Contained - Rückspiegel zur Realität
'Johannes Domsich
Johannes Domsich
VOM SANDKORN ZUR PERLE ZUM SANDKORN ...
"Das Erhabene trägt das Prinzip der Unberechenbarkeit in sich."
[Friedrich Kittler] Eine Vielzahl von Pflanzen, von der Art, wie sie die staubige Dürre von Bahndämmen, verfallende und gerade noch intakte Industrieanlagen oder halbherzig befahrene Wege besiedeln, sind Immigranten – genetisches Treibgut –, die als blinde Passagiere, mit Waren aus aller Welt reisend, gelegentlich aus den Waggonen des Fortschritts rieselten und heimisch wurden. Sie leben die Fremde aus einer eigenen, spröden Qualität. Sie expandieren erst explosionsartig, mäßigen sich in ihrem Wildwuchs zur Kultur und werden doch nicht heimisch, denn ihr Leben ist eines im Ghetto. Symbiosen, die sie eingehen, sind von kurzer Dauer. Sie besiedeln Areale, Zonen, die der Mensch und seine botanische Kultur der Nützlichkeit nicht benötigen, ja nicht einmal wahrnehmen. Ein No Man’s Land – Autobahnmittelstreifen, Winterhäfen, Verschubbahnhöfe, entschlafene Bundesstraßentankstellen, Flugfelder – Abwanderungsgebiete von Menschen, weiße Flecken in der Kartografie der Kultur.
Sie bilden eine Flora ohne Publikum, ohne Definition und Bestimmung zwischen Bewunderung und Unkraut. Sie leben in der Tristezza des Übersehenwerdens, trotz allen Lärms, der sie umtönt in der Stille des Vergehens.
Ein Wildwuchs an Metaphern und Romantizismen wuchert um die Arbeit und die Person von Just Merrit oder auch nur um mein Denken über ihn. Wie auch immer, derartige Arabesken sind von uns beiden gleichermaßen gewollt. Wir – zumindest ich – können nicht anders, und wer immer will, soll dieses Ödland mit gesenktem, mikroskopischen Blick betreten, jene seltsame, inszenierte Welt, die wir beide längst schon im Sitzen betrachten.
Just Merrit hat ein solches No Man’s Land aufgesucht und sich dort zurückhaltend, zögerlich, aber nicht unkommod niedergelassen: Die Ruinen der Ideale des industriellen Zeitalters, die Voest (1) besser noch deren Verdauungstrakt, den Schrottplatz. Die Schlote dieser Ruinen rauchen noch. Nicht daß der Verfall sie bereits entstellt, doch man erkennt es unschwer an der Vegetation, die begonnen hat zu infiltrieren, der Moloch der nicht enden wollenden Produktion liegt in den letzten Zügen, ist mehr schon Museum als Macht.
Was sind die Beweggründe, sich in ein derart morbides, zumindest nostalgisches Ambiente zu begeben? In der Wichtigkeitshierarchie von Just Merrit liegt scheinbar der richtige, präzise Kontext mit dem Werk an oberster Stelle. Aber auch seine Persönlichkeit braucht die Einbettung in ein romantisches Environment aus Ruß, Rost und Staub. Er bedarf der Beschütztheit in einem No Man’s Land und nicht der in einem kulturbeflissenen, durchwanderten Naturschutzgebiet, um die Erhabenheit des Untergangs als Parabel und nicht als Faktum einer Schulgeschichte zu sehen.
Der Geruch der proletarischen Arbeit ist unverdächtig, frei von Erklärungsbedarf zu Kunst und Politik. Er ist zu unschuldig und naiv, als daß jemand sich auch nur fragen könnte … Mit ihm ist jeder Künstler ohne Wenn und Aber. Die Ehrlichkeit der Anstrengung, die Ästhetik der Fabrikation bestimmen Produkt wie Schöpfer. Fleiß und nicht Geschick ist Instanz der Qualität. Mit Contained wuchs eine Werkstätte im Werk, eine Mimikri einer abgehakten, umgejäteten Epoche. Ein Fremdkörper, wie ein Staubkorn oder besser ein Samenkorn, verankert sich im System, beginnt wahrgenommen, überwuchert und einverleibt zu werden. Es keimt. Das Zielprodukt dieser Evolution ist ein Vehikel, ein "Samenfluggerät", das weiterschwebt, vielleicht zu den Ruinen der digitalen Ekstasen ... Stahl war das bestimmendste Material der industriellen Revolution. Es formte als Eisen die Architektur, betrieb die Zeichensprache des Fortschritts und erhob endgültig die Arbeit zur zentralen und alleinigen Definition des Menschseins. Nicht mehr das Produkt stand für das Individuum, sondern die Produktion. Aus dem Werk der Hände wurde das Werk der Maschine, der handelnde Mensch wandelte sich in einen betrachtenden.
