Vernetzungskünst(l)e(r)
'Thomas Dreher
Thomas Dreher
Laszlo Moholy-Nagy informierte über Telefon 1922/23 einen Mitarbeiter einer Porzellanmanufaktur über die Formen und Farben einer Komposition mittels gerastertem Papier und Farbkarte. Präsentationen mit eingebranntem Emaille wurden in drei Größen realisiert. Das Resultat war trotz Verzicht auf individuelle Handschrift immer noch ein isoliertes Kunstobjekt.
Die Trennung von Konzept und Ausführung der Präsentation war die Voraussetzung für diese "Telefonbilder". Die Trennung von Konzept und Ausführung kontrastiert mit Vorstellungen des an handwerklichen Eigenheiten erkennbaren Individualstils und Ausdrucks in etablierten Kunstgattungen wie Malerei und Skulptur. Moholy-Nagy verlegt die Ebene, auf der ein Individualstil erkennbar wird, von handwerklichen Eigenheiten auf mitteilbare Form- und Farbrelationen. Die Integration neuer Medien in den Kunstkontext setzt die Trennung von Konzept (bzw. Planung) und Ausführung der Präsentation voraus: Vorgefertigte Elemente und Elementkombinationen werden zu Bestandteilen von Werken, zu künstlerischen Anordnungen von Funktionszusammenhängen.
Die Entwicklung der Unterhaltungs- und Informationsmedien Zeitung, Radio und Fernsehen wie die Entwicklung der Kommunikationsnetze Post und Telefon liefern Künstlern seit den sechziger Jahren zunehmend mehr Möglichkeiten für Vernetzungen von Input- mit Output-Systemen über längere Distanzen. Zwischen Eingabe- und Präsentationsorten liegen einer oder mehrere Informationswege bzw. 'Kanäle' und Kanalbesetzungen. Verschiedene Input- wie Output-Orte und verschiedene Eingabe- und Präsentationsmedien können kombiniert werden: Die Werke werden multimedial und multilokal. Die elektronischen Zwei-Weg-Verbindungen der Datennetze ermöglichen Interaktion über beliebige Distanzen. Zwei-Weg-Verbindungen erlauben Output-Beobachtern, in die Position des Input-Akteurs zu wechseln, und umgekehrt. Künstler können programmierte Kommunikationsrahmen für interaktive Environments liefern, zu denen Beobachter/Akteure mittels Datennetze von verschiedenen Rechnern aus Zugang erhalten. Künstlerische Arbeit verschiebt sich von handwerklichen Eigenheiten über mitteilbare Farbformkonzepte (Moholy-Nagy) zu Medienkombinationen und programmierbaren Kommunikationskonzepten.
KUNSTGESCHICHTE DER MEDIENVERNETZUNG Im folgenden werden drei künstlerische Strategien des Umgangs mit elektronischen und Print-Medien skizziert. Das 'Wie' der Medienintegration und das 'Was' der Medienform sind bei diesen Strategien aufeinander bezogen. Die Überschriften der drei folgenden Abschnitte 1.-3. sind deshalb im 'Wie'/'Was'-Schema geschrieben. Abschnitt 1. beschreibt die Integration von elektronischen Ein-Weg-Medien über Ready-Made-Verfahren in Kunstwerken, Abschnitt 2. stellt die Medienkombination als kunstkontextkritisches Verfahren der Konzeptuellen Kunst vor und Abschnitt 3. präsentiert Beispiele für die Selbsteinbettung von Netzkunstwerken (Netz-Werken) in den urbanen Kontext von Netzwerken. In den Abschnitten 1. bis 3. wird eine Entwicklung der Medien- und Kanalvernetzung von Ende der fünfziger bis in die achtziger Jahre skizziert, die von der Integration von Funkmedien in traditionelle Kunstgattungen/-medien wie Malerei, Skulptur und Objektkunst bis zur Einbettung von künstlerischen Netzwerken in urbane Netze reicht.
