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Der Code ist in der Übersetzung


'Jocelyn Robert Jocelyn Robert

Unsere Gewohnheit, das betrachtete Objekt direkt anzusehen, scheint, wie so vieles, ihre Wurzeln in der Renaissance zu haben.
15xx: Erfindung des Teleskops. Entgegen dem weit verbreiteten Glauben lag sein eigentlicher Nutzen nicht darin, mehr Licht über große Distanzen an die Netzhaut zu leiten, sondern darin, das Objekt der voyeuristischen Neugierde aus seiner Umgebung herauszuheben. Den Blick auf eine einzelne Sache, auf einen einzelnen Lichtpunkt zu richten, fällt um vieles leichter, als im gigantischen Himmelsrund einen komplexen Mahlstrom, mit Rotationsbewegungen und unendlich langsamen Verschiebungen unvorstellbaren Ausmaßes, zu erkennen. Überdies kam das Teleskop der Entwicklung einer Religion der "exakten" Wissenschaften entgegen, deren grundlegendes Dogma lautet, Bewegung, in welchem Kontext auch immer, zu ignorieren und im Namen des absoluten kompromißlosen Wenn zu predigen.

Die vor uns den amerikanischen Kontinent bewohnten [und nie etwas von Galileo gehört hatten, bevor wir sie zwangen, zuzuhören, wenn wir von ihm sprachen], trugen nicht das Mal der zyklopischen Lebensweise. Im Wissen um den Unterschied zwischen Stäbchen und Zäpfchen, lange bevor der Beweis ihrer physiologischen Existenz erbracht wurde, richteten sie ihren Blick abwechselnd auf die beiden Seiten ihres nächtlichen Pfades, sorgsam darauf bedacht, nicht auf das Ziel ihres Weges zu blicken. Natürlich war das die beste Art, dorthin zu gelangen.

Bei näherem Hinsehen erkennen wir TV-Konsumenten, die sich via Fernsehen Mord und Totschlag reinziehen und 150 weitere Fernsehkanäle fordern. Nicht, weil damit die Chance für einen guten Kanal gegeben wäre. Nein, ein zusätzlicher Kanal muß her. Das hat nichts mit der Suche nach einem besseren Blickwinkel zu tun, sondern eher mit dem Wunsch, diesen zu vervielfachen, ihn als ausschwärmende Bande anzulegen, die ihr Gebiet mit der Hand am Drücker durchstreift.

Eine Idee besteht aus einer knappen Milliarde elektrischer Funken, die unter unserer Schädeldecke explodieren. Es ist wie die Krone einer Welle. Wellen mit einem Teleskop betrachten?

Was aus Now Art hervorbricht, hat nicht viel mit einer Theorie der Kommunikation zu tun, noch weniger mit einer Elegie auf die neuen Medien, sondern entspringt dem gefährlichen Kontakt mit der Kurvenkrümmung dieser Eierschale im Raum, an die ein Telephon bei 150 km/h sorgfältig ein banales Telefon gehalten wird. Dies umso mehr, als diese Kunst einem rasenden Zug gleicht, der am Horizont auftaucht und dessen relative Geschwindigkeit sich zur Geschwindigkeit derer addiert, die in eine andere Richtung denken. Nicht dorthin gilt es zu blicken, sondern überall hin, in einer gekrümmten Bahn. Und nicht einmal das steht unverrückbar fest. Überall ist ein Wort, das [sich] bewegt.

Wir bewerfen einander bereits mit Milliarden von zu Worten geformten Elektronen, in der Hoffnung, daß der Zusammenprall dieser Partikel ein menschliches Quark hervorbringt, aus dem wir dann eine neue Landkarte territorialer Elemente entwerfen können.
Das neue Territorium ist im Werfen.
Die Brücke ist in der Bewegung.
Der Code ist in der Übersetzung.
Das neue Interesse der Kunst am Nomadentum ist kein Zufall: "Nomade: subst., eine Sensibilität ohne festen Wohnsitz."
Wissen entsteht durch Reduktion, so viel zur Ignoranz.
Erfahrung entsteht durch Bewegung.
Kunst ist Ballistik.
Die Entdeckung des Verhältnisses zwischen den Seiten eines rechtwinkeligen Dreiecks geht auf Pythagoras zurück: a2 + b2 = c2.

