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Cyborgs


'Karin Spaink Karin Spaink

In Ein Manifest für Cyborgs zeigt Donna Haraway, daß viele alte Dichotomien in Wirklichkeit überholt sind, und versucht, eine neue – politische und soziale – Perspektive zu erarbeiten. Zu diesem Zweck konfrontiert sie uns mit dem Cyborg – einem Hybrid aus Mensch und Maschine. In einem Interview hat sie einmal gesagt: "Die Cyborg ist zum Teil ein Scherz: Du kannst heute kein Manifest mehr für Kommunisten schreiben, für Cyborgs dagegen sehr wohl. Allerdings ist es ein ernster Scherz."

Haraway benutzt eine breite Palette von Quellen, die von Science Fiction und Ethnographie bis zu Abhandlungen über Computerindustrie, feministische Klassiker, Psychoanalyse und Arbeitsverhältnisse reicht. Ihr Essay ist keine leichte Lektüre. Dennoch ist es ihr gelungen, eine Menge Leute zu beeindrucken, und schon bald wurde "Cyborg" zum Schlagwort in der feministischen Theorie. Immer mehr wissenschaftliche Artikel nahmen auf Haraways Cyborgs und die von ihr propagierte politische Ironie Bezug. In praktischer Hinsicht jedoch wurde eher wenig daraus gemacht. Die meisten Veröffentlichungen beschäftigen sich mit den Auswirkungen auf Wissenschaftstheorie, Methodenlehre oder Wissenschaftsgeschichte, auf Bereiche also, in denen es um die Kritik der Wissenschaft geht. Was zwar sehr interessant ist, aber keinen wirklichen Bezug zum täglichen Leben hat oder auf politische und gesellschaftliche Auseinandersetzungen anwendbar wäre. Eben deshalb war es für mich eher schmerzlich zu sehen, wie feministische Theoretikerinnen zwar die Bedeutung und Aktualität der Cyborg betonten, gleichzeitig aber zu zeigen verabsäumten – wenn sie es nicht sogar ablehnten –, wie sich diese zu bestehenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen verhält.
Insofern entwickelte sich die Cyborg-Theorie unglücklicherweise zu einem Ausgrenzungsmechanismus. Sie ließ die, die nicht genau begriffen, worum es ging, ein wenig zurückgeblieben oder zumindest altmodisch aussehen. Gleichzeitig versuchte keine der Eingeweihten, die Cyborg-Idee verständlich zu machen, oder sie setzten sie als strategische Waffe ein, um aktuelle Debatten auszuhebeln oder ihnen eine interessante Wendung zu geben [wodurch sich wiederum die Uneingeweihten fragten, wozu die ganze Aufregung überhaupt gut sei]. Eigentlich schade. Wo Cyborgs die ganze Zeit über einen ziemlichen Hang zum Aushebeln, Umwenden, Zusammensetzen und Auseinandernehmen hatten. Das ist auch der Grund, weshalb ich Haraways Essay ins Niederländische übersetzt und in einer ausführlichen Einleitung versucht habe, sie im Kontext vieler verschiedener Debatten zu situieren und die Auswirkungen ihres Ansatzes – jedenfalls wie ich ihn interpretiere – aufzuzeigen.

Haraway erklärt, warum eine Reihe von Dichotomien ihren Sinn verloren haben, keine wirksamen Werkzeuge mehr sind: die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur, Mensch und Tier, Mensch und Maschine, Leib und Seele, männlich und weiblich, Selbst und Nicht-Selbst. [Heterosexualität und Homosexualität läßt sie seltsamerweise unerwähnt.] Genauer gesagt behauptet sie, daß diese gegensätzlichen Kategorien seit jeher Fiktion waren. Wenn es zwischen den Ausdrücken auf den beiden Seiten der Grenze überhaupt eine erkennbare Scheidelinie gibt, so war diese immer schon unsicher und wandelbar.

Haraway schließt aber nicht, daß solche Dichotomien deshalb sinnlos, reine Fantasieprodukte seien. Nein, es sind Gedankengebäude, sie sind Gegenstand unablässiger politischer, wissenschaftlicher und kultureller Auseinandersetzung. Sie bestimmen Denk- und Lebensweisen, werfen Fragen auf und geben Antworten, formen politische Entscheidungen und Strategien, wissenschaftliche Theorien, Beziehungen, Normen, Werte und Gesetze. Viele, wenn nicht sämtliche ideologischen Auseinandersetzungen hängen mit diesen Dichotomien zusammen, und seit den 60er Jahren hat sich jede Befreiungsbewegung auf den Versuch gegründet, eine bestimmte Dichotomie zu bekämpfen.