1. Ready-Made-Medium als Präsentationsform/TV: Seit Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre integrieren Wolf Vostell und Tom Wesselmann funktionstüchtige Fernseher in Bilder (Vostell, W. – "TV-dé-coll/age No.1", 1958; ders. – "Transmigracion", 1958; ders. – "Millionen-Kasten II/III", 1958/59; Wesselmann,T. – "Still Life No.28" und "31", 1963), Objektmontagen (Vostell, W. – "Deutscher Ausblick aus dem Zyklus schwarzes Zimmer", 1958/89) und Installationen (Vostell, W. – "EdHR", 1968; ders. – "Heuschrecken", 1969/70). César montiert 1962 einen Fernseher ohne Gehäuse auf eine Schrottskulptur und setzt beide in eine Plexiglasbox mit Löchern für Antenne, Lautsprecher, Bedienungsknöpfe und Lüftung ("Television", 1962). Die klassischen Vorgehensweisen der Translokation isolierter Objekte in Ausstellungsräume (Ready-Made) und ihre Montage werden durch die laufenden Fernseher von César, Vostell und Wesselmann erweitert: Sie sind an jedem Ort an ein Sendenetz anschließbar und verändern ihre Bildoberfläche in unvorhersehbarer Weise.
Wolf Vostell und Nam June Paik verlegen Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre bereits die Ebene des Einsatzes künstlerischer Strategien auf TV-Output-Manipulationen: Während Wolf Vostell (Projektskizze, 1958; "TV-dé-coll/age für Millionen", Fotos, 1959; "TV für Millionen", Fernsehgerät, 1959/67) noch die vorhandenen Schalter für Bildverfremdungen verwendet, stört Paik die elektromagnetischen Wellen in der Kathodenstrahlröhre mit den Magnetströmen eines Hufeisenmagneten ("Magnet-TV", 1963-65) und eines Degausser ("Participation TV", 1965) und verzerrt so das Monitorbild. Durch den 1970 von Shuya Abe und Paik entwickelten Videosynthesizer wird die Manipulation der elektromagnetischen Wellen in Fernseherröhren systematisch steuerbar. Der Videosynthesizer ist eine Vorform der computergestützten Transformation digitalisierter Bilder.
Richard Hamilton verwendet 1970 für seinen Siebdruck "Kent State" ein Standfoto von einem TV-Monitor als Motivvorlage. Das Standfoto entsteht während einer Sendung der BBC-News im Mai 1970. Es zeigt Dean Kahler, nachdem er bei Studentenunruhen auf dem Campus der Kent State University von Schüssen der "amateur [National] guardsmen" getroffen wurde. Hamilton beschreibt 1971 den Prozeß der Satellitenübermittlung des Ereignisses von seiner Aufnahme vor Ort bis zu seiner Projektion auf dem Bildschirm ohne Bezug zum Inhalt. Auf diesen Prozeß der Reproduktionsmedien- und Kanalvernetzung läßt Hamilton einen langwierigen fünfzehnfarbigen Siebdruckprozeß in einer Massenauflage von 5000 Exemplaren folgen: "Fifteen layers of pigment; a tragic chorus monotonously chanting an oft-repeated story. In one eye and out the other." (R. H. 1971)
Hamilton verschiebt den Moment des Einfrierens eines Übermittlungs- und Reproduktionsprozesses: Indem das Nachrichtenbild als Siebdruck reproduziert und verteilt wird, wird der Zirkulationsprozeß fortgesetzt. Kataloge und Kunstbücher, die Illustrationen von Hamiltons Siebdruck "Kent State" zeigen, ergänzen den Zirkulationsfluß um eine weitere Phase. Hamilton führt sich und uns die Diskrepanzen zwischen indifferenter Reproduktion und Ereignis in Kent/Ohio vor. Während Hamilton 1970 die Ein-Weg-Information überpointiert, indem er die indifferente Reproduktion des News-Networks mit hohem technischem Aufwand (15 Farben) in einem druckgraphischen Medium dupliziert, hat Paik mit "Participation TV" das Ein-Weg-TV bereits 1965 in ein reaktives Medium transformiert. Paik erweitert 1969/71 "Participation TV" zum Closed Circuit mit Video-Synthesizer und vier Monitoren ("Participation TV II"). Künstlerisches Modell der etablierten Medienpraxis (Hamilton) und Veränderung dieser Praxis durch Modifikationen der Medientechnologie (Paik) sind komplementäre Prozesse.
