols und seiner Factory floß größtenteils in das, was ich das Warhol-Projekt nenne. Als es durch seinen Tod im Jahr 1988 beendet wurde, war Warhol – wie das Thema eines Großteils seiner Arbeit – zu einem "Markenzeichen" und – wie bei einem "Markenartikel" üblich – das Logo auf der Verpackung wichtiger als der Inhalt geworden.

Auch hier ist es wohl kein Zufall, daß Warhol mit seiner Dekonstruktion der zeitgenössischen amerikanischen Medien– und Marktideologie zur selben Zeit begann, als McLuhan Die Gutenberg-Galaxie, Barthes’ Mythen des Alltags und Thomas Kuhn Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen schrieben. Das Studium Warhols verrät Ihnen alles, was Sie über die verführerischen Oberflächen der Konsumkultur lieber nicht wissen wollen.
THE REAL THING
Einer der Zwiddeldum-Zwiddeldei-Zwillinge der internationalen Limonadenproduktion – der größere der beiden – vermarktet seine Sorte süßer, brauner, prickelnder Flüssigkeit in einer Aluminiumdose, die mit dem Slogan "The Real Thing" bedruckt ist. Neben dem Slogan ist die berühmte "Original"-Flasche abgebildet – scheinbar ein Porträt des "Real Thing". Man muß keine Semiologe sein, um die semantische Unschärfe zwischen Slogan, Bild, Dose und Doseninhalt zu bemerken, die sich jeder eindeutigen Lektüre widersetzt. Es ist unmöglich, die Dose von ihrem Kontext zu unterscheiden oder auch nur festzustellen, worin der Kontext und worin der Inhalt besteht – es flimmert alles in jenem Dunst aus Suggestion, Versprechen, Halbwahrheit und Hype, den wir als "Marken"-Vermarktung kennen.

Ist "The Real Thing" die Originalflasche? Der Doseninhalt? Das Logo? Alles zusammen oder eine beliebige Permutation dieser Dinge? In der Art eines Duchamp’schen "Ready-made" wird die Dose in einen Dialog mit sich selbst über ihre Identität und Bedeutung gezwungen, während die Person, die den Inhalt trinkt, überzeugt ist, am "Real Thing" zu partizipieren, d. h. an einem Kulturritual des 20. Jahrhunderts teilzunehmen. Das Unternehmen aber weiß, daß das wirkliche "Real Thing" der Verkauf der nächsten Dose Cola ist.

Im Dunst von "The Real Thing" lassen sich aber noch andere dunkle Bedeutungen ausmachen. Die Originalflasche, designt in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts, ist zu einer der auffälligsten Kommerz–Ikonen des 20. geworden, während das Firmenlogo in seiner Rolle als Zeichen einer globalen Kultur praktisch ein Synonym für "Amerika" geworden ist. Die rot-weiß-blaue Fahne mit den Sternen und Streifen mag vielleicht das politische Amerika symbolisieren, aber für die amerikanische Ideologie des "freien Marktes" steht heute der rot-weiße Schriftzug des Zwiddeldum-Logos – und die Marketingstrategie der Firma und ihre Propaganda für einen bestimmten "Lifestyle" hat beim Sieg über die Feinde des Kapitalismus keine geringe Rolle gespielt.

Wenn Sie es schaffen, mit Ihren Sinnen durch das Gewölk aus Marketing-Hype, Lifestyle-Geschwätz und Marktgerangel zu dringen, werden Sie vielleicht bemerken, daß das wirklich "reale" am "Real Thing" die coole Projektion einer drohenden ideologischen Monokultur ist – der Triumph des Stils über die Substanz und das Ende des kulturellen und politischen Pluralismus.
DAS VERMARKTUNGSMEM
Zweifellos haben die unglaublich erfolgreichen Verkaufsmethoden der Markenvermarktung etwas sehr "Memesisartiges". Meme sind von derselben wolkigen, dekontextualisierten Unschärfe umgeben wie erfolgreiche Markenartikel. Alle unsere Gehirnvorgänge, die nicht irgendeine lebenserhaltende oder muskelsteuernde Funktion haben, sind Meme ... und das Mem "Mem" ist die Grundlage dafür. Wie die integrierte, raffinierte "Lifestyle"-Marketingstrategie des ausgefuchsten Markenmanagers ermöglicht das Mem "Mem" den Erwerb weiterer Meme, d. h. es redet einem ein, daß alles, was man denkt, ein Mem sei, und daß das ein ganz natürlicher Zustand sei.

In den alten prä-postmodernen Zeiten wurde "Lifestyle" häufig mit "Ideologie" verwechselt, doch im Memetik-Paradigma ist Ideologie tabu. Wenn wir die Idee memetischer Evolution auf die Strategie des "Lifestyle"-Marketings anwenden, können wir schon bald von Memetic Engineering sprechen, das Werbe- und Public-Relations-Programme [und selbst Propaganda] so umzuformatieren erlaubt, daß sie wie eine memetische Evolution aussehen. Memetic Engineering wird den Kauf von Memen ermöglichen. Das heißt, Sie werden eine Firma von Memkonstrukteuren [PR-Beratern] anheuern können, um ein paar geeignete Eigenschaften für die memetische Implantierung zu konstruieren ... zum größeren Wohle Ihres Produkts, Ihres Unternehmens oder Ihrer politischen Partei. Kommerzielle oder politische "Meme" können so gebaut werden, daß sie sich in einer selbsterhaltenden Symbiose replizieren – andere memetische Territorien kolonisieren und in einem künstlichen Selektionsprozeß redundante Vorstellungen ersetzen [oder sollten wir "zurechtstutzen" sagen?].