Akzeptanz und Anerkennung in der Gesellschaft wird gleichbedeutend der Funktion im Prozeß der Herstellung gesellschaftlicher Produkte. Aus ich wird wir, aus mein wird unser. Die Religion der Fabrikation machte aus den Menschen systemische Fragmente – die berühmt-berüchtigten kleinen Rädchen -, deren Verantwortung auch nur noch Fragmentarisches betrifft.
Ein Teil der Produktion zu sein erübrigt die Verantwortung, und die Delegation der Konzepte hin zur Politik wie auch zur Kunst beginnt. Man läßt für sich regieren, man läßt empfinden, denken, leben. Darin ankert die Wurzel des Scheiterns, obwohl die Faszination der Gleichgültigkeit, der Lieblosigkeit nicht zu leugnen ist. Ganz ohne Zweifel war der "Vatermord" an der Tradition notwendig. Am Ende des 20. Jahrhunderts, der Fermate jeglicher Tradition von Wissen, ist es legitim, dies zu sagen. Die Frustration über die Enge der Form, die bekanntlich [A. Loos] die Löcher in die Schuhe macht, ist der Frustration über die Einflußlosigkeit in bezug auf das Endergebnis gewichen. Die Zuneigung zu den Ergebnissen dieser Epoche erklärt sich aus der egoistischen Liebe zum Ungeliebten.
Der Erfolg der Industrialisierung ist merkwürdig und doch erklärlich, setzt man die Faulheit als die ewig geltende Triebfeder menschlicher Werkzeugkreativität ein. Es läuft wie geschmiert. Erbaulich genug ist es, für sich arbeiten zu lassen, auch wenn Maschinen bald Arbeitsplätze rauben und als Roboter unsere Berufsalpträume bevölkern. Sie werden zu Duplikaten unserer selbst, sonst müßten wir uns als Schöpfer anstatt ihrer hassen. So wie die Menschmaschine mit ihrer Machbarkeit unbequem wird – sie müßte arbeiten –, so angenehm erscheint das produktive Schlaraffenland [instinct domain]. Ohne die Verantwor-tung der Handlung triumphiert die Beliebigkeit der Faulheit. Verantwortung bedeutet Zeit, Arbeit und Intimität, also alles, was nicht zu einem Schlaraffenland der Willkürlichkeiten paßt.
Das Paradies haben wir mit Tücke und Kultur in das Schlaraffenland der Wegwerfgesellschaft verwandelt und Verantwortungslosigkeit – die im Eigentlichen den Verzicht auf Arbeit bedeutet – so lange betrieben, daß die Idee einer Umkehr am Abgrund der ökologischen Katastrophe eine mehr als blauäugige ist. Wir haben nichts und alles zugleich, nur um "es", wenn es sich mit uns in Beziehung setzt, wegwerfen zu können. Ich ist ohne Aura, ohne die Information des Besitzes, um immer wieder aufs neue konsumieren zu können.
Die Ich-Findung über ein Produkt muß scheitern, wenn der Großteil der Bewohner der "industrialisierten" Welt kein eigenes Produkt, geschweige denn ein präsentables Curriculum vorzuweisen hat. Der Terror der kulturellen Archive [B. Groys], der Anerkennung durch Arbeit, ist uns aber geblieben. Was und wer von uns wird überdauern? Wo liegt die Chance, ins Gedächtnis der "Kultur" zu gelangen? Keine Lösung, ergo produziert man – unwillig und gehetzt zugleich – Kunst oder Kinder.
Damit aber nicht genug des Schreckens, an Hindernissen der Faulheit und Bewegungslosigkeit: Produziert man keine eigenständigen Produkte, wird über kurz oder lang das Ich zum Produkt, zur Maschine und zum Medium – der Mensch als Autonaut im All[es] der Informationen. Jeder ist ich und sich selbst genug [H. Ibsen], Kommunikation würde das selbstvergessene Tändeln mit Informationen nur stören. Nur, was sind die Objekte des Ich, womit, wenn man nur einmal lebt, soll man spielen? Ein Leben, ein Spiel, eine Chance und keine verläßlichen Traditionen, keine Wiedergeburt, bestenfalls ein autoritäres Jenseits [mit Hosianna-Singen].
Ein Fehler, eine falsche Entscheidung, und das Produkt Ich ist verpatzt. Doch egal, es sieht ja keiner außer dem Ich, das, in den Freizeitmaschinen vergessen, an [s]ich arbeiten muß. Das Gedächtnis des Körpers ersetzt das des Gehirns. Die Spuren der Zeit sind im Körper [nicht am Körper, A. Assmann] und nicht im Wissen.
