Monumente der Erinnerung im Cyberspace
'Albert Lichtblau
Albert Lichtblau
"Listen to the survivors and respect their wounded sensibility. Open yourselves to their scarred memories, and mingle your tears with theirs."
[Elie Wiesel] (1) Stellen Sie sich vor, Sie sitzen vor einem Bildschirm und erleben mit eigenen Augen, wie der Grafiker Leo Glückselig seine Lebensgeschichte erzählt. Sie sehen auch Bilder und Fotografien von ihm mit seinen Geschwistern, als amerikanischer Soldat, Sie sehen seinen Paß mit dem verhängnisvollen "J", das ihn 1938 weltweit als Juden stempelte. Von ihm erfahren Sie ganz persönlich, wie er vor dem Holocaust als Kind einer jüdisch-orthodoxen Familie in der Wiener Leopoldstadt gelebt hat, wie ein abenteuerlicher Fluchtversuch nach Holland scheiterte und ihm doch noch im letzten Moment die Flucht nach New York gelang, als Angehöriger der US-Armee Widerstand gegen das Naziregime leistete. Seiner Geliebten gelang die Flucht nicht, und wie durch ein Wunder überlebte sie in Polen und Ungarn. Erst neun Jahre nach der Trennung schlossen sie einander 1949 wieder in die Arme, ungewiß, ob sie an der früheren Liebe anknüpfen können. – Auf diese Art können Sie ab 1998 die Lebensgeschichten von voraussichtlich 50.000 Überlebenden des Holocaust erfahren. Über 100.000 Interviewstunden wird das von Steven Spielberg initiierte Projekt Survivors of the Shoah Visual History sammeln und der Öffentlichkeit online zugänglich machen.DIE IDEE – EIN VIRTUELLES MUSEUM VON SHOAH-ÜBERLEBENDEN Der Regisseur Steven Spielberg stellte die Einspielgewinne des Filmes "Schindlers Liste" für das bislang umfangreichste Video-Dokumentationsprojekt zur Verfügung. Als er 1994 gemeinsam mit anderen das Projekt entwickelte, steckte er sich ein klares Ziel: "to Videotape as many Holocaust survivor testimonies as possible." (2) Obwohl es 50 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Schrekkensherrschaft schon sehr spät ist und die vor 1895 geborenen Generationen von Überlebenden gar nicht mehr befragt werden können, ist es noch immer nicht zu spät. Aber es sind sich alle bewußt: Es darf keine Zeit mehr vergeudet werden. Das ambitionierte Projekt geht davon aus, weltweit mit 50.000 von geschätzten 300.000 noch lebenden Verfolgten des Holocausts Interviews zu führen. Zielgruppe des Projektes sind Juden und alle, die auf Grund der nationalsozialistischen Rassengesetze betroffen waren, also etwa auch Menschen, die schon längst mit dem Judentum als Religion gebrochen hatten oder von ihren Eltern andersreligiös erzogen wurden, und auch Menschen, die aus sogenannten Mischehen entstammen. Inzwischen entschloß man sich, auch Homosexuelle, Roma und Sinti zu interviewen, also Gruppen, die in der bisherigen historischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus viel zuwenig Berücksichtigung fanden. Auch Menschen, die ihr Leben riskierten, um Verfolgte zu schützen, werden in das Dokumentationsprojekt einbezogen.
Es wäre nicht die Gedankenwelt eines Steven Spielberg, würde dieses Projekt nicht mit den neuesten Videotechnologien, der Konservierung und Datenabrufbarkeit arbeiten. Jedes der im Durchschnitt knapp zweistündiger Interviews wird mit einer Beta-SP-Videokamera, also fernsehtauglich, aufgenommen. Die Videobänder werden nach Los Angeles geschickt, zum Standort des Projektes, wo von den Videobändern mehrere Kopien gezogen werden: Eine VHS-Version wird den Interviewten zugesandt, eine weitere dient der Katalogisierung, eine Betacam-Kopie der Sicherung. Außerdem wird das Interview für ein digitales Videobibliotheksystem mit Computerzugang gespeichert. Das Survivors of the Shoah Visual History-Projekt macht sich den technologischen Durchbruch der Datenspeicherung zunutze: Zehntausende Stunden von gefilmten Erinnungen können digital archiviert und für Benutzer mit Hilfe eines Supercomputers zugänglich gemacht werden. Das Projekt erhielt dafür –neben anderen großzügigen Spenden – eine mit 1,3 Millionen Dollar dotierte Unterstützung von Silicon Graphics.