2. Medienkombination/Druck, Post, Telefon Douglas Hueblers Dokumentationssystem "Site Sculpture Project: 420 Parallel Piece" entsteht 1968: Auf einer Landkarte wird eine Linie entlang des 42. Längengrades gezogen. Karten werden ohne Straßenangaben an Handelskammern ("Chamber of Commerce") in Orten geschickt, die auf oder nahe der gezogenen Linie liegen. 11 Sendebestätigungen und 10 eingegangene Rücksendungen der Post werden gesammelt und zusammen mit der Karte und einem Text, der die Entstehung beschreibt, ausgestellt. Douglas Hueblers mehrteiliges Werk ist Dokument eines Prozesses. Die Differenz zwischen dem Postsystem, das die Dokumente hervorgebracht hat, und dem Dokumentationssystem als Kunstwerk ist so gering wie möglich gehalten: Das Dokumentationssystem schließt an das Postsystem an.
George Brecht verwendet das Postsystem bereits Anfang der sechziger Jahre, um seine "Event Cards" in einer am Kunstbetrieb vorbeiführenden Weise zu distribuieren: Auf Stichworte reduzierte Konzepte für Kurzereignisse ("idea happenings") werden verschickt und können vom Empfänger gelesen, in ihm frei gestellter Weise imaginiert und/oder ausgeführt werden.
Robert Barry überführt die Postdistribution 1969 in ein kunstimmanenentes System ("Closed Galleries"): Der Versand von Vernissagekarten wird zur Verteilung von Informationen über den Zeitraum genutzt, in dem die Galerie geschlossen sein wird. Mit der Information über die Dauer der Schließung der Galerie ersetzt Barry die Vernissage als sozialer Treffpunkt durch einen privaten Leseakt. Das Ausstellungsobjekt ist lediglich durch einen Verweis auf sein Nichtvorhandensein spezifiziert. Die Einladungskarten präsentiert Barry in Ausstellungen und Katalogen als Werke/Werkbelege für "Closed Galleries".
Barrys und Hueblers Strategien der Verwendung von kunstexternen 'Kanälen' und Medien zu kunstinternen Zwecken differenziert Joseph Kosuth 1968-71 in "The Second Investigation" aus: Aus der "Synopsis of Categories" am Anfang von Roget's Thesaurus wählt Kosuth für verschiedene Ausstellungsanlässe einzelne (mit römischen Ziffern bezeichnete) Unterabschnitte von "Klassen" und publiziert sie auf Handzettel, Plakatwänden und in Zeitungsinseraten. In den Ausstellungsräumen hängen Tafeln, die Informationen über alle bereits an verschiedenen Orten und in verschiedenen Medien publizierten Thesaurus-Subklassen liefern. Kosuth vernetzt das Medium Thesaurus mit verschiedenen Publikationsmedien. Er koppelt diese kunstexternen Medienverknüpfungen über ein Informationssystem an ein Medium des Kunstbetriebs, an die Präsentation in Ausstellungsräumen von Kunstmuseen und -galerien, zurück.