Die mehr oder minder kreative – denn die Innovation als Imperativ der Moderne haben wir hinter uns gelassen – Intelligenza flüchtet in Selbstfindungs- oder Hobbykunst-Camps. Denn natürlich ist jeder ein Künstler, wenn es nur zwei Instanzen der Kunst gibt: Der eine wird durch die Selbstproklamation seiner Arbeit als Kunst zum Künstler, der andere definiert durch seine Bezeichnung des Kaufgegenstandes das Kunstwerk und dessen Produzenten als Künstler. Das "goldene Kalb" der Individualität hat die öffentliche Lesbarkeit erübrigt. Kunstwerke gibt es so viele, wie es Behauptungen und Anmutungen gibt. Ist ein Ich nur erst erlogen, ist Produktivität möglich und Unprüfbarkeit die Hintertür in die Archive der tradierenden Oligarchien – Kunst durch die Durchsetzungskraft des Kommerz.
Das also ist das Szenario, vor dem die Voest Schutz bietet. Ohne die peinlichen Verrenkungen der selbstdefinierten Avantgarden und die Schrebergärten und Restlküchen der Postmoderne lebt es sich in den archaischen Hallen der Schwerstindustrie wie im Laboratorium der Vergänglichkeit – mehr noch ist man Teil dieser Vergänglichkeit, wie ein Parasit, der stirbt oder weiterzieht, wenn sein Wirt zugrunde geht.
Just Merrit belebt die schmale Passage zwischen Gegenwart und Vergangenheit, gleichsam den Augenblick der Metamorphose von Kultur zur Geschichte [vom Jetzt zum Gestern]. In seiner Ästhetik nimmt er die Geschichte vorweg und kokettiert dennoch in seinen Arbeiten mit dem Elan des Fortschritts. Tempo ist ohne Akzeleration, weder positiv noch negativ – im Rückspiegel zur Zukunft gleichzeitig – momentan. Die Funktion ist zu Ende und eine neue noch nicht gefunden, und die Samenkörner sprießen in den "Noch-Nicht-Ruinen" einer "Noch-Nicht-Vergangenheit".
Das Gefühl von Beschütztheit ist nur dort zu finden, wo die Funktion des Schutzes fehlt. Nicht der Bunker im Krieg, sondern der im Frieden schützt durch seine Überflüssigkeit, durch Sublimität ohne Angst. Und um ein Unverständnis [P. Weibel] auszuräumen: Faschistoidität entsteht aus Handlung, nicht aus Beobachtung. Nicht die Produkte des Faschismus, sondern deren Produktion ist verwerflich. Diktatoren schützten die Idee der Ruine als Indiz ihrer Macht in einer fernen Zeit. Sie liebten die Bombe als Instrument des Untergangs, den nur eine Rasse überlebt. Ihre Ästhetik ist die Zerstörung und das Zerstörte. Just Merrit bewegt sich im Übergang.
Sein Sammelsurium [Museum] gleicht einem Ersatzteillager der Moderne, einer "Gen-Datenbank" eines nie konsequent erfolgten Postkonstruktivismus. Er verwaltet Fragmente, deren Charme im Fehlen der Funktion liegt, im Kitsch der Parabel des einsamen Zahnrads, als Mensch ohne Beziehungen. Denn natürlich sind wir kleine, unbedeutende Rädchen, nur eben ohne Maschine.
So sehr Just Merrit die Ästhetik der Kollektive liebt, bedeutet die Arbeit mit seinem Körper, mit seinen Sinnen die Auflösung dieser Ästhetik. Er selbst ist das Kollektiv, und das real existierende Kollektiv ist eine Kollektion von Autisten. Die Symbole und Zeichen der Moderne besitzen in seiner Assemblage keine politische Richtigkeit mehr. Sein Verstehen durch Imitation gewinnt durch sein Wissen um die Falschheit der Gesten und Rituale des Kommerz.
Erinnerung ist eben kein Produkt, sie ist unteilbar, nicht käuflich. Fragmente sind die Katalysatoren der Erinnerung, sie gelten für jeden, auch wenn keine Erinnerung der andern gleicht. Just Merrits Labor der Vergangenheit ist in diesem Sinn eine Maschine gegen das Vergessen [wie die Schrift, Platon], seine Moral hält das "Sich Erinnern" gegen das "Erinnertwerden".
Contained bedeutet aber auch Autonomie. Auf den ersten Blick mögen die Container wie Wohnwagen ohne Räder wirken, gestrandet in irgendeinem Winkel der Welt. Contained ist alles, was man braucht zum Überleben auf der Insel – überhaupt ist der Wille zu überleben bestimmend und nicht der nach Kultur. Ist Contained eine Robinsonade, dann ist Robinson zugleich auch Freitag. Nicht eine Kultur erklärt sich einer anderen, sondern eine Kultur erklärt sich sich selbst.