Die Kategorien auf beiden Seiten einer Dichtomie sind stets gegensätzlich, binär und – das ist nun wirklich komisch – bedingen einander gegenseitig. Keine von beiden kann für sich allein stehen. [Ein Körper ohne Geist ist ein Idiot, ein Geist ohne Körper ist Aberglaube.] Solche binären Gegensätze bilden geschlossene, selbst-reproduzierende Systeme, in denen eine Kategorie die andere voraussetzt oder konstruiert. Eine solche Kategorie ist z. B. "Natur". Der "Natur" geht es, wie allgemein bekannt, in Augenblick nicht sonderlich gut, und darum muß sie geschützt und beschirmt und gerettet werden. Vielleicht beginnt es aber schon damit, daß diese Natur-Kultur-Unterscheidung nicht gut ist; wenn es jemals eine unbefleckte, von Kultur unbeeinflußte Natur gegeben haben sollte, dann wurde sie von dem Augenblick an befleckt, als auf der Erde menschenähnliche Wesen aufzutreten begannen. [Doch Moment – sind die Menschen nicht ein Teil der Natur? Schließlich sind wir nicht aus dem Weltall gekommen, oder? Waren wirklich wir es, die sie befleckt haben? Wie ist das aber möglich, wenn wir doch ein Teil der Natur sind?]

Was wir heute als "Natur" betrachten, ist ein sorgfältig gehegter Disneyland-Park, dessen Wege von Abfallkörben gesäumt sind. "Natur" ist eine Dschungelszene in einer Marlboro-Werbung. "Natur" ist ein computer-optimiertes Foto einer Mikrobe unter dem Mikroskop. "Natur" sind aus den USA importierte Marienkäfer, die in holländischen Glashäusern als Blattlausvertilger eingesetzt werden. "Natur" sind Zuchtprogramme in Zoos, um gefährdete Arten vor dem Aussterben zu retten.

"Natur" und "Kultur" greifen ineinander und verändern einander. Als die Regierungen bemerkten, daß Phosphate in Waschmitteln das Wachstum der Algen dermaßen anregten, daß andere Flußbewohner aus Sauerstoffmangel verendeten, kam es mit den Waschmittelherstellern zu einem endlosen Tauziehen über die Senkung des Phosphatanteils in ihren Produkten. Heute ist fast jedes Waschmittel phosphatfrei – doch die Ökosysteme der Flüsse haben sich mittlerweile so gut auf die hohen Phosphatwerte eingestellt, daß – wie jetzt bekannt wurde – die Senkung der Phosphatwerte das Gleichgewicht [ein weiteres Mal] stört und eine Menge Probleme mit sich bringt. [Was an das verrückte Bild süchtiger Flüsse denken läßt.] Eine unlängst durchgeführte Untersuchung der Vegetation in Amsterdam hat übrigens ergeben, daß die Stadt einen größeren Artenreichtum und seltenere Arten aufweist als sogenannte "natürliche" Regionen. Die Natur ist eben nicht mehr das, was sie einmal war, wie ich wohl nicht betonen muß.

Das wirklich große Problem mit den Dichotomien ist aber, daß sie hierarchisch sind. Der Geist steht über der Materie, die Kultur über der Natur, männlich über weiblich – eine Kategorie ist immer dominant. Außerdem – und das ist das wirklich Bittere daran – ist die dominante Kategorie stets Ausgangspunkt, Prüfstein, Norm. Sie bedarf keiner Erklärung; es ist die entgegengesetzte, nicht-dominante Kategorie, die der Beschreibung bedarf, die von der Regel abweicht. Warum jemand männlich, weiß, heterosexuell, gesund und westlich ist, braucht er nie zu erklären, das ist das Vorrecht der Macht. Es ist das Vorrecht der Macht, nicht in Frage gestellt zu werden; die Macht hat ihren Sitz im dem, was sich von selbst versteht.

Befreiungsbewegungen versuchen, diese normativen Normalitäten abzuschütteln, und bekämpfen die vermeintliche Neutralität der Dichotomie: sie weisen darauf hin, wie leicht man A über -A stellt. Ihr Ziel ist gewöhnlich, ein Gleichgewicht herzustellen. Schwule sollten dieselben Rechte wie Heteros haben, Schwarze nicht geringer als Weiße sein, Männer nicht gegenüber Frauen bevorzugt werden, der Mensch sollte die Natur nicht als etwas zum Plündern betrachten, und Tiere haben ebenfalls Rechte. Kurzum, Befreiungsbewegungen fordern den ihnen zustehenden Anteil und verlangen größere Gleichberechtigung.