Orientiert sich Kosuth in "The Second Investigation" an einem Rücklauf aller kunstexternen Präsentationen Informationen in kunstinterne Informationssyteme und Präsentationsorte, so orientiert sich Daniel Buren entgegengesetzt: Im Katalog der an verschiedenen Orten in Amerika und Europa präsentierten, von Seth Siegelaub 1969 organisierten "Summer Show" informiert Buren über ein Inseratmuster, das er verwendet, um in "Les Lettres Francaises" die Pariser Präsentationsorte seiner zweifarbigen Streifeniterationen bekannt zu geben. Der Katalogleser erfährt über Burens Beitrag, in welchem kunstexternen Medium er Informationen über kunstexterne Präsentationsorte suchen kann. Der Empfänger erhält den Katalog der "Summer Show" über Distributionssysteme, die an die im Kunstbetrieb vernetzten Subsysteme anschließen (Adreßkartei des Galeristen Siegelaub, (Kunst-)Buchhandel). Während Kosuth in "The Second Investigation", von der er ein Foto einer Plakatwandpräsentation im "Summer Show"-Katalog präsentierte, die Rückkoppelung der kunstexternen Medienvernetzung an den Kunstbetrieb selbst durchführt, überläßt es Buren dem Beobachter, sich an den kunstinternen Ausgangspunkt des Informationswegs zu erinnern, der ihn von einem kunstintern distribuierten Verweis zu einer in einem kunstexternen Medium plazierten Information und von dort in den Pariser Stadtraum führte.
Walter de Maria läßt ein angeschlossenes Telefon 1968 in "Art by Telephone" (Museum of Contemporary Art, Chicago) und 1969 in "Wenn Attitüden Form werden" (Kunsthalle Bern) auf den Ausstellungsboden stellen und davor ein Schild mit der Aufschrift plazieren: "Wenn dieses Telephon klingelt, dann nehmen Sie den Hörer ab. Walter de Maria wird am Apparat sein und möchte zu Ihnen sprechen." De Maria kombiniert die Medien Telefon, Ausstellung und Schild. Das Telefon wird in einer bestimmten Weise als Informationsweg zwischen dem Künstler außerhalb und dem Kunstpublikum im Ausstellungskontext eingesetzt. De Maria bestimmt nicht, was gesprochen werden soll, sondern wie der kunstextern immer schon vorhandene 'Kanal' zu verwenden sei: Nur dem Künstler kommt die Rolle zu, anzurufen, doch kann er nicht bestimmen, ob abgehoben wird und wer abhebt. Wiederholt de Maria nicht die auch bei traditionellen Präsentationsmedien gegebene Kommunikationssituation, in der der Künstler 'sendet' und warten muß, ob das 'Signal' empfangen und erwartungsgemäß dechiffriert wird? In der Anfangssituation, wenn das Klingelzeichen im Museum zu hören ist, ja. Wenn ein Dialog zwischen Museumsbesucher und Künstler zustande kommt, dann wird aus der Ein-Weg-Kommunikation vom Künstler zum Publikum eine Zwei-Weg-Kommunikation.
3. Reaktive Medienkombination/Urbane Netze 1968 plant Ted Kraynik Bojen mit Stelen, an denen Lichter befestigt sind, im Bostoner Hafen zu installieren ("Synergic Light Buoys"). Die Lichter sollen auf die Menge der Telefongespräche, den Straßen- und Metro-Verkehr sowie auf Gas- und Elektrizitätsverbrauch reagieren. Toyo Ito realisiert in Yokohama eine Performance aus "Netzwerken" für "Samplers" ("Sammler"), "Performance Devices" ("Darstellungsmedien"), "Interface Devices" zur Interaktion zwischen Samplers sowie zwischen "Samplers" und "Performance Devices", Computerverbindungen von Hafennetzwerken mit anderen Netzwerken ("Computer Network") und "Key Stations" ("Kontrollstationen"). Netzwerke von Itos multimedialem und multilokalem interaktivem System schließen an vorhandene Netzwerke an. Samplers, Präsentationsmedien und Kontrollstationen der urbanen Netzwerke wie der Netzwerk-Performance sind an denselben urbanen Orten eingerichtet: In Yokohama kreuzt Ito die vorhandenen urbanen Netze mit neu installierter Technologie. Die Vernetzung wird zweifach kontexttransformierend: In den urbanen Real- und Datenraum interveniert das Netzknotenwerk von Ito und Itos Netzknotennetzwerk (Vernetzung der Knoten, an denen vorhandene und neu installierte Netzwerke miteinander kombiniert werden) beeinflußt Ereignisse im urbanen Real- und Datenraum.
