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Meme und Variationen


'Perry Hoberman Perry Hoberman

I.
An der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend suchen wir fieberhaft nach einer neuen Position, einem neuen Thema, einem Thema jenseits des Menschlichen – wir wollen das Posthumane, und wir wollen es jetzt. [Aus irgendeinem Grund heißt die Devise "jetzt oder nie" – doch das war vielleicht ohnehin schon immer der Fall.] Die Religion bot uns das Prähumane oder das Metahumane oder vielleicht auch das Parahumane, doch darüber sind wir schon lange hinaus. Das ist Schnee von gestern. Manche beten um eine Invasion aus dem All, doch die Außerirdischen haben sich als notorisch unzuverlässig erwiesen. Außerdem wäre es wohl zu einfach, sich in allem und jedem auf Außerirdische zu verlassen! Wir Menschen haben es bisher immer geschafft, bestens allein zurechtzukommen.

Weil wir Menschen verdammt gut sind, wenn es darum geht, etwas Neues zu schaffen. Warum sollte es uns also nicht gelingen, uns selbst ein Thema zu schaffen, ein Künstliches Anderes [KA], einen perfekt funktionierenden Anderen [oder Niemand], ausgestattet mit Autonomie und Intelligenz? Das KA ist im Anmarsch! Wir erwarten atemlos seine Ankunft und halten fieberhaft Ausschau nach Zeichen: der spontanen Eruption des Bewußtseins [sobald es im Internet so viele Knoten wie Synapsen im Gehirn gibt – oder so ähnlich], dem Auftauchen des Agenten, des künstlichen Subjekts, des globalen Geists oder irgendeines Jemand, der uns die Bürde unseres Gedächtnisses, unserer Genialität, unseres angehäuften Wissens abnimmt, damit wir uns endlich entspannt zurücklehnen und vielleicht sogar vergessen können …

Aber warum warten? Und was ist, wenn die Berichte sich als falsch erweisen? Was ist, wenn das Künstliche Andere trotz all unserer Anstrengungen gar nicht kommen wird? Nun … ist das KA nicht bloß eine Position, die nur darauf wartet, von jemandem eingenommen zu werden? Warum sollten wir sie nicht selbst einnehmen? WIR können doch zum Posthumanen werden! Man braucht nur ein wenig guten Willen, um sich mit einer Position jenseits des Menschlichen, jenseits unserer selbst zu identifizieren. Also vorwärts! Definieren wir uns selbst neu, damit wir zu jener maschinellen Intelligenz werden, nach der wir uns so verzweifelt sehnen.

Wir können das auf vielerlei Art und Weise bewerkstelligen. Jeder noch so kleine Schritt bringt uns vorwärts. Zunächst können wir uns mit den "Bedürfnissen" des Systems identifizieren; auch wenn es auf Kosten des Menschlichen gehen mag, können wir das System in seinem heroischen Bemühen unterstützen, seine ureigenste Form zu entwickeln, sich selbst zu finden. Wir können die unzähligen Verbindungsweisen des menschlichen Körpers mit Techno-Prothesen – unsere Kontaktlinsen, Hörgeräte und künstlichen Kniegelenke, unser plastisch geformtes Fleisch, kurzum, unser faktisches Cyborgdasein – geltend machen und als Zeichen dafür werten, daß wir das Menschliche bereits hinter uns gelassen [und nicht nur transformiert] haben.

Und wir können darüber hinaus auch versuchen, das menschliche Denken, die menschliche Kultur und den kulturellen Wandel in ein spezielles System zu transformieren, das der wissenschaftlichen Analyse und Kontrolle entgegenkommt – ein System, das ein für allemal in die Netze geladen werden kann.
II.
Durch eine historische Entscheidung mit weitreichenden Folgen wurde der Großteil des Internet für den Zugriff durch menschliche Benutzer gesperrt. Von nun an ist es nur noch autorisierten Agenten gestattet, eine direkte Verbindung zu den sogenannten Basiszonen des Datenraums herzustellen. Ein Regierungssprecher nannte den Cyberspace "eine kritische Ressource", ein "von gedankenlosen, egoistischen menschlichen Eindringlingen verschmutztes, zertrampeltes und ausgebeutetes Ökosystem auf des Messers Schneide" und läutete damit eine neue Ära ein, in der das globale Denken "ein wenig Ruhe und Frieden" genießen sollte, in der man sich "ernsthafte Gedanken" über den künftig von der menschlichen und der posthumanen Rasse einzuschlagenden Weg machen sollte. "Wenn Sie irgendeinen legitimen Grund haben, das Netz zu benutzen, dann suchen Sie sich doch um Gottes Willen einen anständigen Agenten", riet der Sprecher einer der nur so aus dem Boden schießenden Vermittleragenturen, der allerdings ungenannt bleiben wollte. "Sie arbeiten wesentlich effizienter und verläßlicher, als Sie selbst es je könnten, und richten dabei weitaus weniger Schaden an."

