Strategien der Enttäuschung
'Paul Virilio
Paul Virilio
"Zur See hat der Krieg sehr rasch den Charakter eines totalen angenommen, denn wer zur See die Vorherrschaft erringt, ignoriert die Zufälligkeiten, die widrigen Umstände … unzerstörbare See, die keiner Wartung bedarf und der alle Räume natürlicherweise verbunden sind." (1) Hier wurde die Neue Welt "notgetauft", hier wurde sie ein weiteres Mal durch eine Mystik getauft, die sie von den Meereswellen und vom Strom der mechanischen Wellen hin zur Überflutung durch elektromagnetische Wellen getragen hat, welche sich – nunmehr von jeglichen Zwängen befreit – in der Leere ausbreiten. TOTALER KRIEG vom Sehschlitz des Marineflughafens aus, Wogen von Kampfbombern über Europa und Asien unterstützt von den Frequenzen des ersten Konflikts zwischen akustischen und radioelektrischen Wellen. TOTALER FRIEDE – nicht-deklarierter Kriegszustand der nuklearen Abschreckung – Atomarsenal des Gleichgewichts des Schreckens, der das Feld zunehmend dem der Information überläßt. Die binäre Abschreckung (Ost/West) weicht einer (globalen) multipolaren Bedrohung in der die Physik und selbst die Astrophysik bis zur Jahrhundertende durch die Informatik, die alleine zum letztgültigen Profil der Wirklichkeit werden soll, verdrängt werden.
Technische Läuterung der Welt, letzte Etappe des alten sektiererischen Puritanismus der Nachfahren der May Flower, die an der Ostküste landeten und sodann ihren Weg quer durch den Kontinent erzwangen bis zur großen kalifornischen Spalte, in der Gewißheit, daß man "den alten Menschen abstreifte" je weiter man sich vom alten ländlichen Europa entfernte und der zukünftigen Ewigkeit, in der der "neue Mensch" aus einer Verbindung von Körpern und Technologien geboren werden sollte näher kam, wenngleich es dafür wie in der Bibel zwar viele Berufene aber nur wenige Auserwählte gibt. (2)
"Are you a transhuman?" fragen die Propheten der Westküste, Hohepriester der Exozentration, Cyberpunk, paradoxe Prediger oder Schüler von Nietzsche oder Heidegger. "Too modern for words!" Die Erfolge der Ankündigung, die zugleich spezielle Erfolge im Dienste des Marketings weltweiter Anschlüsse sind, können nicht mehr lange darüber hinwegtäuschen – die Technokultur dieses surrealistischen Jahrhunderts tritt in ihre Endphase ein. (3)
"In unserer Zeit der Überinformation besteht der letzte Luxus in einem Sinn, in einem Kontext", liest man im Magazine WIRED. Ein Luxus, der in Zukunft außerhalb der Reichweite liegt und alle virtuellen Transplantationen, psychedelischen Substitute, New Age-Multimedias werden bald wie panische Spiele erscheinen, die letzten verwertbaren am Rande eines Cybers, der selbst keine andere Referenz hat als jenen Zustand der reinen Energie, der zweihundert Jahr zuvor im natürlichen Nihilismus der Meeresmilieus enthüllt wurde.
"Fleet in being" von Admiral Herbert, Strategie der Enttäuschung, die in der Zwangsausübung auf den Gegner den Übergang vom Sein zum Seienden markiert. Mit der Installierung einer heimlichen Flotte im Meer der virtuellen Präsenz, kann man – unter Preisgabe eines schlechten Prinzips, demzufolge man den Feind angreifen muß, sobald man ihn bemerkt – den Gegner permanent schlagen, gleichgültig wo und wann, und ihn perplex und besiegt zurücklassen. Von nun an könne man ein Leben lang Krieg führen ohne sich jemals einer Schlacht stellen zu müssen. Nach den fliegenden Holländern (6) des Admiral Herbert, sollte sich 1991, nach dem Ende der Ära der Abschreckung zeigen, wie der neue militärisch-informationelle Komplex mit seinem Cyberarsenal und seinen geheimen Flugzeugen den Konflikt am Golf, ohne selbst kämpfen zu müssen, gewinnt. (4)
"Wer alles weiß hat vor nichts Angst". Auf die verrückte Devise des Nazis Rosenberg folgt 1949 die Formel des Amerikaners Shannon: "Zum Informationssektor gehört alles was die Unsicherheit verringert."