TEXTPRODUKTION DURCH KOLLABORATION IM DATENNETZ Die Möglichkeiten des elektronischen Datenaustauschs regen Künstler in den achtziger Jahren an, Konzepte für kollektive Textproduktionen zu entwerfen und zu realisieren. Die technische Basis lieferte die 1980 unter der Leitung von Robert Adrian im I. P. Sharp Associates Network etablierte Mailbox ARTEX.
Für Roy Ascotts Projekt "La Plissure du Texte" arbeiten 1983 mehrere Autoren in verschiedenen Ländern an einer interaktiven "planetary fairytale". Das Publikum der Ausstellung "Elektra", die 1983 im Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris gezeigt wird, kann auf Projektoren, die mit den Terminals der Autoren verbunden sind, die Textentstehung verfolgen. Norman White thematisiert 1984-85 in "Hearsay" die Verwandlung eines Textes durch Mehrfachvermittlung: In 24 Stunden wird ein Gedicht von Robert Zeno von Künstlergruppe zu Künstlergruppe gesendet und jedes Mal in eine andere Sprache übersetzt. Das Endprodukt der Kette wird an den Ausgangspunkt in Toronto zurückgesendet. In "The Heart of the Machine" von Ian Ferrier und Fortner Andersen (von ACEN = Art Com Electronic Network, seit 1986 über WELL auf CompuServe und USENET zu empfangen) werden Autobiographien von Netzteilnehmern in die Fortsetzungen eines "experimentellen Romans" (Loeffler 1989) eingearbeitet: "The story is shaped by the identity of its readers." (Couey 1991) Die Netzteilnehmer können die Kapitel, zu deren Entstehung sie beigetragen haben, abrufen: Ein "continual work-in-progress" als "on-line-environment". Das Werk wird durch neue Informationen erweitert, nicht aber in seiner Organisation rückwirkend restrukturiert.
Die vorgestellten Werke beschränken sich darauf, einen Text kollektiv nach einem Plan aufeinander folgender Arbeitsprozesse zu erzeugen. Durch die "Konnektivität", die additive Verbindung alter mit neuen Teilen im Work in Progress, können bei Autoren und Lesern mentale Restrukturierungen der Einschätzung des schon vor längerem Gelesenen im Lichte des gerade Gelesenen (mit Folgen für das noch zu Schreibende) provoziert werden. Doch erscheint so die Relation zwischen Maschine und Mensch, zwischen digitaler Werkstruktur und Beobachter-Gedächtnis, nur als Differenz zwischen linearer Progression und rekursiver Transformation.
NETZ-WERKE IN UND MIT NETZWERKEN Künstler, die in den neunziger Jahren Netzwerke einbeziehen, arbeiten nicht im kunstgeschichtslosen Raum: Künstlerische Strategien mit Medienvernetzungen liegen vor (s.o., 1.-3.), die für Projekte in Datennetzen und Installationen mit elektronischen Netzwerken modifizierbar sind.