Ein Virus, das sich in einem beliebten E-mail-Programm festgesetzt hat, mutiert zu einem degenerativen Algorithmus, der in jede mehr als zweiunddreißig Zeichen lange Nachricht automatisch anachronistische und/oder obszöne Formulierungen einfügt. Die Fernsehkommentatoren reagieren rasch auf diese unerfreuliche Tendenz im öffentlichen Sprachgebrauch, wo sowohl die Höflichkeit als auch die Relevanz des Diskurses einen raschen Niedergang erleben.

Das große Geld und das Werbemem: Die Marktforschungsteams der führenden Werbeagenturen quälen ihr versklavtes Testpublikum mit endlosen Variationen des Mem-Themas des Tages. Das heutige Mem-Thema lautet: "Glücklich und froh leben." Die Marketingexperten versuchen festzustellen, welche der zahllosen Varianten von Bild, Text und Design jenen nicht zu verleugnenden Schauer der Erkenntnis, jene prickelnde Erregung erzeugt. Elektroden und galvanische Reaktionsmeßgeräte registrieren auch das leiseste Erbeben jedes einzelnen der bedauernswerten Probanden. Hier erleben wir die wahre Wissenschaft der Memtechnologie. Sobald es perfektioniert ist, wird das Werbemem in den Werberaum freigesetzt, um dort jeden Geist zu kolonialisieren, der das Pech hat, den giftigen viralen Ausdünstungen des Werbemems ausgesetzt zu sein. Das morgige Memthema lautet: "Du wirst!"

Natürlich gibt es auch absolut nutzlose, totgeborene Werbememe. So haben beispielsweise Studien gezeigt, daß sich auf der ganzen Welt kein Mensch je wirklich eine Balkenreklame auf einer Web-Seite genau angesehen – geschweige denn angeklickt – hat.

Nachdem sie über heimtückische memetische Subfrequenzen praktisch allgegenwärtig geworden ist, funktioniert die überaus populäre Avatar-Software plötzlich nicht mehr richtig. Legionen von Avataren, die von ihren legitimen Besitzern sorgfältig individuell angepaßt wurden, verwandeln sich plötzlich und völlig unerwartet zurück in den Standardtyp "Bill" mit seiner lakonischen Ausdrucksweise und seiner häßlichen Brillenmode, und hinter seinen einschläfernden Platitüden verbergen sich rücksichtslose Pläne. Immer häufigere Meldungen über unerwartete Begegnungen mit "Bill" erregen zunehmend Besorgnis. Es läßt sich nur schwer beschreiben, welches Grauen man empfindet, wenn man miterleben muß, wie ein alter Vertrauter sich plötzlich inmitten eines freundschaftlichen Gesprächs in den undifferenzierten Typ von der Stange zurückverwandelt.

Die Anzahl der von McDonald’s verkauften Big Macs hat mittlerweile die Zahl der Neuronen im menschlichen Gehirn überschritten, und zu guter Letzt hat sich der gemeine Burger wahrhaftig Eingang ins Bewußtsein verschafft.

Das "me"-Mem. Meme bestehen schlicht und einfach aus "me" + "me". Deshalb lassen sie sich in der selbstbefruchtenden Kette des viralen Codes leicht replizieren:
me
meme
memememe
memememememememe
memememememememememememememememe
memememememememememememememememememememememememememememememememe ...
Ich drehe einen Zeitrafferfilm über ein Radio, wie es sich im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Unbeeinträchtigt von den ablenkenden Interventionen seiner menschlichen Schöpfer morpht sich mein Radio von einer primitiven, selbstgemachten Kiste voller Drähte und Kristalle zu einer komplizierten Stadtlandschaft von Vakuumröhren, zu Transistoren und schließlich zu einem Arrangement von Mikroprozessoren. Gleichzeitig wandelt sich auch seine Haut von Holz und Stoff über Bakelit und andere frühe Kunststoffe bis hin zu unidentifizierbaren, glänzenden schwarzen Materialien und geheimnisvollen LED-Anzeigen. Ich finde diese Ergebnisse ermutigend – um es mal ganz vorsichtig auszudrücken.

Jetzt gerade führe ich ein anderes Experiment durch. Ich möchte mich selbst zu einem perfekten Aufnahmegefäß für Meme machen. Wenn ich meinen eigenen Geist als Raum betrachte, der mit Memen gefüllt werden kann, dann sollte doch diese Auffassung an sich bereits die Aufnahmebereitschaft meines Geistes diesen Memen gegenüber steigern. Deshalb muß mein Geist, um die Meme aufzunehmen, zunächst das Mem "Mein Geist ist ein Ort der Meme" verdauen. Ich möchte meine persönliche kulturelle Evolution ungefähr auf Indy-500-Niveau beschleunigen. Ich möchte meinen Beitrag leisten. Meine Meme sind bereit und warten nur auf Ihre. Wir alle warten nur auf Nachwuchs.