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Als-ob-Welten


'John L. Casti John L. Casti

Man ist sich im großen und ganzen darüber einig, daß Galilei der erste war, der kontrollierte, wiederholbare Laborexperimente zum Studium physikalischer Systeme einführte. Derartige Experimente sind integraler Bestandteil der sogenannten wissenschaftlichen Methode. Daher kann die Arbeit Galileis durchaus als notwendige Voraussetzung dafür gelten, daß Newton eine brauchbare Theorie über Systeme entwickeln konnte, die aus interagierenden Teilen bestehen; eine Theorie, auf der weite Bereiche der modernen Wissenschaft aufbauen. Aus heutiger Sicht wären Newtons Teilchensysteme "einfache" Systeme, denn in den meisten Fällen bestehen sie entweder aus einer sehr kleinen oder sehr großen Anzahl "Agenten" [d.h. Teilchen], die auf Basis rein lokaler Informationen nach strengen, unveränderlichen Regeln interagieren. Komplexe Systeme sehen anders aus.

Typisch für komplexe Systeme wie die Börse oder das Straßenverkehrsnetz ist eine mittlere Anzahl von Agenten [Börsenmakler oder Autofahrer], die auf der Basis unvollständiger Teilinformationen interagieren. Am wichtigsten dabei ist, daß diese Agenten intelligent und anpassungsfähig sind. Ihr Verhalten ist ebenso von Regeln bestimmt wie das der Planeten oder Moleküle; sie aber sind fähig, diese Regeln aufgrund neuer Informationen zu ändern. So passen sie sich laufend ihrer Umwelt an, um im System überleben zu können. Derzeit gibt es keine annehmbare mathematische Theorie derartiger Prozesse, was darauf zurückzuführen ist, daß kontrollierte, wiederholbare Experimente, wie sie zu den Theorien einfacher Systeme geführt haben, in komplexen, anpassungsfähigen Systemen nicht durchführbar waren. Die hier vorgestellten Mikrosimulationen oder "Als-ob-Welten" sind aber nichts anderes als Labors für derartige Experimente. Zum ersten Mal haben wir nun das nötige experimentelle Rüstzeug, um eine fundierte Theorie komplexer, anpassungsfähiger Systeme aufstellen zu können.

THEORIEN, EXPERIMENTE UND BIG PROBLEMS
Um aufzuzeigen, welche Rolle Mikrosimula-tionen bei der Schaffung der theoretischen Voraussetzungen zur Erforschung komplexer Systeme spielen, möchte ich kurz allgemein auf die Entstehung von Theorien in der modernen Wissenschaft eingehen.

Am Anfang jeder Theorie steht normalerweise etwas, das ich als "Big Problem" bezeichnen möchte; eine brennende Frage zur natürlichen oder menschlichen Umwelt, die mit Hilfe der Konzepte und Werkzeuge der jeweiligen Zeit beantwortbar scheint. Zur Illustration hier ein paar zugegeben naheliegende "Big Problems" aus verschiedenen Bereichen der Natur und des menschlichen Lebens:
  • Biologie: Die Struktur der DNS – Welche geometrische Struktur hat ein DNS-Molekül, und wie wirkt sich diese Struktur auf die Vererbung aus?

  • Astrophysik: Das expandierende Universum – Ist das Universum offen oder geschlossen, d. h. wird es sich immer weiter ausdehnen, oder wird es sich eines Tages wieder zusammenziehen?

  • Wirtschaftslehre: Gleichgewichtspreise – Gibt es in einer reinen Tauschwirtschaft ein Preisniveau, das Verbraucher und Anbieter gleichermaßen zufriedenstellt, d.h. wo sich Angebot und Nachfrage die Waage halten?