Der deus ex machina entsteht – Welt der absoluten Zwangsläufigkeit, in der nichts mehr wörtlich Sinn hat, weder das Gute noch das Böse, weder die Zeit noch der Raum, in der das, was die Menschen noch Erfolg nennen, nicht als Kriterium dienen kann – auf einer Erde, die sich fröhlich der "Lust am Untergang" verschrieben hat: "Alle Zeichen des sozialen, politischen, zivilen Niedergangs müssen positiv interpretiert werden als Zeichen für das Kommen des Cybers (…) Es stimmt, wir laufen Gefahr, mit dem Eintreten in den Cyber einen Teil der Bevölkerung ihrem Schicksal überlassen, –jedoch ist die Technokultur unsere Bestimmung", schreibt Michael Heim. (5)
Gebieter eines Mannes ist, nach Epiktet, derjenige, der ihm das Objekt seiner Begierden oder seines Schreckens nach Belieben verschaffen oder entziehen kann. Wer einen Menschen beherrscht, mag also gelegentlich als dessen Diener erscheinen. Dieses besondere Machtverhältnis geht nun in die Technologien des Virtuellen ein und nicht nur in jene virtuelle Ökonomie, deren Schäden schon absehbar sind, in jenen Gesellschaften, die sich gänzlich der unbegreiflichen Meteorologie der Netze überlassen, den pfeilschnellen Schatten dieser planetaren Revolution, in der jeder zur potentiellen Zielscheibe einer unerhörten Menge von Informationen und Daten wird, die durch vielschichtige Erfassungsysteme bereitgestellt werden.
Muß man Gebiete, die experimentellen Angriffen durch Informatikwaffen ausgesetzt sind, abschirmen, so wie Saddam Hussein sich einst mit seinem veralteten Kommunikationsarsenal im Sand der irakischen Wüste verbarg?
Die Erde selbst entzieht sich. 1993 hat das Erdbeben in San Francisco eine Flucht nach Osten provoziert, man ließ alles zurück und zog von Bel Air und Malibu nach New York und Florida.
Der alte Mythos des Bunkers, der nach dem Gleichgewicht des Schreckens nie gänzlich aufgegeben worden war, wird unweit von Silicon Valley wiedergeboren. Bill Gates, einer der mutmaßlichen Beherrscher der Netze, errichtet soeben in der Nähe des Washingtonsees seinen Palast. Dieser besteht aus fünf unsichtbaren, unterirdisch miteinander verbundenen Bunkern, die bewohnbare Oberfläche wird viertausendfünfhundert Quadratmeter haben. Im Inneren gibt es drei Zimmer für etwaige Kinder, drei Küchen und drei Speisezimmer, zwei Lifte, einen Versammlungsraum für hundert Personen, ein Schwimmbecken mit zwanzig Metern Länge, eine Garage für achtundzwanzig Autos usw. … Vor allem aber einen Raum der virtuellen Empfindungen, eine Bibliothek mit zwanzigtausend Werken, Wände, die mit hochauflösenden Bildschirmen tapeziert sind, auf denen hunderttausende Werke, für die Gates die Rechte auf elektronische Reproduktion erworben hat, erscheinen können.
Die bewegten Bilder sind überall, summa summarum Lebende oder vielmehr Überlebende einer Welt ohne Materie in der sich nichts mehr erfindet, nichts mehr erschafft?
(1) Seemacht und Sicherheit, Vizeadmiral Friedrich Ruge zurück
(2) L’art du moteur – Kapitel 6: Du surhomme à l’homme surexcité, Edition Galilée, 1993, Paris und bei Hanser Verlag, München zurück
(3) Werbung in Form von Videos, Filmen, Musik, Spielen, ausgeklügelten Drogen, – Magazine wie "Monde 2000", "Research" oder "Wired", die ihre Cyberpunk-Autoren bei Ideenmangel zu allen kritischen Punkte des Planeten entsenden, damit sie an diesen Quellen regelmäßig neu auftanken. zurück
(4) Die Osmose der Informatik – stammt aus der während des zweiten Weltkriegs unternommenen kryptologischen Analyse und dem Krieg der Entschlüsselungsmaschinen ENIGMA und seinem britischen Gegenstück ULTRA . Die sowjetische "Maschine des Jüngsten Gerichts" aus dem Gleichgewicht des Schreckens, der amerikanische "Krieg der Sterne", seit 1969 aber auch die Entwicklung von INTERNET durch das Pentagon, eines globalen Systems zur Sicherung der Information in Fall einer großen nuklearen oder anderen Katastrophe … ehe es, eine bedeutsame Ausbreitung vom militärischen in den zivilen Bereich erfuhr, wie im November 1994, als es vor der CNN das Ergebnis der amerikanischen Wahlen lieferte. zurück
(5) Zitiert bei BILWET. Michael Heim, Schüler von Heidegger. Seiner Ansicht nach gibt es keine Biopolitik, weder Macht noch Komplott, ob nun von militärischer oder von industrieller Seite, keine Interessen, die hinter der Entwicklung der virtuellen Realität stünden. zurück
(6) A.d.Ü.: les vaisseaux-fantômes im frz. Original, le Vaisseau fantôme: Der fliegende Holländer zurück
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