Media Memory
'Geert Lovink
Geert Lovink
Der angeblich neutrale und wissenschaftliche Diskurs über "Meme" wirft die Frage auf, wie "Information" durch die Zeit reist. Es herrscht die Vorstellung von einer imaginativen Zukunft, die mit den in unserer Gegenwart [unserer Vorväter Vergangenheit] ausgestoßenen Daten nicht mehr fertig wird. Nach dieser vitalistischen Informationstheorie sind die "Meme" gezwungen, in einem hochdramatischen Kampf um Leben und Tod die Aufmerksamkeit der kommenden Rasse von überlegenen Info-Navigatoren, den Post-Humans, zu erringen. Offensichtlich kann die Zukunft nicht für sich selbst entscheiden, was gespeichert und was vergessen werden soll. Es ist also die Aufgabe heutiger Computerexperten, über die "Vergangenheit der Zukunft" zu entscheiden und die Auswahl von neo-darwinistischen Programmen ausführen zu lassen, bevor andere es tun. Doch wer stellt die Regeln und Parameter für den Wettkampf "Das Überleben der bestangepaßten Information" auf? An der Jahrtausendwende ist die Medienkultur von der Speicherfrage besessen. Welche Information nehmen wir, der Planet Erde, mit ins nächste Jahrhundert? Diese Speicherpanik wird nur noch von der Angst vor der "Informationsüberlastung" überschattet. Der heutige Kampf um die Gunst der Menschen [und der morgigen Geschichte] kann nur mit einer profunden Kenntnis der "Aufmerksamkeitsspanne" der Nutzermassen gewonnen werden.
Mittelmäßige Homepages, veraltete Werbung, öde Datenbanken und drittklassiges Bildmaterial werden als "tote Information" betrachtet. Was den ruhenden "Inhalt" interessant macht und "zum Leben erweckt", ist offenbar die Anzahl der "Besucher", deren Kommunikation in einem bestimmten Kontext und deren eigentlicher Interaktion mit einer bestimmten Datenwolke. Alle anderen gespeicherten Materialien, egal ob online oder nicht, mit oder ohne ausgeklügeltem Design oder neuester Software, gelten als nicht existent und werden es auch in Zukunft bleiben. Das ist die Hardcore-Logik des digitalen Zeitalters: ziehe Benutzer an oder du wirst pulverisiert.
Die erste Generation von Fachleuten betrachtet den Computer noch immer als logische, mathematische "Zahlen malmende Maschine". Das Rechenwerkzeug wird als Ergebnis des Zweite Weltkriegs und des Kalten Kriegs gesehen, und die militärische Vorgeschichte ist noch in allen Geräten spürbar. In diesem Kontext sind Speichern und Abfragen bloße Befehle, keine sozialen Prozesse mit möglichen historischen Implikationen. Die Hardware-Architektur bestimmt die Software. Autonome Prozesse und das Auftreten einer großen Anzahl von Benutzern innerhalb des Compuzternetzwerkes existieren für diese Pionierprogramme als solches nicht. Dr. Frankenstein und der T-1000 bleiben, was sie sind, und zwar ein verbreiteter Mythos, der von der Massenunterhaltungsindustrie genährt wird. Dasselbe kann über die New-Age-Cyberkultur und den gesamten Internet-Hype gesagt werden. Das Hardcore-Computerwissen teilen sich noch immer eine Handvoll Programmierer [und Hacker], und dasselbe gilt für ihre Philosophie [Turing] und die Archäologie des Computers, die bis ins Spätmittelalter zurückreicht [Lullus].
In den letzten Jahrzehnten haben diejenigen, die im Besitz dieses Technologiewissens sind, mit der dem Computer und allen damit verbundenen Automationsprozessen inhärenten "instrumentellen Vernunft" umzugehen gelernt [oder auch nicht]. Dieser haupsächlich akademische Kreis konzentrierte sich auf Themen wie Privatsphäre, soziale Verantwortung in der Beziehung Arbeit/Kapital, Verbindungen zum militärisch-industriellen Komplex, etc., aber niemals mit dem Computer als Medium. Die offenkundige, beinahe unbewußte Verbindung, die wir heute zwischen Computern vornehmen, dessen unvermeidbarer Zusammenschluß mit Fernsehen und "den Medien" scheint den Technikern, Hackern und Programmierern der ersten Stunde fremd zu sein.
