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Ars Electronica 1996
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Festival 1979-2007
 

 

NAPOLI


'Roberto Paci Dalò Roberto Paci Dalò

"I sometimes think, Harry, that there are only two eras of importance in the world’s history. The first is the appearance of a new medium for art ..."

[Oscar Wilde, 1890]
Die akustischen Geheimnisse der Stadt zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten. Einfangen der Klanglandschaft durch allmähliche Annäherung. Eine Reise in das Gedächtnis der Stadt, wie in einem akustischen Film ohne Bilder. Schritte, Schreie, Lieder und Beschwörungen, Druckmaschinen, Musikinstrumente. Feiern am Vesuv. Sich ständig verändernde Bild- und Klangschichtungen, durchschnitten von den Blitzen eines akustischen Gewitters, das die ursprüngliche Wahrnehmungsquelle modifiziert. Das Mikrophon als Lupe zur Vergrößerung von Details, von sonst unhörbaren akustischen Fragmenten. Mikrohören und Makro-hören unter Beibehaltung der jeweiligen Merkmale. Nicht Verschmelzung, sondern Wechselbeziehung der Materialien. Der Hörer taucht in das Klangterritorium der Stadt ein, in der das tägliche akustische Leben so wichtig ist. Nicht ein Bild Neapels, sondern die Abwesenheit eines solchen erzeugt das ersehnte Staunen. Eintauchen in die Stadt durch das Geheimnis des Hörens.

Die Materialien, aus denen NAPOLI zusammengesetzt ist, wurden zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Teilen der Stadt gesammelt. Viele der Geräusche und Bilder stammen aus dem Herzen der Nacht.

Neapel ist eine ursprüngliche Stadt, und ursprünglich ist auch die Energie, die sie durchströmt. Träge, irritierend, bezaubernd, verwirrend. Neapel ist ein Kaleidoskop, ständig in Bewegung, für den einen ein Inferno, bewohnt von Engeln, für den anderen ein Paradies, bewohnt von Dämonen.

In dieser Darstellung von Neapel als danteskem Kosmos, in dem die geltenden Maßstäbe ungeschriebener Gesetze und Konventionen ein Handlungsraster bilden, das sich in keiner festen Form greifen läßt, erscheint Neapel als große Theaterbühne, durchdrungen von der Hypothese extremer, zugleich vielschichtiger und verdichteter Empfindungen.

Ausgehend von diesem Widerspruch besteht NAPOLI aus Präsenzen und Absenzen, umreißt eine Leere und läßt zu, daß diese sich mit Erwartungen und Verschiebungen füllt. NAPOLI fällt wie ein Vorhang vor die Bühne, auf der sich das tägliche Leben abspielt. So entsteht eine Pause zwischen dem, was hinter, und dem, was vor dem Vorhang bleibt; zwischen dem, was wir miterleben, und dem, was wir nicht erfahren. "Vorübergehend geschlossen".

Ein Stimmengewirr, das von weither kommt und in mysteriöser Weise den ununterbrochenen Sprachfluß intensiviert. Der Klang von Schritten, damit man nie vergißt weiterzugehen, auch wenn jedwedes Urteilsvermögen bereits verschwunden ist.

Rabbi Nachman aus Brazlaw interpretiert den Satz "Mein Leben lang bin ich unter Meistern aufgewachsen" folgendermaßen: "Ich bin aufgewachsen im Nichts, d. h. im Leerraum, in der Leere, die die Meister trennt und vereint." Er definiert Abweichung und Trennung als Ursprung aller positiven Werte. Dieser Leerraum zwischen zwei Positionen ist in gewisser Weise politisch, da hier die Weigerung, sich zu verschließen, am deutlichsten ist. Es ist der Ort der Anti-Ideologie schlechthin. Die miteinander kontrastierenden und widerstreitenden Wahrnehmungsperspektiven bilden ein dichtes Gewebe, in dem jeder Gesichtspunkt über seine Beziehung zu den anderen Gesichtspunkten wieder bei sich selbst anlangt.