Medienkritische Ansätze, die zu einer kunst- und sozialkritischen Fortsetzung von 2. führen können, sind denkbar als Weiterentwicklungen der Ansätze, die der Einsatz der Mailboxen als freie Bürgernetze zum Beispiel von FoeBud (FoeBud = Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs) enthält. Die Künstlerin Rena Tangens stellt im Kunstkontext FoeBud vor, dessen ca. 20 Mitglieder Informationswege in Kriegszonen im ehemaligen Jugoslawien über neue Grenzen und gekappte Telefonverbindungen (zwischen Bosnien und Serbien) hinweg durch den Umweg über eine Bielefelder Mailbox (Bionic in Zerberus) herstellen. Die soziale kunstexterne Praxis, über die im Kunstbetrieb Informationen plaziert werden, setzt eine Praxis von Künstlern fort, die in den siebziger Jahren unter dem Stichwort "Art & Sociology" diskutiert wurden (Hervé Fischer und Fred Forest im Collectif d'art sociologique, John Latham in der Artist Placement Group (APG), Stephan Willats).
Installationen mit computergestützten Datenverarbeitungssystemen, die zugleich von Beobachtern gesteuerte Daten erhalten und über Datennetze mit installationsexternen Daten gefüttert werden, sind Weiterentwicklungen von 3. So verbindet die "Projektgruppe Netzstadt" (TH Darmstadt, Fachgruppe Stadt) 1994 zwei reaktive Installationen über ein Netzwerk miteinander. An zwei Orten können Beobachter über Bodensensoren die Bilder je einer Projektionswand steuern. Beobachteroperationen führen entweder zu einem "Fließgleichgewicht", wobei sich Sicht- und Sprechkontakt mit Beobachtern der anderen Installation ergibt, oder initiieren die Rechner, "je nach Höhe der Abweichung die Verfremdung und Anzahl der Bilder, die Geschwindigkeit der Bildwechsel und die akustischen Signale" zu steuern. Beobachter gelangen durch aufeinander abgestimmte Operationen zur Schnittstelle, über die visuelle und auditive Interaktion zwischen beiden Orten möglich wird. Nähe und Ferne zwischen beiden Installationsorten hängen für Beobachter nicht von der realen Distanz zwischen ihnen, sondern von wechselseitigen Beobachteroperationen ab: "Auch Stadt und Welt funktionieren nur störungsfrei, solange ein Fließgleichgewicht besteht." Die reaktive Interaktion setzt mit der Programmierung auf "Fließgleichgewicht" der Interaktion zwischen Beobachtern einen Kommunikationsrahmen. Die Datennetz-Verwendung von FoeBud und die doppelte reaktive Installation der "Projektgruppe Netzstadt" sind an sozialen Fragen orientierte Projekte, die an Medienexperimente im Kunstkontext anschließbar sind, nicht aber künstlerische und ästhetische Fragestellungen aufgreifen – im Unterschied zur Dezentrierung in der durch "globale Konnektivität" kollektiven und offenen, fortsetzbaren Textproduktion (Ascott, White, Ferrier/Andersen). 'Vernetzung' fördert eine grenzüberschreitende Offenheit des Kunstkontextes für Problemstellungen des Gebrauchs derselben Systeme bzw. Medien und Medienvernetzungen in kunstexternen Bereichen. FoeBud demonstriert eine Medienpraxis, die deterritorialisierende freie Bürgernetze als Modell eines auch in Kunstprojekten realisierbaren Datennetzgebrauchs vorführt. Die "Projektgruppe Netzstadt" liefert – wie kontextbezogene Konzeptkunst – ein Konzept bzw. ein Modell für die Praxis der Vernetzung urbaner Systeme. FoeBud ist ein Modell für eine Kunst als Praxis im Kontext, die "Projektgruppe Netzstadt" liefert analog zur künstlerischen Praxis Konzeptueller Kunst ein Kontextkonzept via Anschauungsmodell. Ob Modelle, die den Beobachter an der Schnittstelle zu einem elektronischen System situieren, nun von Künstlern oder von Experten aus anderen Bereichen – in der "Projektgruppe Netzstadt" von Stadtplanern – stammen, ist für ihren Charakter als Anschauungs- bzw. Kunstmodelle nicht entscheidend. FoeBud demonstriert eine paradigmatische Medienpraxis, und die "Projektgruppe Netzstadt" offeriert ein Medienmodell für eine paradigmatische Praxis. Die spätestens seit den siebziger Jahren bestehenden Alternative 'Kunst im Kontext' und 'kontextbezogene Kunst' kehrt in den neunziger Jahren in den Netz-Alternativen 'Kunstpraxis in Datennetzen' und 'Kunstinstallationen mit Datennetzen' wieder.