Virtuelle Realität dient in erster Linie noch immer der wissenschaftlichen Visualisierung und nicht der Unterhaltung. Die Kluft zwischen Computerforschung und Entwicklung und den "Netzwerken für die Massen" ist trotz der "digitalen Revolution" noch immer gleich tief.
"Media Memory", ein Bestandteil des Ars Electronica Festivals 96, stellt die Frage, wie wir die Verbindung zwischen der "gemeinsamen Erinnerung" und den neuen Medien herstellen. Im Jahr "50 plus 1" nach dem Sieg über den Faschismus von 1945, ist der Holocaust noch immer die Nagelprobe, wie Medien und Erinnerung zueinander in Beziehung stehen sollen [geschichtlich gesehen, sind Auschwitz, Hiroshima und die Erfindung des Computers ebenfalls eng miteinander verknüpft]. James Young nennt es in seinem Buch The Texture of Memory über die Geschichte und Bedeutung von Holocaust-Mahnmalen lieber "gesammelte Erinnerung". "Das Gedächtnis der Gesellschaft kann als eine aggregierte Sammlung der oft im Widerstreit stehenden Erinnerungen seiner Mitglieder angesehen werden. Wenn sich Gesellschaften erinnern, so nur insofern, als deren Institutionen und Rituale die Erinnerungen ihrer Mitglieder organisieren, formen, ja, sogar anregen. Denn das Gedächtnis einer Gesellschaft kann nicht außerhalb der Menschen existieren, die sich erinnern –auch wenn diese Erinnerung auf Geheiß der Gesellschaft, in ihrem Namen geschieht." In diesem Zusammenhang könnte Media Memory genau das Muster sein, wie die Gesellschaft mit der gespeicherten Information über die Vergangenheit aktiv umgeht.
Mit Young könnten wir von einer "Kunst des öffentlichen Erinnerns" sprechen, in der riesige, interaktive Archive eine bedeutende Rolle als Erweiterung der bestehenden Gedächtnisorte spielen. Media Memory ist in die Art, wie Menschen Maschinen benutzen, eingebettet. Es ist ein aktiver Prozeß zum Aufbau der Vergangenheit, nicht bloß ein technischer Vorgang, der auf "Speichern" und "Abrufen" reduziert werden kann. Für Young reichen die Gedächtnisorte von "Archiven zu Museen, von Paraden zu Schweigeminuten, von Soldatenfriedhöfen zu Widerstandsdenkmälern, von Ruinen zu Fasttagen, von nationalen Gedenkstätten zu familiären Jahrzeitkerzen". Und wie wird die Erinnerung an den Holocaust im Cyberspace aussehen, wie wird der Bezug zu bestehenden Museen, Archiven, Filmen und TV-Sendungen, Bibliotheken, Schulunterricht und der enormen Vielzahl von Kunstwerken hergestellt, wie in James Youngs Buch beschrieben? Diese Organisation von "gesammelter Erinnerung" geht weit über die heute oft diskutierten Funktionsweisen des Gehirns und die Mythen des "Hochladens", wie Hans Moravec dies beschreibt, hinaus. Media Memory fragt nach der Rolle von Maschinen im sozialen Prozeß des Erinnerns und nach dem Beitrag der Techno-logie zum alltäglichen Dialog mit der Vergangenheit, wie passive "Speicher" mit den aktiven Formen des "Erinnerns" kombiniert werden können. Das geht auch einen Schritt weiter als die Suche nach einer virtuellen Architektur und der Entwicklung riesiger Online-Systeme, die uns Zugriff auf historische Daten bieten. Im Hinblick auf den Faschismus sollte sich das selbstreflexive Media Memory auch mit dem Problem der "instrumentellen Vernunft" und der Rolle gewöhnlicher, aufgabenorientierter Cyberspace-Techniker auseinandersetzen.
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