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Ars Electronica 1996
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Interaktivität


'Peter Assmann Peter Assmann

1990 wurde im Rahmen der Sparteneinteilung des Prix Ars Electronica eine neue Preiskategorie geschaffen: Neben Computergrafik, Computermusik, Computeranimation trat nun auch die Sparte Interaktive Kunst. Die Organisatoren des großen internationalen Wettbewerbes für Kunst mit dem Computer trugen damit der Situation Rechnung, daß immer mehr Einreichungen für diesen Preis künstlerische Konzeptionen in Form von komplexen Interaktionssystemen waren, die zwar Elemente der Computergrafik, teilweise der Animation, teilweise spezieller Soundgestaltungen beinhalteten, im jeweils konzipierten Zusammenwirken verschiedenster Elemente allerdings kein eindimensional betracht- bzw. benutzbares Werkstück zeigten, sondern ein System verschiedenster Annäherungs- und Bewegungsmöglichkeiten, das in seiner jeweiligen Erscheinungsform von den Interventionen des Betrachters/Benutzers abhängig ist.

1995 stellt Hans Belting (1) für die Bereiche Video und Installation fest: "Die Kunstgeschichte, als offizielle Chronik eines sinnhaften Geschehens, hat hier noch gar nicht Fuß gefaßt, also, sagen wir, gleichsam noch nicht begonnen, ein Geschehen aufzuarbeiten, das inzwischen fast drei Jahrzehnte alt ist und unbestreitbar in der Kunstszene stattgefunden hat." Der Grund hierfür läge nach Belting vor allem in der veränderten Werkstruktur, im völlig veränderten Umgang mit Zeit. Das Zitat des Kunsthistorikers und seine nachfolgenden Überlegungen können fast deckungsgleich auf die Situation der interaktiven Installationen angewendet werden: Zwar treten sie noch nicht seit drei Jahrzehnten auf, sondern je nachdem, wo man die konzeptuellen Definitionen zieht, erst seit etwa einem Jahrzehnt, doch eine systematische kunsthistorische Aufarbeitung fehlt bisher vollkommen. Die markanteste Ursache hierfür liegt in der sehr raschen und vielfältigen technischen Entwicklung, die jedes Jahr immer neue technische Möglichkeiten anbietet und die Aufmerksamkeit des Kunstbetrachters, aber natürlich auch des arbeitenden Künstlers, auf diese neuen Möglichkeiten richtet, die – im Sinne eines Handwerkszeugs – erst erprobt werden müssen.

Offensichtlich ist jedoch, daß kein Medienkunstfestival und immer weniger Videokunstfestivals – und von beiden Veranstaltungen gibt es weltweit immer mehr – keine interaktiven Installationen präsentieren. Der teilweise große technische Aufwand macht die Realisierung und die Qualität des Erscheinungsbildes einer solchen Installation jedoch sehr häufig von entsprechenden finanziellen Voraussetzungen abhängig. Die konkrete Erscheinungsform verzerrt daher oft die zugrunde liegende Konzeption. Auch sind längerfristige Präsentationen kaum möglich, da die Voraussetzungen für eine permanente technische Betreuung in den wenigsten Fällen gegeben sind.

Was beinhaltet aber nun "Interaktivität" als kunsthistorischer Begriff? Das Einbringen dieses Begriffes als neue Kunstkategorie wird durchwegs sofort mit dem Vorwurf konfrontiert, daß es diese angeblich neue Kategorie schon immer gegeben habe, verbunden zumeist mit dem Hinweis darauf, daß der Betrachter eines Bildes bzw. einer Skulptur dieses Werkstück von verschiedenen Seiten betrachten und somit verschiedene Ansichten dieses Kunstwerkes erfahren könne. Außerdem erfordere die Komplexität der Gestaltung qualitätvoller Kunstwerke ohnehin eine längere Betrachtungszeit und ein ständiges Überprüfen dieser Betrachtung. Es sei hier gleich festgehalten, daß der Begriff "Interaktivität" das Wort "Aktion" beinhaltet, und zwar sowohl die Aktion des Betrachters wie auch die Aktion des betrachteten Komplexes [inter!]. Ein traditionelles Werkstück der Kunst ist entweder statisch – etwa ein Gemälde – und verändert sich durch die Betrachtung grundsätzlich nicht [ausgenommen natürlich sehr langfristige biologisch-chemische Veränderungen]. Bewegliche Körper, Maschinen oder auch Filme bewegen sich zwar, bewegen sich jedoch innerhalb eines strikt festgelegten Rahmens, der vom Betrach-ter nur durch Ein- und Ausschalten des jeweiligen Antriebes verändert werden kann.