Alle Interviews werden gesichtet, und Katalogisierer erstellen einen Index mit Personen- und Ortsnamen, Aussagen und 12.000 Keywords. Die Indexierung wird es den Betrachtern ermöglichen, sich zu orientieren und sich rasch einen den eigenen Bedürfnissen entsprechenden Weg durch die enorme Zahl von Interviews bahnen zu können. Die Indices sind mit den digitalisierten Aufnahmen verbunden, und die Benutzer werden interaktiv Passagen der Videoaufnahmen, Bilder und Informationen nach eigenem Gutdünken abrufen können. Auch das gesamte uneditierte Interview kann angesehen werden.
Dieser unmittelbare Zugang zu einzelnen, vom Betrachter selbst ausgewählten Interview-Passagen bildet für den Betrachter den wichtigsten Unterschied zu bisherigen Oral History- und Video-Projekten. Mußten bislang diese Passagen zeitaufwendig am Band gesucht werden, können sie mit Hilfe der Digitalisierung sofort abgerufen werden. Diese Zugangsweise zu Ton- und Filmdokumenten ist sicherlich schon vielen Besuchern von Museen vertraut, die mit CD-ROM-Stations arbeiten. Aber der Zugriff auf derart umfangreiche Informationen ist im Bereich der Museumspädagogik bislang noch nicht dagewesen.
Das Online-Archiv wird allerdings nur beschränkt zugänglich gemacht, nämlich den Besuchern einzelner Institutionen, die sich die Erinnerung an den Holocaust zur Aufgabe gestellt haben, beispielsweise Yad Vashem in Jerusalem, das Museum of Jewish Heritage in New York und das U.S. Holocaust Memorial Museum in Washington.
Und Sie? Wer sind Sie? Was wollen Sie genau wissen? Sind Sie selbst ein/e Überlebende/r und hoffen, vielleicht doch noch etwas über Menschen zu erfahren, die Ihnen nahegestanden sind? Sie können am Bildschirm den gesuchten Namen eingeben und werden sofort wissen, ob und wer über die Betreffenden spricht.
Sind Sie ein Kind von Holocaust-Überlebenden und wollen Sie beobachten, wie andere Menschen mit dieser schwer lastenden Geschichte weiterleben konnten und Familien gründeten? Vielleicht hilft es Ihnen, Ihre Eltern besser zu verstehen, falls ihre Eltern nie darüber sprechen wollten und konnten, wenn Sie andere dabei beobachten.
Oder gibt es in Ihrer Familie eine/n NS-Verbrecher/in? Wollen Sie dann wissen, was jene, die unter dem Terror dieses Menschen leiden mußten, von ihm/ ihr berichten?
Sind Sie beispielsweise jemand aus Klagenfurt in Österreich, werden Sie vermutlich nachsehen, ob Aufzeichnungen von Menschen existieren, die bis zum Nationalsozialismus in Kärnten oder Klagenfurt gelebt haben. Sie werden etwa den Namen Walter Friedländer finden, der 1922 in Klagenfurt geboren wurde und dem 1938 die Flucht nach Palästina gelang, wo er in einem Kibbuz überlebte. Vielleicht interessieren Sie sich nur für die Zeit der NS-Verfolgung, dann können Sie genau jene Passagen aus dem Interview auswählen. Falls Sie aber genug Zeit haben und mehr über die Person wissen wollen, so können Sie sich auch das gesamte Interview ansehen und erfahren, warum sie nach Europa zurückkehrte.
Vielleicht sind Sie African American und setzen sich mit der Unterdrückung zur Zeit der Sklaverei auseinander und hoffen, durch die Verfolgungsgeschichte anderer Ethnien ein besseres gegenseitiges Verständnis entwickeln zu können. Vielleicht interessiert es Sie dann besonders, etwas von Überlebenden zu hören, die in Afrika Zuflucht finden konnten oder die jahrelang von den Engländern in einem afrikanischen Lager interniert wurden?