Ein Kinderspiel.

Diophantos von Alexandria, ein griechischer Mathematiker aus dem dritten Jahrhundert, begann sich für diese Art von Gleichungen zu interessieren und beschäftigte sich eine Zeitlang mit deren Entwicklung und Lösungsmöglichkeiten für ganze Zahlen. [Ein Beispiel, das uns allen aus der Schulzeit geläufig ist, lautet: 32 + 42 = 52, d.h.: 9 + 16 = 25.] Dann schrieb er ein Buch mit dem Titel "Arithmetik", in dem er seine Arbeit zu diesem Thema vorstellte.

Um 1637 entwickelte Pierre de Fermat, ein französischer Anwalt, der sich zum Zeitvertreib mit Mathematik beschäftigte, ebenfalls ein Interesse für dieses Gebiet des Zahlenspiels. Während er sein höchst persönliches Exemplar der "Arithmetik" las, ersann er eine kurze Theorie, die besagte, daß es für xn + yn = zn keine Lösung gibt, wenn x, y und z positive ganze Zahlen sind, und n eine ganze Zahl < 2 ist. Er notierte diese Idee auf einem Seitenrand des Buches und fügte folgende Erläuterung hinzu: Ich habe einen wahrhaft wunderbaren Beweis für diese Theorie gefunden, doch leider – dieser Rand ist nicht breit genug dafür. Dann verstarb er.

Seit drei Jahrhunderten ist diese Theorie unter dem Namen Fermatsche Vermutung bekannt. Und seit damals brüten Mathematiker aus aller Herren Länder über diesem Problem: Welchen Beweis konnte er wohl gemeint haben?

1993 machten die beiden amerikanischen Mathematiker Andrew Wiles und Richard Taylor einen Lösungsvorschlag für das Problem. Ihr ca. 130 Seiten umfassendes Werk war bei Fachexperten zunächst umstritten, wurde dann zwei Jahre lang überarbeitet und 1995 schließlich erneut präsentiert. Es findet zwar noch immer nicht einhellige Zustimmung, scheint der Sache aber nähergekommen zu sein.

Diese Geschichte rund um ein simples – und völlig nutzloses – Zahlenproblem wirft einige grundlegende Fragen zur Mathematik auf: Betrieb Fermat Mathematik, als er seine Randbemerkung in das Buch schrieb? Wurde mehr Mathematik daraus, wenn jemand anders die Bemerkung las? Handelte es sich um Mathematik, wenn jemand anders an diesem Problem arbeitete, ohne eine neue Lösungsmöglichkeit zu finden? Welche Rechtfertigung gibt es für die vielen Jahre harter Arbeit, die Taylor und Wiles – und die anderen – auf die Ausarbeitung dieses völlig nutzlosen Beweises verwendeten?

Die Ergebnisse ihrer Arbeit wurden veröffentlicht. Wurden sie mathematischer, wenn sie von anderen Menschen gelesen wurden? Von vielen anderen?

Mathematik ist ein Duell. Mathematik ist der Kampf zwischen einem Mathematiker und einer Welt. Nicht-Mathematiker haben nicht viel mit ihr zu tun. Sie steht der Kommunikationstheorie, die ihr einige gern umhängen möchten, vollkommen fern: Kein Sender, keine Botschaft und kein Empfänger.

Die Welt bestürmt und verführt uns auf vielerlei Art und Weise; warum ist jemand von Granit fasziniert und nicht von Butter? Von Tanz und nicht von Jogging? Vom Wetter und dem Ablauf der Zeit und nicht von Zahlen? Wird die Faszination zur Lüge, wenn sie nicht mit anderen geteilt wird?

Kunst ist nicht Kommunikation.