  • Physik: Stabilität des Sonnensystems – Wird es jemals zu einem planetaren Zusammenstoß kommen, oder wird ein Planet die nötige Geschwindigkeit erreichen, um das Sonnensystem zu verlassen?
Diese Fragen zur realen Welt ergeben sich mehr oder weniger von selbst, sobald man die Augen öffnet und sich umsieht. Jede davon hat theoretische Voraussetzungen geschafffen, mit Hilfe derer man die jeweilige Frage stellen oder sogar beantworten kann. Diese theoretischen Voraussetzungen aber – wie etwa in der DNS-Forschung die Knotentheorie oder in der Wirtschaftswissenschaft die Fixpunkttheorien über die Preisbildung – sind allesamt aus Experimenten mit den jeweiligen Systemen hervorgegangen. So konnten James Watson und Francis Crick die Doppelhelix-Struktur der DNS nur deshalb entdecken, weil sie Zugang zu den radiologisch-kristallographischen Studien Rosalind Franklins hatten. In gleicher Weise konnte man im Mount Palomar Observatory aufgrund der Beobachtungen Edwin Hubbles die Expansion des Universums nachweisen. Auf dieser empirisch erwiesenen Tatsache basieren die modernen Theorien von dunkler Materie, die die Frage klären sollen, ob das Universum endlos weiterexpandieren wird.
Diese Beispiele – und es ließen sich beliebig viele weitere finden – zeigen die sogenannte wissenschaftliche Methode in Aktion. Man unterscheidet im wesentlichen vier Schritte:
Beobachtung > Theorie > Hypothese > Experiment
In dieser Darstellung wird ersichtlich, wie wichtig das Experiment ist. Zur Verifizierung einer von einer bestimmten Theorie abgeleiteten Hypothese muß man kontrollierte, wiederholbare Experimente durchführen. Genau an dieser Stelle kommen wir wieder auf die Möglichkeit der Mikrosimulation im Rahmen der modernen Computertechnologie zurück. Im Gegensatz zum herkömmlichen Chemie-, Physik- oder Biologielabor, wo die stoffliche Struktur einfacher Systeme erforscht wird, dient das Labor im Computer zur Überprüfung der Informationsstruktur komplexer Systeme. Diesen Punkt möchte ich nun näher ausführen.
INFORMATION KONTRA MATERIE
Während der letzten 300 Jahre konzentrierte sich die Wissenschaft darauf, die stoffliche Struktur von Systemen zu erfassen. So wurde die Physik, die der Frage nachgeht, aus welchem Stoff die Dinge sind, zur Paradewissenschaft. In der Wissenschaft des 21. Jahrhunderts wird Materie durch Information ersetzt, d.h. der Untersuchungsschwerpunkt verlagert sich von der materiellen Zusammensetzung von Systemen – der Frage, was sie sind – zu ihren funktionellen Eigenschaften – der Frage, was sie tun. Die Vorherrschaft von Bereichen wie künstlicher Intelligenz, Erkenntnislehre und neuerdings künstlichem Leben ist nur die Spitze des Eisbergs.

Für wissenschaftliche Theorien über Funktions- und Informationsstruktur eines Systems braucht man aber keine Labors mit Retorten, Reagenzgläsern und Bunsenbrennern. Solche Labors dienten der Erforschung der Materialstruktur von Objekten; nun aber brauchen wir Labors, in denen wir studieren können, wie Systemkomponenten verbunden sind und was passiert, wenn man derartige Verbindungen knüpft bzw. löst; kurz gesagt, man stellt experimentell fest, wie einzelne Agenten bei der Schaffung neuer allgemeingültiger Verhaltensmuster interagieren.

Diese "Informationslabors" unterscheiden sich einerseits von den "Materiallabors", andererseits auch untereinander. So wie das beste Chemielabor zur Erforschung der materiellen Beschaffenheit eines Frosches oder eines Protons ungeeignet wäre, so wird eine Als-ob-Welt, die eigens zur Untersuchung des Verhaltens von Börsenmaklern entwickelt wurde, kaum Rückschlüsse über z.B. Molekülbewegungen zulassen. Einige Als-ob-Welten, die im Hinblick auf verschiedene Problemstellungen entworfen wurden, sollen abschließend als Beispiele dienen.
ALS-OB-WELTEN
In den letzten Jahren entwickelten Forscher am Santa Fe Institute eine Reihe elektronischer Welten zum Studium der Eigenschaften komplexer, anpassungsfähiger Systeme. Drei davon seien als Prototypen der oben besprochenen Informationslabors genannt.
  • Tierra – Diese von Tom Ray (1) entwickelte Welt ist von binären Strings bevölkert, elektronischen Surrogaten genetischen Materials. Diese Strings konkurrieren um Ressourcen, mit deren Hilfe sie sich selbst kopieren. Neue Strings entstehen aber auch durch die elektronischen Entsprechungen von Mutation und Kreuzung, von Vorgängen aus der realen Welt. In Tierra spielen sich zahlreiche Prozesse ab, die analog auch in der Natur im Laufe der Evolution beobachtet werden können. Nun kann man diese Prozesse experimentell untersuchen, ohne Jahrmillionen auf den Abschluß des Experiments warten zu müssen. Man darf allerdings nicht vergessen, daß Tierra nicht entwickelt wurde, um einen bestimmten biologischen Prozeß aus der realen Welt zu imitieren; es ist vielmehr ein Labor, in dem man neodarwinistische Evolution im allgemeinen studieren kann.