Interaktive Kunst hingegen ermöglicht auf der Basis der virtuellen Realität des Computers den Aufbau eines individuellen Erfahrungspfades des Betrachters. Sie stellt ein im besten Falle sehr weit gespanntes System der verschiedensten Ein- und Ausschaltungen vor, die sich nicht – wie etwa beim Film oder anderen vordefinierten Abläufen – auf einer Linie bewegen, sondern in einem Feld bzw. Raum agieren.

"Erst im Gebrauch wird diese Kunst richtig erlebt. Noch mehr als einfacher Benutzer wird man Gesprächspartner. Leute, die mit Skulpturen reden, sind suspekt. Doch wenn die Skulpturen antworten, ist man gerettet und steht nicht mehr ganz blöd da. Du und etwas führen einen Dialog, ein einmaliges und persönliches Gespräch, das vollkommen anders ist als Gespräche, die andere damit führen, oder andere Gespräche, die du ein andermal führen wirst. Du und dein "Partner" sind beide von dem Geschehen betroffen." (2)

Um im visuellen Bereich zu bleiben: Der Betrachter/Benutzer stellt sich also seinen eigenen Betrachtungsfilm zusammen. Interaktive Systeme operieren jedoch keinesfalls ausschließlich mit visuellen Reizen, wenn bis dato auch die Dominanz des Optischen unübersehbar [im wahrsten Sinne des Wortes] ist.

Hans Belting verweist in seiner Beziehungssetzung von Neuen Medien und den Traditionen der Kunstgeschichte vor allem auf den veränderten Zeitbegriff: Noch intensiver als Video definieren sich interaktive Systeme vor allem aus der Gegenwart, aus der jeweiligen Interaktionssituation heraus. Kunsthistorisch ergibt sich dadurch natürlich der Bezug zu allen situationsbezogenen Kunstformen – Performances, Happenings, Aktion –, wobei jedoch das jeweilige Erlebnis sich aus dem Dialog zwischen Person[en] und Maschine[n] entwickelt. Diese Maschinenpartner [Computer] sind komplexe Steuerungssysteme und verweisen in ihrer [künstlerischen] Erfahrbarkeit vor allem auf die Programmierkonzepte für ihre Steuerung – also auf konzeptuelle Kunst-Traditionen, in ihren umfassenden Gestaltungstendenzen auf die Auseinandersetzung mit dem "Umfeld" [Kontext] eines künstlerischen Werkes – und somit letztlich auf Duchamps Fragestellung: "Kann man Werke machen, die nicht "Kunst" sind?" (3) Wie definieren jedoch interaktive Systeme ihre Reaktion auf Fragen der Kontextualisierung oder – um einen etwas älteren Begriff zu verwenden – wie gestalten, wie agieren interaktive Systeme im Hinblick auf das Environment.

INTERFACE – SINNLICHKEIT
Interaktive Systeme definieren sich vor allem als Benutzungsdialog zwischen einem Menschen und einem computergesteuertem System. Der Zugang zu diesem System, die Schnittstelle, markiert den Erstkontakt des Betrachters mit dem System. Sie ermöglicht ihm zugleich die Steuerung seines Zuganges. Dieser Zugang kann nur über eine sinnliche Annäherung erfolgen. Als Qualitätskriterium für interaktive Systeme kann daher durchaus die Fragestellung gelten, inwieweit dieser Zugang präzise gestaltet wurde, inwieweit sich die Schnittstelle mit den nachfolgenden Systemabläufen kohärent verhält.

Gerade dieser Frage ist zunächst weniger Aufmerksamkeit geschenkt worden, da im Mittelpunkt des Interesses zumeist die technischen Möglichkeiten des Systems selbst standen. In jüngster Zeit – und die Einreichungen für den Prix Ars Electronica 96 haben dies wiederum bestätigt – wird jedoch von seiten der Künstler immer mehr die Ausarbeitung eines sehr komplexen und präzisen Interface angestrebt.

Bei der Gestaltung dieser Schnittstelle treten natürlich die Traditionen der Objektkunst, die Traditionen des skulpturalen Denkens der Kunstgeschichte als Referenz heran. Der Anspruch kann hier durchaus formuliert werden, daß diese Schnittstellen in besonderer Weise künstlerische Aufmerksamkeit erfahren müssen, da sie nicht nur der "Rahmen" für ein Werk sind, sondern integrativer Bestandteil einer gesamten Werkkonzeption. Es wäre falsch anzunehmen, daß auch der computergeschulte Betrachter nur das digitale System wahrnehmen würde und nicht die Inszenierung dieses Systems, seinen Zugang.