Im Halbdunkel findet man sich umgeben von Klängen in Bewegung. Lichtblitze in bestimmten Intervallen erhellen einen Augenblick, einen Sekundenbruchteil lang die Umgebung. Dauer und Intensität der Lichtblitze sollen den Betrachter eher blenden als erleuchten. Das Licht kommt aus der Finsternis als Vorhang zwischen Raum und Blick. Es verleitet dazu, die anderen Sinne zu aktivieren und den Gesichtssinn aus Ahnungen von Bildern zu ergänzen, aus Fragmenten, die sich aus mehreren verschiedenartigen Eindrücken zusammensetzen. Wenn ein Blick nicht genügt, kann auch die Summe der Teilblicke das Ganze nicht schildern. Es geht vielmehr darum, eine Hypothese des Gesehenen und eine Hypothese des Gehörten zu beschreiben.

Deshalb auch die vielen Augen in NAPOLI.

Von der Erinnerung riesenhaft vergrößert, ruhen die Augen auf dem Alltäglichen.

Ex-voto-Augen zur Überwachung einer Fata Morgana. Ex-voto-Augen zur Versöhnung eines Wunders. Wunder des Scheins, glorreiche Schnittstelle zwischen Realität und Imagination. Ein Miniaturtheater, in dem die Körper in Scherben liegen, niedergestreckt von der absoluten Sünde südlicher Sonne.

Nackte Körper, erstarrt zwischen den Flammen eines ewig unbeweglichen Fegefeuers an den Straßenecken.
Ein Theater des Hörens, in dem das Klanggeschehen den Besucher einhüllt und ihn mitten auf die Bühne einer sich pausenlos zur Schau stellenden Stadt trägt.

Eine kleine Neon-Votivkapelle, in der sich Verzweiflung in einer Ikone und einer Anrufung manifestiert ...

Digitale Hitze, ein physikalisches Bit in einer [hypothetischen] elisabethinischen Szene, in der das Fleisch die Seele anruft.

Eine mediale Dramaturgie auf verschiedenen Ebenen – akustisch, visuell, zeitlich, räumlich – in Stimmen strukturiert.

Wie Patrizio Esposito sagt: "Neapel ist eine Stadt, der man die Kehle zudrücken will. Blaß, blausüchtig, ohne Atem." Pierpaolo Pasolini spricht an einer vielzitierten, beinah schon überstrapazierten Stelle von Neapel als letztem Stammessitz Europas. Wie von einem Dorf, das der Faszination der Moderne bewußt feindseligWiderstand leistet. Lang, lang ist’s her. Wenn man einer Stadt den Atem nimmt, manifestiert sich der erste feststellbare Schaden in ihrem Gedächtnis. Und wer kein Fenster hat, von dem aus er die Vergangenheit betrachten kann, der kann sich auch keine Zukunft erlauben. Hier versinkt man rundum in Dunkelheit... Hier in NAPOLI findet man den Blick auf die verlorene Erinnerung, auf die fehlenden Horizonte, auf die schwindelnden Höhen zwischen dem Meer und dem Vulkan.

In NAPOLI beschmutzen sich Technologie und Natur gegenseitig und erweitern so ihre Grenzen. Der Klang der Druckmaschine erzeugt einen Grundrhythmus, wie im Mittelalter der Tactus. Und wieder die Verbindung zwischen Maschine, Körper, Klangbewegungen im Raum.
Mit Elektrokabeln überzogene Territorien. Überall fließt Energie. Die Landschaft vibriert in einem ununterbrochenen Bordun.
REGIEANWEISUNG FÜR EINE MEDIALE DRAMATURGIE
NAPOLI ist eine hochgradig theatralische Installation, und das Theater eignet sich besonders gut für lautes Denken.

Kennzeichnend für die Arbeit der letzten zehn Jahre war eine dramaturgische Konzeption des Raumes und der Beziehungen zwischen Objekten, akustischer Umwelt und Erzählungen innerhalb meiner Werke. Eine stark theatralische Konzeption, die durch die Konstruktion eines "künstlichen" Raumes, in dem die Ähnlichkeiten zur "realen" Welt als erste Zugangsebene fungieren, und der vom Besucher/ Zuschauer nach typisch hypertextuellem Schema ausgefüllt wird.