Und genau hier laufen die Dinge schief, sagt Haraway. Weil Dichotomien eben leicht reproduziert werden, auch durch jene, die sie bekämpfen, denn die Tatsache, daß eine Dichotomie verwendet und gelebt wurde, hat beide Kategorien verzerrt. Tatsächlich ist es vielleicht alles andere als hilfreich, weiter von "zwei Seiten" auszugehen, die "ausbalanciert" oder neu "eingerichtet" werden müssen. Die Definition dessen, was jede dieser Seiten ausmacht, was sie umfaßt und was nicht, hängt massiv von der Tatsache ab, daß diese Dichotomie überhaupt konstruiert worden ist; wir gehen in der Folge davon aus, daß ihr "deshalb" eine konstituierende Differenz zugrunde liegen muß, die wir nur mehr ausfindig und dingfest machen müssen. Vielleicht sollten wir, statt auf diese Differenz auf jeder Seite der Dichtomie zu starren, lieber schielen.

WAS KONSTITUIERT EINE FRAU?
Dichotomien treffen grundlegende, allumfassende Feststellungen über beide Pole. Sie beanspruchen, Grundmerkmale festzuhalten, und erzwingen eine Entscheidung. Es ist unmöglich, beiden Polen anzugehören. Frauen sind per definitionem nicht männlich, Maschinen werden immer unnatürlich sein, künstliche Intelligenz verfügt nicht über die natürliche Kreativität und Geistigkeit des menschlichen Gehirns, und Homosexuelle sind von Heterosexuellen fundamental verschieden, womöglich sogar von Geburt an. Es kommt nur darauf an, die inhärente Differenz genau zu lokalisieren.

Liegt die Andersheit der Frauen an ihrer Biologie? Nein, haben Feministinnen festgestellt und gezeigt, wie Frauen aufgrund ihres Körpers in vieler Hinsicht anders behandelt wurden: Als Frau wurde man nicht geboren, man wurde dazu gemacht. Es schien daher zweckmäßig, einen Unterschied zu machen zwischen Geschlecht ["sex", dem biologischen "Material"] und Gender [der komplexen Mischung aus psychologischer Erfahrung und kulturellen Vorstellungsbildern, die, in Verbindung mit gesellschaftlichen Strukturen, zwischen männlichen und weiblichen Fähigkeiten, Verhaltensweisen und Rollen trennen]. Gender – Maskulinität und Femininität – ist das Ensemble von Interpretationsmustern und Strukturen, mit denen wir das Geschlecht [männlich und weiblich] überlagern.

Doch halt – bei dieser Argumentationslinie werden Natur und Kultur als Gegensatz konstruiert. Sie präsentiert die Natur als das Unveränderliche und Kultur als das Veränderliche, Formbare, Machbare. Warum wurden "Natur" und "Geschlecht " als passive Kategorien erachtet und vom historischen und kulturellen Wandel ausgenommen? Zudem suggeriert diese Argumentationslinie auch ein unergründliches Etwas, einen realen [biologischen] Kern, den alle Frauen gemeinsam haben, etwas, das unter all den zusätzlichen Bedeutungsschichten, die sich um ihn angelagert haben, zu entdecken wäre.

In der Tat hat die Forschung gezeigt, daß "Geschlecht" und "Biologie" nicht so einfache Kategorien sind, wie gemeinhin angenommen wurde. Es ist darauf hingewiesen worden, daß sich die verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen keineswegs einig sind, was im physischen Sinn eine Frau konstituiert. Die Entscheidungsgrundlagen dafür, ob Körper [-teile] männlich oder weiblich sind, sind eher willkürlich. Endokrinologen, Anatomen und Genetiker verwenden unterschiedliche Kriterien [die sie auch anfechten], und diese Kriterien passen oft einfach nicht zusammen. Die anatomischen, endokrinen und genetischen Unterschiede zwischen zwei Frauen sind oft genauso groß wie die zwischen Frau und Mann. (1) Warum sie also als Geschlechter zusammenfassen? Wäre es nicht sinnvoller, sich ein Kontinuum vorzustellen, mit männlich am einen Ende des Spektrums und weiblich am anderen und einer großen Varianz dazwischen?
Es sieht so aus, als hätte die feministische Theorie das ursprüngliche Problem "der Körper ist Schicksal" lediglich durch "die Sozialisation ist Schicksal" ersetzt. Die Geschlechterdifferenz – die Definition, Festschreibung, Darstellung und Gestalt des Unterschieds zwischen männlich und weiblich – war zwar dermaßen fluktuierend, daß sie sich in verschiedenen Kulturen, Zeiten und Kontexten in verschiedenen Formen äußern konnte, doch irgendeine konstruierte Differenz war so gut wie überall erkennbar. Die Konstruktion von Differenzen – d. h. Gender – schien ein universales Merkmal zu sein.