Oder Sie leben im Jahr 2132 und werfen einen von historischer Distanz geprägten Blick auf diesen traurigen Abschnitt der Menschheitsgeschichte. Es wird niemand mehr leben, der Menschen kannte, die durch diese Hölle der Verfolgung gehen mußten. Welche Fragen werden Sie dann wohl stellen?
Wer immer Sie sind: Sobald Sie entschieden haben, eine der lebensgeschichtlichen Türen zu öffnen, werden sie mit Hilfe interaktiver Medien bestimmen können, was Sie sehen und hören. Welche Türe werden Sie öffnen? Sie werden es erst wissen, wenn Sie tatsächlich vor dem Bildschirm sitzen und Suchbegriffe eingeben, mit denen Sie sich innerhalb der 100.000 Stunden erzählter Lebensgeschichte orientieren können. Es werden schon Zahlenspiele angestellt: Bei täglicher Arbeit würde ein Mensch 40 Jahre benötigen, um dieses umfangreichste Erinnerungsarchiv vollständig betrachten zu können – oder 91 Jahre bei drei Stunden pro Tag. Diese Zahlenspielereien mögen zwar phantastisch klingen, aber sie haben nichts damit zu tun, wie Menschen sich im "Post-Information-Age" orientieren – Sie suchen und kreieren sich aus einem riesigen Informationsangebot kleine, überschaubare Einheiten. (3)GLOBAL EDUCATION "Welche Mitteilung oder Mahnung haben Sie jetzt, nach ungefähr fünfzig Jahren seit dem Ende des Krieges, für Ihre Kinder, Enkelkinder und die ganze Welt?" ist einer der Vorschläge für die Schlußfrage im Interview. Eine an die "ganze Welt" gerichtete Frage wäre bislang in Gesprächen unzulässig und übertrieben gewesen. Aber die Tatsache, daß die Interviews auf mehreren Kontinenten abrufbar sind, gibt der Frage einen tiefen Sinn. Die Antworten darauf werden sicherlich zum interessantesten Teil der Interviews zählen.
Kein anderes historisches Projekt konnte bisher einen derart umfangreichen Anspruch erheben: "The archive of survivor testimonies will be used as a tool for global education about the Holocaust and to teach racial, ethnic and cultural tolerance." (4) Schon jetzt gibt es Arbeitshinweise für Erzieher und Lehrende, wie sie die Schüler und Studenten auf die Arbeit mit den Interviews vorbereiten und welche Diskussionen und Reflexionen danach angestellt werden können. Am Bildschirm werden nicht nur die Interviews abrufbar sein, sondern auch Informationen über die Verfolgung in den einzelnen Ländern oder in den jeweiligen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Das Projekt hofft auf die Kraft der Information und Auf-klärung. Ob sich der Holocaust in einem "global framework" des Verständnisses an sich fassen läßt, wird allerdings erst die Zukunft zeigen. (5)DER INHALT Ziel des Survivors of the Shoah Visual History-Projekts ist es, die Überlebenden ihre Lebensgeschichte so erzählen zu lassen, wie sie sie selbst erzählen wollen. Die Aufgabe der Interviewer ist es, eine Atmosphäre zu schaffen, die dies ermöglicht. Die Fragen richten sich nach bestimmten inhaltlichen Schwerpunkten – zum Beispiel die jüdischen Gemeinden vor dem Holocaust. 20% des Interviews sollen dem Leben vor der Verfolgung gewidmet werden, 60% der Verfolgungszeit und 20% dem Leben danach. Das äußerst professionell gestaltete Projekt unterliegt außerdem einem beständigen Lern- und Reflexionsprozeß.DIE INTERVIEWER Die Interviewer setzen sich aus unterschiedlichsten Interessens- und Berufsgruppen zusammen – sie sind Psychologen, Journalisten, Wissenschaftler, Überlebende und Kinder von Überlebenden. Bevor sie selbst Interviews führen, werden alle Interviewer drei Tage lang von einem Trainerteam aus Historikern und Psychologen ausgebildet. Da die Interviewten oft eine schwere Traumatisierung erlitten haben, ist es besonders wichtig, auch die psychologischen Effekte zu berücksichtigen. Oftmals müssen die Überlebenden weinen, da die Erinnerung an Demütigung, an Bedrohung, an den Verlust von geliebten Menschen schmerzhaft ist. Selbst für erfahrene Interviewer ist es manchmal schwer, diesen Schmerz mitzutragen, aber sie lernen, damit umzugehen.