Weiters wäre noch zu sagen, daß jedes Projekt einen eigens und explizit definierten Kontext erfordert. Gewisse Prozesse können sich besser in einer Installation materialisieren [mit Zugang rund um die Uhr und individuellem Erleben], während andere Projekttypen zeitlich und räumlich festgelegt sein müssen [wie eine Theater- oder Konzertaufführung]. Wichtig ist, die oft auch sehr unterschiedlichen Erfordernisse im Rahmen der Projekte auseinanderzuhalten.

Im Theater ist es möglich, Werke in Echtzeit zu entwickeln, die verschieden Ausdrucksweisen durch Überlagerung eher als durch [Ver]Mischung verbindet. Keine "Gesamtkunstwerke" also, sondern eher "Teilkunstwerke".

Die Realisation zeitgenössischer Werke in mehreren Disziplinen [in Theater und Musik ebenso wie in der Welt der Medien, also Fernsehen, Radio, Verlagswesen, Internet und in der Welt der bildenden Künste, also Museen, Galerien, öffentliche Räume] ermöglicht die Installation eines einzigartigen künstlerischen [und folglich philosophisch-sozialen] Projekts in unterschiedlichen Kontexten, das u. a. durch die Wahrnehmungsabweichungen entsteht, die sich aus dem ständig wechselnden Kontext ergeben: mehrere Versionen/Übersetzungen eines Nicht-Originals, jede davon in sich abgeschlossen, aber aufgrund einer permanenten Wahrnehmungsverwirrung doch Teil eines übergeordneten Ganzen, einer anderen möglichen Einstellung des Alltäglichen und des Gewohnten.

All das läßt sich mit einem einfachen, ganz und gar nicht ungewöhnlichen Ausdruck beschreiben: Theater.

Eine künstlerische Praxis, die auf der Basis von Variation und Elaboration versucht, die Problematik der Erkennbarkeit, der Kreativität um jeden Preis, der auferlegten Originalität zu meiden. Ohne Übertreibung ist eines völlig klar: die Zukunft [also auch die Gegenwart] erfordert immer mehr Gemeinschaftsarbeit, eher künstlerische Produktionen von Gruppen als von Einzelkünstlern. Im Theater wird das schon seit jeher praktiziert.

Allerdings muß man zwischen Theater und Theater unterscheiden. Unser Theater ist ein Weltbild. Eine Philosophie der Stille und der Erwartung, Souveräner Schauplatz der Reflexion. Hort der Philosophie.
Philosophie muß im Körper stattfinden.

Man macht eigentlich keine Erfahrung außerhalb des Körpers. Der Schauspieler praktiziert eine Philosophie, die sonst reine Theorie bleibt, mühsames Buchstabieren, an die Schrift gebunden, unfrei. Der Körper wird zum Gegenstand der Konfrontation. Flüchtige Schnittstelle zwischen dem Innen und dem Außen. Offene Tür.
Mit dem Körper und im Körper prallen die Geister der Moderne aufeinander.
In der Theaterpraxis hat der Körper schon seit jeher seinen festen Platz als Ort der Trennung und des Abstands.
Wien, Volksbühne, Pina Bausch, Nelken, Frühjahr 1993. Am Ende gibt es keinen Platz für Lob. Perfekte Beziehungen zu alltäglichen Mikroereignissen. Das Leben auf der Bühne wird transzendent. Nur stille, gefaßte Rührung kann das Geschehen kommentieren.
In NAPOLI kommen folgende Materialien zur Anwendung: Stimmen vom Marktplatz, Instrumente und Stimmen der Folkgruppe E Zezi [Marcello Colasurdo, Massimo Mollo, Marzia del Giudice], Heidelberg Druckmaschinen, Metalle, Wasser, Motorräder, Schritte.
Installation und Rundfunkbearbeitung wurden produziert von ORF Kunstradio, Giardini Pensili Rimini, L’ Alfabeto Urbano Napoli in Zusammenarbeit mit RAI Audiobox Rom.
Veröffentlicht als CD von L’Alfabeto Urbano/ Giardini Pensili, weiters als Teil der CD-ROM "Zeitgleich" [Transit/Triton/ORF Kunstradio].