Es stellte sich die bange Frage, ob die feministische Forschung mit ihren peniblen Untersuchungen der Genderrepräsentation [etwa des Unterschieds zwischen Familienerhalterinnen und -erhaltern, zwischen Hausfrauen und Hausmännern, zwischen Managern und Managerinnen] diese Differenz nicht selbst reproduziert. Stimmt es denn nicht, daß wer sucht, auch findet? Gingen diese gefundenen Unterschiede in jedem Fall auf Genderdifferenzen zurück?

Jedesmal wurde ein grundlegendes Postulat formuliert oder aufgefunden, doch immer wieder schien es ungreifbar – ein flüchtiges Etwas, das biologische Materie in soziale Identitäten umwandelte und Körper in Genderdifferenzen kleidete. Etwas, das Frauen dazu brachte, sich als "anders" als Männer zu identifizieren, etwas, das sie überredete oder zwang, sich "Femininität" einzuverleiben.

Doch mußte entschieden werden, ob man den Kuchen haben oder ihn essen wollte. Entweder "die Frau" gibt es nicht, oder sie ist theoretisch und praktisch durch ihr eigenes Bild vorausbestimmt. Geschlecht und Gender waren zu rekursiven Begriffen geworden.

In dieser Situation machte Haraways Cyborg ihren Auftritt. Im Grunde sagte Haraway folgendes: Schluß damit. Hören wir auf, dieses theoretische "wir", "Frauen", "weiblich" zu verwenden. Reden wir nicht über Kategorien, oder besser: Reden wir darüber, disqualifizieren wir sie. Weichen wir ihnen aus, betrachten wir Differenzen neu, hören wir auf, so zu reden, als gäbe es irgendwo ein essentielles "wir" [und damit ein "sie"], eine ungebrochene Identität, die sich irgendwann einmal wiedergewinnen ließe. Setzen wir diese Kategorien zusammen, nehmen wir sie auseinander und setzen wir sie wieder zusammen. Finden wir eine neue Perspektive, ein Wesen, das zugleich männlich und weiblich ist, Mensch und Maschine, Natur und Kultur, Geist und Körper. [Tier an den Wochenenden, Mensch unter der Woche und Hybrid jeden Tag in der Mittagspause.]

In der Fortsetzung – d.h. in meinem Vortrag – werde ich einige praktische Beispiele vorführen, was eine Cyborg tun, denken und wünschen könnte.

(1)
Endokrinologen können anscheinend nicht genau sagen, welche Rolle Östrogen und Testosteron im Verhältnis zu anderen Hormonen spielen. Auch haben sie festgestellt, daß Männer ebenso wie Frauen beide Hormonarten produzieren und daß der einzige [relative] Unterschied im Prozentanteil liegt; und selbst dann muß man wissen, wie alt eine Person ist, um aufgrund ihrer Hormone entscheiden zu können, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt.

Genetiker "wissen", daß die Differenz in zwei von 46 Chromosomen sitzt. Öfter jedoch stellen sie XXY fest. Um ihre Definitionen aufrecht erhalten zu können, bezeichnen sie XXY als "anormal". "Anormale" Resultate können sich aufgrund meßtechnischer Varianten ergeben [allerdings können auch "normale" Resultate durch dieselben Abweichungen verursacht sein]. Immer häufiger finden Wissenschaftler Menschen, deren Genitalien nicht mit ihren Chromosomen übereinstimmen.

Die anatomischen Körperteile, die als wichtigste Unterscheidungsmerkmale gelten, können entfernt werden [im Westen werden Gebärmutter und Brüste häufig operativ entfernt; in Ländern des Ostens werden manchmal Klitoris und Schamlippen entfernt], doch das ändert nichts am biologischen Status einer Person und heißt nicht, daß sie nicht mehr als weiblich betrachtet wird.

Ist der biologische Unterschied vielleicht in der Reproduktionsfähigkeit begründet? Sterilisierte Männer werden weiter als Männer, sterilisierte Frauen weiter als Frauen angesehen. Wußten Sie, daß auch Männer Brustkrebs bekommen können? Und wie sollen wir Kinder einstufen, die mit doppelten Genitalien zur Welt kommen? Oder Transsexuelle? [Annemarie Mol, Who knows what constitutes a woman. About the differences and the relations between sciences, in Tijdschrift voor Vrouwenstudies 21 [1985, Nr. 1], S. 10-22; Gerbrand Feenstra, Male, female or something in between, in de Volkskrant, 3. September 1994; Gerbrand Feenstra, "It’s a ... uh ...," in de Volkskrant, 17 September 1994.]zurück