Die meisten Interviewer sind zwar keine Historiker, das Interviewtraining vermittelt ihnen jedoch die Fähigkeit, sich Informationen zu beschaffen, sich ausreichend vorzubereiten und das Gespräch sinnvoll zu leiten. Zur Vorbereitung auf das Interview hilft beispielsweise ein "Pre-Interview", in dem die Daten der Überlebenden schriftlich aufgenommen werden und die Interviewer erfahren, mit welchen Situationen und Ereignissen sie im Gespräch rechnen müssen. Die Interviews werden evaluiert, und die Interviewer und Videographen erhalten ein minutiöses Feedback, das ihnen hilft, ihre Arbeitsweise zu verbessern.DIE PERSPEKTIVE DER INTERVIEWTEN Aus der Sicht der Überlebenden sind die Ziele sicher kaum global gesteckt, sondern konzentrieren sich im wesentlichen auf die eigene Familie, worauf auch Rücksicht genommen wird. So läßt das Interview Raum für die Beschreibung des Schicksals einzelner Familienmitglieder. Während des Interviews konzentriert sich die Kamera auf das Gesicht des Interviewten, hingegen ist der Interviewer nur zu Beginn zu sehen, denn es stehen die Aussagen der Überlebenden im Zentrum. Die Betrachter werden bei jeder Geschichte das Tor zu einem ganz konkreten Leben und Schicksal öffnen. Am Ende des Interviews werden persönliche Fotografien und Erinnerungsstücke gezeigt. Eine der schönsten Ideen des Projekts ist es, daß am Ende des Interviews die Familienmitglieder eingeladen und vorgestellt werden und etwas über die Person des Interviewten sagen können. Es ist berührend zu sehen, wie sich die Familie versammelt, denn es zeigt, wie es den Überlebenden gelungen ist, ein neues Leben aufzubauen. Es gibt aber auch Überlebende, denen nichts von früher blieb als die Erinnerung, da sie alles verloren haben – sie haben keine Verwandten, keine Freunde, keine Fotos, keine Andenken. Mit ihren Erinnerungen bilden sie zumindestens kleine Denkmäler für jene, die selbst nicht sprechen konnten, da sie ermordet wurden. Und manche sind alleine und einsam, ohne Familie.
Die Realisierung des Projektes kann nur mit Hilfe von engagierten, freiwilligen Mitarbeitern und den Überlebenden selbst gewährleistet werden. Die Überlebenden werden genau über das Projekt informiert. Stimmen sie einem Interview zu, wird ihnen eine Person als Interviewer vorgeschlagen, die sie aber auch ablehnen können. Die Interviewer werden ebenfalls gefragt. Mir ist kein anderes Projekt bekannt, das derart rücksichtsvoll mit allen Beteiligten umgeht.DER SINN Es gibt bereits wichtige Institutionen, die sich der persönlichen Erinnerung von Überlebenden gewidmet haben – vor allem das umfangreiche Archiv für Tonbandinterviews von Yad Vaschem in Jerusalem und die New Yorker Research Foundation for Jewish Immigration. (6) Das Fortunoff Video Achive for Holocaust Testimonies an der Yale University in New Haven/Connecticut ist eine Einrichtung, die schon seit 1979 Videointerviews mit Holocaust Überlebenden erarbeitet. Dieses Archiv wird übrigens eine jener Institutionen sein, die Online-Zugang zum Survivors of the Shoah Visual History-Archiv erhalten werden. Bislang wurden für die Yale University 3.500 Video-Interviews geführt, die dort im Archiv als Video betrachtet werden können. (7) Anders als die Interviews für das Survivors of the Shoah Visual History-Projekt, werden die Interviews "offen" geführt und lassen dem Erinnerungsprozeß weitaus mehr Spielraum. (8) Der Nachteil für den ungeschulten Betrachter: das Durcheinander im Erinnern kann sehr schnell anstrengend wirken. Hingegen sind diese Interviews für Wissenschafter besonders wertvoll, da sie zwei Ebenen der Erinnerungen berücksichtigen: die standardisierte Erinnerung und die assoziative. Letztere ist nur möglich, wenn im Interview ausreichend Zeit für Assoziationen zur Verfügung steht – mit anderen Worten: Die Stärke dieser Art offener Interviews liegt in der Pause. Während derartige Interviews für die Wissenschaft große Bedeutung haben, sind sie für den an Massenmedien gewohnten Betrachter kaum zumutbar. (9)