Erneut entsteht ein romantischer Aspekt. Zum einen Maschinen und Werkzeuge, die, auf die Insel gerettet, einen Neuentwurf von Kultur versprechen – welche drei Dinge würden sie auf eine einsame Insel mitnehmen ...
Zum anderen die Chance zum zwar einsamen, aber unbeobachteten Leben. Autonomie "in ihrer schönsten Form", denn man tut, was man will. Den Despoten des Kulturbetriebs schickt man Versatzstücke oder Attrappen für die Orangerien des Kunstbetriebs, kleine oder größere "Staunstücke", die nur in den Glashäusern des Kommerz überleben. Man hat seine Schuldigkeit getan und kann bleiben, wo man will, umringt von den echten, wahren Schönheiten – womöglich nackt und faul.
Und was soll es schon bedeuten, daß der Zigeunerwagen ohne Räder ist? Der nächste "Wirt", die nächste Epoche, ist ohnehin nicht auf Rädern zu erreichen, auch wenn sie sich, dumm genug, eine Autobahn baut. Auf dem Electronic Superhighway gibt es keine Nebenstraßen, wieder geht es um die "Maut". Was kann man tun? Für alle die, denen Emanzipation und Autonomie nicht gelingen will, einen Truckstopp Behaglichkeit schaffen. Erneut der Machismo der männlichen Arbeit, der Bewegung, der Geruch von Schmieröl, von dem Gummi der Pneus. Wieder ein Verharren in einem zeitlosen Raum. Die Werbung hat uns doch ohnehin "mach mal Pause" verordnet [aber wer will schon tot sein]. Das Fahren mit und ohne Ladung braucht seine Zeit, verlorene Zeit. Die Erotik des Provisorischen, ohne Verantwortung nur Ich sein – Gleiten, Rollen, Pausieren in einem Provisorium des Lebens, in einer billigen Imitation von Behausung. Gemütlichkeit aus zweiter Hand, benutzt von Fremden mit Spuren, die nicht die unseren, die meinen sind. Der Zahn der Zeit ist ein Zahnrad. Zeit erfahren wir nur durch die Spuren, die sie hinterläßt. Sind es nicht Spuren an uns, leiden wir nicht [Nostalgie des Flohmarkts].
Dort liegt die Schönheit, die Behaglichkeit der straflos vergeudeten Zeit, die uns in Zügen überkommt. Dort empfangen wir Signale von der Insel, zu der wir bedauerlicherweise nicht auf dem Weg sind. Noch leben wir in den Strömen des Neuen, das in seinen Konzepten längst schon abgetakelt ist. Wir haben kein Floß Contained.
Wenn Just Merrit es sich in seinem Fauteuil bequem macht, bedeutet das für die Epoche nichts Gutes. So sehr man die Vitalität des Computerzeitalters, dessen unendlichen [weil noch nicht ansatzweise angedachten] Möglichkeiten und Perspektiven loben mag, mit seinem Erscheinen beginnt der Untergang, und aus unserer Faszination wird ein Gesundbeten eines Sterbenden. Chips zerbröseln zu Sand.
Just Merrit animiert in Contained eine Zeitmaschine, in der die Zeit keine Funktion mehr hat, deren Arbeit darin besteht, die Zeit aufzulösen. Er selbst forscht nach der Essenz des Behagens und des Notwendigen. Er plaziert sich in der Gesellschaft ohne jede Neugierde, die ihn ohne Umweg und ohne Alternative zum Publikum werden lassen würde. Neugierde und Langeweile sind Spielarten von ein und demselben – so bleibt er betroffener Außenseiter ohne Möglichkeit zu verstehen, ein Fremdkörper.
Der grundsätzliche Charakter des modernen Spektakels ist die Inszenierung seines eigenen Verfalls. Ist das Neue die Instanz der Kunst, kann es nur Altes geben.
Welche Chancen hat die Perle, nicht am Hals der Bourgeoisie zu enden, nicht vor Säuen zu liegen, als erneut zum Sandkorn zu werden. Für Just Merrit, Juni 96 e.i.a.e.
(1) Voest, gegründet 1938 als "Reichswerke Hermann Göring", wichtiger Waffenproduzent im Dritten Reich. Nach 1945 Überführung in die Österreichische Verstaatlichte Industrie. Vor der weltweiten Stahlkrise größter Arbeitgeber in Oberösterreich [bis zu 30.000 Beschäftigte]. Ab 1970 zahlreiche Umstrukturierungsmaßnahmen.zurück
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