Je weniger offensichtlich technisch diese Schnittstelle gestaltet ist, desto direkter kann sie in Bezug zur sinnlichen Realität des Betrachters gesetzt werden. Die sogenannten Datenhelme und Datenhandschuhe, die in früheren Jahren fast immer für den Einstieg in die virtuelle Realität benötigt wurden, schufen stets eine Barriere zwischen der sinnlichen Welt des Betrachters und seinem Einstieg in die virtuelle Realität. Sie erforderten vom Betrachter ein Negieren bestimmter sinnlicher Wahrnehmungsqualitäten, sei es nur ein Negieren des Zwischenraumes zwischen dem Auge und den beiden Monitoren vor dem Auge im Datenhelm bzw. ein Negieren anderer Körperteile außer der Hand – nur sie konnte auch mittels des Datenhandschuhs als Objekt im virtuellen Raum bewegt werden.
ZEIT – BLEIBEN
Wie bereits herausgestellt, durchbrechen interaktive Systeme eine lineare Betrachtungszeit; sie durchbrechen auch die ausschließlich von einem – sei es auch noch so komplex gestalteten – Objekt ausgehende Erfahrungssituation. Vielmehr bieten sie im Zusammenwirken von Schnittstelle und Computersystem ein Feld der Möglichkeiten an, sich selbst über die Navigation in einem System mit nicht a priori Wahrnehmbaren zu konfrontieren.

Zumeist ermöglichen sie aber auch in gleicher Weise einem außenstehenden Betrachter zu sehen, wie ein individueller Benutzer in diesem System agiert. Die Aufmerksamkeit des Betrachters ist also zu gleichen Teilen auf die Erfahrung des Systemes selbst wie auch auf die Erfahrung des individuellen Umgangs mit diesem System gerichtet. Die Wahrnehmungszeit in ihrer inneren Struktur des Betrachters ist jedoch ausschließlich von der Zeiteinteilung des Benutzers im System abhängig.

Interaktive Systeme gestalten außerdem vielfach mehrere Kommunikationsmöglichkeiten im System, die Vernetzung von Systemen erweitert noch zusätzlich die jeweiligen Steuerungen der Erfahrungszeit und der Erfahrungsimpulse: Mehrere Betrachter/Benutzer haben die Möglichkeit, im und mit dem System zu kommunizieren. Die individuellen Variationen sowohl des Zugangs zum System wie auch der Interaktion in diesem sind zumeist so vielfältig, daß eine sehr lange Erfahrungszeit vonnöten wäre, um alle Detailvariationen zu erfahren. Im Falle von Systemvernetzungen, z. B. mit dem Internet, ist die inhaltliche Variationsbreite zudem von Faktoren außerhalb des Systems abhängig: Die Zeit der möglichen Veränderungen inhaltlicher Impulse ist daher durchwegs extrem lang, teilweise nur von maschineller Haltbarkeit abhängig – also virtuell unendlich.

Eine reflexive Aufmerksamkeit des Betrachters/Benutzers wird daher Erfahrungszeiten stets antizipatorisch zusammenführen und sich auf das grundlegende Steuerungskonzept der Installation ausrichten. Die Komplexität der möglichen Betrachtungsvariationen – auch in ihrer Zeitlichkeit – wird so zu einem weiteren kunsthistorischen Kriterium.
SYSTEM – GRENZEN
Jede virtuelle Realität ermöglicht das Aufbrechen bisher gültiger dreidimensionaler Raumgrenzen. Sie kann zwar einerseits über Konstruktionslinien den zentralperspektivischen Eindruck von Dreidimensionalität optisch vermitteln, andererseits aber auch ein fließendes Raumkontinuum vorstellen, das keinesfalls an die Grenzen der Dreidimensionalität gebunden ist, da sich jede Raumeinheit an jeden Punkt des Raumes hinbewegen kann.

Der Künstler, der in diesem Raumkontinuum Formen gestaltet, gibt diesem Raumfluß Grenzen, definiert eigene neue Raumeinheiten, definiert Gegenstandsformen, die wiederum als separate Raumkörper wirksam werden [können]. Boten ältere virtuelle Systeme ein letztlich rigides System solcher Grenzsetzungen an, so sieht die aktuelle künstlerische Arbeit an diesem Problem vor allem die selbständige Erweiterung dieser Grenzen durch den Benutzer des Systems vor. Einerseits kann diese Erweiterung vom Betrachter gesteuert, andererseits durch selbständige Abläufe im System erfolgen.