Die Gegenwart bietet die Möglichkeit, so viele Daten wie noch nie zu speichern und zu bewahren. Geschichtswissenschaft ist immer eine Wissenschaft von Wissenslücken: Sie muß sich daran orientieren, was von einer Zeit als Informationsquelle übrigblieb. Die Geschichte des Holocaust ist zu wichtig, um viele Lücken offenzulassen. Es ist ein Verlust, daß die meisten der Täter zu feige waren, ihre Wahrheit zu erzählen, sich hinter Ausreden und Ausflüchten versteckten, logen oder schwiegen. Aber die Opfer der NS-Verfolgungen können mit ihren Erinnerungen eine Welt bewahren, die von den Nationalsozialisten zerstört werden sollte: den Mikrokosmos jüdischer Gemeinden in Europa oder des Lebens der Roma und Sinti. Nur die wenigsten Überlebenden bringen die Energie auf, davon schriftlich Zeugnis abzulegen. (10) Hingegen verschafft ihnen das Medium Video die Möglichkeit, die nach wie vor schmerzhaften Erinnerungen doch noch für die Familie und die Nachwelt zu sichern. Schon alleine deswegen ist dieses Projekt so wichtig. Abgesehen von den Ansprüchen einer globalen Öffentlichkeit, wird es unersetzbare Schätze für die Familien der Überlebenden schaffen: ein wertvolles Familiendokument.
In Gesprächen mußte ich schon die plumpesten Vorurteile über das Survivors of the Shoah Visual History-Projekt hören: Es handle sich dabei um eine typisch amerikanische Zugangsweise – eben Shoah Business. Oder: Die Interviewer seien nicht kompetent. Auf den ersten Einwand einzugehen hieße, sich auf Argumente unter der Gürtellinie einzulassen. Der zweite Einwand ist ernsthafter, aber er läßt sich mit einer Gegenfrage vorerst entkräften: Wo waren die Historiker und Gelehrten während all jener Jahrzehnte, als es noch möglich gewesen wäre, diese wichtigen Gespräche mit jenen Generationen zu führen, die heute leider nicht mehr leben? Das Projekt wird zwar nicht die Forschungen anderer Institutionen ersetzen können, aber es wird sehr viele wertvolle Informationen sichern helfen. Und die enorme Datenbank wird der Wissenschaft die Chance bieten, noch wichtige Kontakte zu knüpfen. Wer die Frage nach dem Sinn des Survivors of the Shoah Visual History-Projektes stellt, sollte sich selbst die Frage stellen, wieso er sie stellt.DAS KOLLEKTIVE GEDÄCHTNIS IM CYBERSPACE Das kollektive Gedächtnis ist die Manifestation von Vergangenheit in Zeit, in Räumen, in Dokumenten – in dem, was geblieben ist. (11) Die Erinnerung an den Holocaust manifestierte sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vielfältig und sehr unterschiedlich, beginnend mit den schockierenden Bildern und Filmen aus den Lagern oder den Berichten über die Prozesse gegen die Kriegsverbrecher.
Nach dem Krieg dauerte es sehr lange, bis der Reflexionsprozeß in Gang kam. Zu nahe war der Schreck, zu sehr waren alle Beteiligten mit dem Bemühen um die Rückkehr zu einer Normalität beschäftigt, die immer von der unfaßbaren Vergangenheit beschattet blieb. Politische und mediale Ereignisse setzten prägnante Impulse – besonders der Prozeß gegen einen der Hauptverantwortlichen für das schnelle Vorantreiben der "Endlösung", Adolf Eichmann, 1960 und 1961. Der Prozeß der Aufarbeitung der Vergangenheit läßt sich angesichts der Ungeheuerlichkeit des Geschehens nicht abschließen. Dies zeigt sich aktuell am Beispiel des international heftig diskutierten Buches von Daniel Jonah Goldhagen, Hitler’s Willing Executioners (12) oder an den heftigen Reaktionen in Deutschland und Österreich zur Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht im Osten Europas.