Nicht, daß das wirklich etwas änderte – es ist bloß ein neuer Name für denselben alten Prozeß. Unglücklicherweise jedoch überträgt er die darwinistische Vorstellung von der Unausweichlichkeit der genetischen Evolution auf die memetische Evolution der Ideen und Kulturen und damit automatisch auch auf die Kultur der Medienmanipulation, die als Werbung bekannt ist. Das Mem "Mem" unterstellt listig, daß das "Kalte-Bier-Mem", das "Freie-Markt-Mem", das "ein-Auto-in-jeder-Garage-Mem" auf dieselbe Weise "Überlebende" im evolutionären Wettrennen der natürlichen Auslese sind, wie sich eine Art nach Millionen Jahren genetischer Evolution herausbildet.

Dawkins’ überschlaue Wortwahl, nach der sich "Mem" fast auf "Gen" reimt, lädt auf leichtsinnige und gefährliche Weise zu Verwechslungen ein. (4) Das Konzept des Mems ist ein ausgezeichnetes metaphorisches Vehikel, um bei Genetikern, Sozialwissenschaftlern und Philosophen eine Diskussion über das Wesen des Paradigmenwechsels und des kulturellen Wandels anzuzetteln. Das Problem ist nur, daß nicht einmal alle Genetiker, Sozialwissenschaftler und Philosophen so vorurteilsfrei gegenüber anderen Kulturen, politischen Systemen, religiösen Überzeugungen – gegenüber anderer Leute Meme – sind, wie sie uns gerne weismachen würden. Trotz gegenteiliger Beteuerungen ihrer Anhänger, werden durch die Idee der Memetik Neuauflagen der alten Konzeption des Sozialdarwinismus – wie z. B. dem "Entwicklungs"-Darwininismus (5) – Tür und Tor geöffnet. Gleichzeitig wird uns versichert, daß der Mangel an politischer Vielfalt seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Wirtschaftssysteme darauf zurückzuführen sei, daß kapitalistische Meme einfach stärker sind – sozialistische Meme waren eben Nieten.
DIE COLLAGETAKTIK
Künstler haben die Medienkultur durch die Technik der Collage nachzuzeichnen versucht, und einige Aspekte der Collagetechnik erinnern tatsächlich an "Meme". Um die letzte Jahrhundertwende begannen Picasso und Braque, Fotoreproduktionen aus Zeitschriften und Zeitungen auszuschneiden und in ihre Arbeiten einzusetzen. Das in einer billigen Zeitschrift abgedruckte Foto eines Stuhls konnte in einem Bild einen Stuhl darstellen und doch gleichzeitig seine Identität als gefundenes Objekt – ein gedrucktes Foto – bewahren. Tatsächlich waren diese Art "Ready-mades" vielleicht die ersten "verängstigten Objekte". Mit der Einführung des Radios wurde es vorstellbar, in Mailand ein Mikrophon in die Straße hinaus zu hängen und den aufgenommenen Klang in New York zu Gehör zu bringen. Der Klang von Mailand konnte in den Klang von New York hineincollagiert werden – 1920 eine undurchführbare Fantasie, heute jedoch ein vollkommen normaler Bestandteil unserer Kultur. Die jüngste Technik der Sound–Collage ist das Sampling – jeder Klang kann gesampelt und digital bearbeitet und immer wieder mit neuem Klangmaterial abgemischt werden. Jedes in einem digitalen Medium aufgezeichnete Geräusch oder Bild steht heute für das akustische oder visuelle Sampling bzw. die Appropriation zur Verfügung, und das alles geht auf die Idee der Collage zurück. Das Collagieren geht von einem kulturellen Universum – oder einer kulturellen Ursuppe – aus, das sich wie Borges’ "Bibliothek von Babel" aus sämtlichen aufgezeichneten Tönen und Bildern in allen denkbaren und undenkbaren Kombinationen und Versionen zusammensetzt. Der Künstler navigiert darin herum wie ein in den Cyberspace katapultierter William-Gibson-Held; er rearrangiert, kombiniert und collagiert, fügt aber nichts hinzu als die Änderung selbst. Cyber-Entdeckerglück?

(1)
Nach dem Titel von Walter Benjamins
Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [der im Englischen meist fehlerhaft mit "... mechanical reproduction" wiedergegeben wird.]zurück

(2)
Arthur Kroker, Digital Humanism: The Processed World of Marshall McLuhan, CTHEORY, Article 28, http://www.feedonia.com/ctheory/zurück

(3)
Marshall McLuhan, Understanding Media, Routledge and Kegan Paul, London 1984. dt.: Die magischen Kanäle: Understanding Mediazurück

(4)
[Mimem] ... Einheit der kulturellen Vererbung ... oder Einheit der Imitation. Von einer entsprechenden griechischen Wurzel ließe sich das Wort "Mimem" ableiten, aber ich suche ein einsilbiges Wort, das ein wenig wie "Gen" klingt ... Richard Dawkins, The Selfish Gene, 1976. Deutsch: Das Egoistische Gen, übersetzt von Karin de Sousa Ferreira, Rowohlt, Reinbeck b. Hamburg 1996, S. 309zurück

(5)
Der Entwicklungsdarwinismus erlaubt es, die Stratifikation der Weltbevölkerung in "Entwicklungs"-Stadien [entwickelte, Entwicklungs- und unterentwickelte Länder] als "evolutionäre" Stufen auf dem Weg zum Zustand der Entwickeltheit [Konsumgesellschaft] durch einen an der Kaufkraft gemessenen memetischen Selektionsprozeß zu sehen.zurück