In jedem Fall bestimmt sich der Erfahrungsraum allerdings als umfassendes inhaltliches Bezugssystem, mit dem der Gestalter bewußt umgehen muß, da kein Raumelement nicht vorkonzipiert sein kann: Der Kontext des Betrachter/Benutzers ist genau kalkuliert.

"Das große Glas" von Marcel Duchamp wurde erstmals 1926 ausgestellt. Ein Journalist beschrieb seinen Eindruck folgendermaßen: "... war ich fasziniert – nicht nur vom Werk selbst, sondern von den zahlreichen Umwandlungen, die sich an der Komposition je nach ihrem zufälligen Hintergrund vollzogen, durch die Betrachter, die durch das Museum gingen, hinter dem Glas, das ich ansah. Die Mariée mise a nue [Titel des "Großen Glases"] schien sie alle teilweise in ihre eigene Kosmogonie zu absorbieren, während sie ihnen zugleich unermüdlich etwas von ihrer eigenen Form verlieh." (4)
IMITATION
Auch interaktive Installationen entziehen sich nicht einer in der Kunstgeschichte altbekannten Mimesis-Diskussion, im Gegenteil: In den meisten bisherigen Konzeptionen wird mit der Gestaltung quasi-realer Elemente operiert, die eine sinnlich bekannte Bildrealität – erweitert um bestimmte Bewegungsaspekte – vorstellt. Spiegelwirkungen, etwa an der Wasseroberfläche, sind hier altbekannte Gestaltungselemente, die – wenn sie nicht entsprechend fundiert konzeptuell verankert sind – nur die technischen Möglichkeiten der Nachahmung zeigen, nicht mehr.

Indem interaktive Installationen allerdings vielfach die Möglichkeiten für den Betrachter/Benutzer geben, eigene Wirklichkeiten dem System zu addieren, stellen sie allerdings Wirklichkeit als offenes Feld der [künstlerischen] Möglichkeiten vor, die nicht nur im Kopf des Betrachters neu geformt bzw. kommentiert werden kann, sondern im Werk selbst, ohne dieses in seiner grundlegenden Konzeption in Frage zu stellen: strukturell vergleichbar mit Duchamps Schnurrbart auf einer Mona-Lisa-Reproduktion.
ERLEBNIS
Die "kunsthistorische" Betrachtung einer interaktiven Installation definiert sich aus der nachfolgenden Zusammenführung von Erlebnis sowie Reflexion des Gesamtkonzeptes der Kommunikationssteuerung: Diese Betrachtung muß allerdings immer die jeweilige Perspektive beinhalten. Interaktive Installationen, die – wie herausgestellt – in einer Art Raum/Zeit-Kontinuum agieren, lenken per se schon die Aufmerksamkeit des aufmerksamen Betrachters/ Benutzers auf seine Perspektive, auf die vorgestellte Kommunikationssituation, fordern also eine Klärung der eigenen Rezeptionsschritte ein, da diese Teil des Gesamtwerkes werden.

Stellten sich in der Vergangenheit Konzepte des Gesamtkunstwerkes oder ephemerer Kunstinszenierungen bei aller möglicher Beteiligung des einzelnen Betrachters stets als summarischer Wahrnehmungskomplex gegen die Entität des Betrachters, so wird dessen persönliches Erlebnis nun Teil des Werkes: Der Betrachter erhält somit im Hinblick auf seine reflexive Betrachtung die Funktion einer Schnittstelle, eines Interface.

Daher zum Abschluß wiederum ein Zitat von Marcel Duchamp, dessen künstlerische [Gedanken-]Arbeit hier als kunsthistorischer Bezugspunkt für die – hier zunächst nur fragmentarisch formulierten – kunsthistorischen Anmerkungen an den Begriff "Interaktivität" gesetzt wird.

"Und das bringt mich dazu zu sagen, daß ein Werk vollständig von denjenigen gemacht wird, die es betrachten oder es lesen ... ."

(1)
Hans Belting, Das Ende der Kunstgeschichte – eine Revision nach 10 Jahren, München 1995zurück

(2)
Timothy Binkley, Paradoxien der Interaktion, in: Im Netz der Systeme, Kunstforum intern., Band 103, September/Oktober 1989, p. 220zurück

(3)
in: Daniels Dieter: Duchamp und die anderen, Köln 1992zurück

(4)
in: Daniels, p.98zurück