Gedenkstätten und Gedenktage werden in diesen Ländern noch immer als störend für die ersehnte "Normalisierung" empfunden. (13) Man sehe sich nur die Gedenkstätten in Wien an: Das Mahnmal, das an den Sitz der Gestapo im Hotel Metropol erinnern soll, fällt kaum auf, die meisten Passanten sind vorbeiflitzende Autos. Das Denkmal von Alfred Hrdlicka mit dem straßenwaschenden Juden steht zwar an prominenter Stelle, gegenüber dem Dorotheum, aber der Ort selbst erinnert weitaus stärker an die Kriegsopfer und die Formsprache des Denkmals als an die Opfer der politischen Verfolgung, während die Figur des Juden eher ein Klischee reproduziert. Der Bildhauer verlor außerdem mit seinen polternden, unsensiblen Vorwürfen gegen Wolf Biermann den moralischen Anspruch, für die jüdischen Opfer ein Symbol zu kreieren. Nach diesen unglücklichen Lösungen wird derzeit an einem weiteren Monument gearbeitet, das am Judenplatz wiederum an einer wenig signifikanten Stelle plaziert sein wird.
In Israel und den USA manifestierte sich die Erinnerung an den Holocaust als Teil der nationalen Identität: Am 19. August 1953 wurde die Erinnerungsstätte für die "Helden und Märtyrer", Yad Vashem, am Berg der Erinnerung in Jerusalem errichtet, wo sich auch das Grab von Theodor Herzl befindet. Die Gedächtnisstätte wird unter anderem von der israelischen Regierung geleitet, und die Erinnerung an die Shoah ist ein zentraler Bestandteil der Legitimität des Staates Israels geworden. (14) Auf Initiative von Präsident Carter beschloß der amerikanische Kongreß 1980 die Gründung eines United States Holocaust Memorial Museum, das im April 1993 eröffnet wurde. Der Ort des Museums ist von nationaler Bedeutung: Es liegt an der National Mall in Washington, D.C. (15) Vergleichbare Institutionen der Erinnerung, die zugleich Gedenkstätten, Ausstellungen, Informationen und Lehrprogramme für die Fortbildung anbieten, fehlen in Deutschland und Österreich immer noch. (16) Insofern verwundert es nicht, daß das Survivors of the Shoah Visual History-Projekt nach wie vor keine passenden Partner in diesen Ländern finden konnte, um ihnen ihr Online-Archiv zur Verfügung zu stellen.
"Cyberspace" ist ein neuer Ort der Erinnerung, nicht mehr ortsgebunden. Schon jetzt befinden sich im Internet viele auf den Holocaust bezogene Adressen. (17) Doch das Survivors of the Shoah Visual History-Projekt wird nur an realen Orten der Erinnerung und des Gedenkens zugänglich sein. Dies ist alleine schon deswegen erforderlich, um die Interviews vor Mißbrauch zu schützen, und auch deswegen, weil es sinnvoll ist, dieses enorme Archiv der Erinnerung in einem Rahmen verfügbar machen zu können, der sich dem Gedenken und der Information über den Holocaust verschrieben hat. Für die Gedächtnisorte und Besucher wird das Archiv der Erinnerungen der Überlebenden neue Dimensionen eröffnen.WARUM WOLLEN SIE TÜREN ÖFFNEN? Werden Sie sich vor den Bildschirm setzen, weil Sie verstehen wollen, warum dies alles geschehen konnte? Es ist notwendig und legitim, diese Frage zu stellen, aber ich vermute, Sie werden darauf keine befriedigende Antwort finden, denn was werden Sie sehen: Überlebende, die davon berichten, daß ihr Leben in der Hand von unberechenbaren Menschen lag. Sie werden vor allem die Opfer sehen, die erzählen, was ihnen angetan wurde und wie sie es geschafft haben, trotzdem zu überleben: durch Glück, Zufall, Klugheit, Chuzpe, ... Diese Menschen werden Ihnen kaum erklären können, wieso andere sich plötzlich zu Denunzianten, Dieben, hämischen Gaffern, potentiellen Mördern und Bestien wandelten, denn sie werden es selbst kaum verstehen können.