  • TRANSIMS – In den letzten drei Jahren entwickelte ein Forscherteam am Los Alamos National Laboratory unter der Anleitung von Chris Barrett ein elektronisches Abbild der Stadt Albuquerque, New Mexico, im Computer. Diese Welt mit Namen TRANSIMS dient als Modell für Untersuchungen des Verkehrsaufkommens in einem Stadtgebiet mit ca. einer halben Million Einwohner. Im Unterschied zu Tierra ist TRANSIMS explizit als möglichst getreues Spiegelbild der realen Stadt Albuquerque – oder zumindest der für das Verkehrsaufkommen relevanten Aspekte derselben – konzipiert. So enthält die Simulation das gesamte Straßennetz von der Autobahn bis zu den kleinsten Gassen, Informationen darüber, wo die Menschen wohnen und arbeiten, und demographische Details über Einkommen, Kinder, Wagentypen usw. Es handelt sich hier also um eine Als-ob-Welt, die eine bestimmte Realwelt-Situation möglichst detailgetreu wiedergeben soll.

  • Sugarscape – Irgendwo zwischen Tierra und TRANSIMS liegt die Als-ob-Welt Sugarscape, entwickelt von Joshua Epstein und Rob Axtell von der Brookings Institution in Washington, DC. Diese Welt (2) dient dem Studium von Prozessen innerhalb der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung. Einerseits sind die Annahmen über das Verhalten der Individuen sowie den ihnen zur Verfügung stehenden Handlungsspielräumen im Vergleich zu den Möglichkeiten, die sich Menschen in der realen Welt bieten, stark vereinfacht; andererseits ist Sugarscape in bezug auf mögliche Motivationen des menschlichen Verhaltens sowie zielführende Vorgangsweisen relativ realistisch. Besonders interessant ist hierbei die große Vielfalt von Verhaltensweisen, die sich aus den einfachen Regeln für individuelles Handeln ableiten, sowie die unheimliche Ähnlichkeit dieser neuen Verhaltensweisen mit Beobachtungen aus dem wirklichen Leben.

    Mit den Beispielen Tierra, TRANSIMS und Sugarscape möchte ich vor allem zwei Dinge verdeutlichen: [A] Wir brauchen unterschiedliche Arten von Als-ob-Welten, um unterschiedliche Fragen zu behandeln, und [B] jede dieser Welten ist ein potentielles Labor, in dem man Hypothesen über die jeweils simulierten Phänomene testen kann. Natürlich bestärkt uns letzteres in der Ansicht, daß Computeruniversen dieselbe Rolle für die Theorien komplexer Systeme spielen werden wie Chemielabors und Teilchenbeschleuniger für die wissenschaftlichen Theorien einfacher Systeme. Näheres über technische, philosophische und theoretische Probleme bei der Entwicklung und Anwendung der genannten Siliziumwelten im Buch des Autors (3) , das im Herbst 1996 erscheint.

    (1)
    Ray, T., An Approach to the Synthesis of Life," in Artificial Life - II, C. Langton et al, eds. Addison-Wesley, 1991, pp. 371–408zurück

    (2)
    Epstein, J. and R. Axtell, Growing Societies,MIT Press, 1996zurück

    (3)
    Casti, J., Would-Be Worlds, John Wiley & Sons, 1996zurück