"Wer versucht, die Massenvernichtung wissenschaftlich oder künstlerisch, in Büchern, Stücken, Bildern oder bloß Filmen darzustellen, muß scheitern." (18) Das Survivors of the Shoah Visual History-Projekt wird diesen Anspruch ebenfalls nicht erheben können. Aber es wird das umfangreichste Monument der Erinnerung an das Schicksal derjenigen hinterlassen, die dem Tod geweiht waren. Und die Überlebenden werden in ihren Erinnerungen auch jenen Millionen Menschen sprachliche Ge-Denkmäler errichten, denen es nicht gelungen ist, zu überleben.
Werden Sie sich Zeit nehmen, sich auf die persönlichen Erinnerungen einzelner Menschen einzulassen? Werden Sie sich trotzdem – wo immer Sie sind und wann immer Sie leben – die Frage stellen, wie es dazu kommen konnte und wie Wiederholungen verhindert werden können? Es wird Zeit, daß wir Antworten finden.
(1) Elie Wiesel, From the Kingdom of Memory, New York 1990, S. 172.zurück
(2) Vgl. Survivors of the Shoah Visual History Foundation, World Wide Web, Home Page.zurück
(3) Nicholas Negroponte, Being digital, New York 1995, 163 ff.zurück
(4) http://www.vhf.orgzurück
(5) Saul Friedländer, Memory, History and the Extermination of the Jews of Europe, Bloomington – Indianapolis, 1993, S. 42 – 63.zurück
(6) Vgl. Herbert A. Strauss [Hg.], Jewish Immigrants of the Nazi Period in the U.S.A., Vol 3., Bd. 1.zurück
(7) Vgl. http://www.library.yale.edu/testimonies/homepage.htmlzurück
(8) Lawrence L. Langer, Holocaust Testimonies. The Ruins of Memory, New Haven – London 1991.zurück
(9) Guide to Yale University Library Holocaust Video Testimonies, 1994 [enthält Zusammenfassungen von 567 Videointerviews]. Außerdem kann der Katalog über Internet abgerufen werden.zurück
(10) Mit ca. 1.000 Autoren befindet sich eines der umfangreichsten Archive mit schriftlichen Aufzeichnungen im Archiv des New Yorker Leo Baeck Instituts.zurück
(11) Vgl. Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Nördlingen 1985; Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 11 ff.zurück
(12) Daniel Jonah Goldhagen, Hitler’s Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust, New York 1996zurück
(13) Vgl. die Beiträge von Wolfgang Benz und Reinhold Gärtner über "institutionalisierte Erinnerung" in der BRD und Österreich, in: Werner Bergmann/Rainer Erb/Albert Lichtblau [Hg.], Schwieriges Erbe. Der Umgang mit Nationalsozialismus und Antisemitismus in Österreich, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt – New York 1995; Barbara Schöllenberger/ Sigrid Steininger, Denkmal und Erinnerung, Wien 1993; Sybil Milton, In Fitting Memory. The Art and Politics of Holocaust Memorials, Detroit 1991; Orte der Erinnerung 1945 bis 1955 [Dachauer Hefte, 11. Jg., 11. Heft], Dachau 1995; James E. Young [Hg., Mahnmale des Holocaust. Motive, Rituale und Stätten des Gedenkens, München 1994.; Edgar Bamberger [Hg.], Der Völkermord an den Sinti und Roma in der Gedenkstättenarbeit, Heidelberg 1994zurück
(14) Saul Friedländer, Die Shoah als Element in der Konstruktion israelischer Erinnerung, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, Heft 2, Juli 1987, S. 10 – 22zurück
(15) http://www.ushmm.org/; Vgl. ferner Edward T. Linenthal, Preserving Memory. The Struggle to Create America’s Holocaust Museum, New York 1995zurück
(16) Das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes hat zwar wichtige Pionierarbeit geleistet und das Jüdische Museum in Wien ist eine wichtige Ergänzung, jedoch eine um breite Öffentlichkeit bemühte Holocaust-Erinnerungsstätte, die alle Möglichkeiten der Information und Ausstellungstechnik ausschöpft, fehlt in Österreich, aber auch in Deutschland, nach wie vor.zurück
(17) Yahoo nannte beispielsweise am 4. Juni 1996 unter dem Schlagwort "Shoah" 199 Eintragungen und 75 unter "Holocaust".zurück
(18) Doron Rabinovici, Das Verbot der Bilder oder Sichtweise und Anschauung, in: IWK-Mitteilungen, 4/1995, S. 3.zurück
|