NETZ-WERKE IN „ELEKTRONISCHEN KUNSTGALERIEN" Das "Reiff II-Museum" ist ein Programm, in das Bilder auch von einem Computer im Infobus des Mehrwert e.V., einem Kunstverein in Aachen, eingelesen und über Internet abgerufen werden können. Nicht erst mit dem "Reiff II-Museum" wird die Organisation, mit der die Institution Kunst Werke der Öffentlichkeit präsentiert, vernetzt. Jan Hoet organisierte 1986 "Chambres d'Amis" vom Genter Museum van Hedendaagse Kunst aus: Der Besucher erhielt im Museum Eintrittskarte und Informationen über die Orte und Öffnungszeiten von Installationen in 51 Privatwohnungen. Das Museum vermietete Fahrräder und vermittelte Taxis. Hoet schloß, wie Kosuth in "The Second Investigation", kunstexterne Präsentationen an ein kunstinternes Informationssystem an. Das Museum dient nicht mehr nur als Präsentationsort, sondern auch als Informationszentrale für museumsexterne Kunstaktivitäten. In Siegelaubs "Summer Show" von 1969 jedoch gab es nur ein zentrales Medium, den über alle Ausstellungsorte (in verschiedenen Ländern in Amerika und Europa) informierenden Katalog, aber keine zentrale Institution. Im Falle des "Reiff II-Museum" ist das Computerprogramm zur Bildspeicherung das zentrale Medium, während die Anlaufstellen zur digitalen Bildeingabe im mobilen Infobus und die Informationsdistribution mittels Internet dezentralisiert sind. Die "elektronische Kunstgalerie" des Art Com Electronic Network dagegen ersetzt den Katalog der "Summer Show" und vermittelt über Datennetz elektronische Werke, die keines realen Präsentationsortes bedürfen (vgl. die "elektronische Galerie" des KUNSTLABORS in Wien). Die "elektronische Kunstgalerie" ist ein Kunstwerk, das Positionen für werkinterne Werke enthält.
Elektronisch vernetzte Kunstinstitutionen ermöglichen es, elektronisch gespeicherte Werke auch oder ausschließlich von privaten Terminals aus zugänglich zu machen. Der Kunstbeobachter kann von jedem Ort mit Datennetzzugang aus sich in Werke, die auf Präsentation und Distribution in "elektronischen Galerien" angewiesen sind, einschalten. Im 'Netzsystem Kunst' können auch Werke in Form von "elektronischen Galerien" als Galerien in der Galerie kursieren.
DAS KUNSTWERK ALS KOMMUNIKATIONSRAHMEN Werke für Datennetze können Kommunikationsrahmen offerieren. Der Kommunikationsrahmen sieht für Beobachteroperationen entweder nur Leerstellen für Kommentare vor oder auch Umstrukturierungen des Rahmens selbst. Der Leerstellen im System füllende Spieler/Beobachter bewegt sich innerhalb der Regeln eines vorgegebenen Kommunikationsrahmens. Der diese Spielregeln modifizierende Spieler wechselt die Position vom Spieler nach Regeln zum Spieler mit Regeln (Spielregelspieler). Der programmierende Künstler kann eine möglichst leicht anwendbare Sprache zur Modifikation der Spielregeln des Kommunikationsrahmens anbieten, um möglichst vielen Teilnehmern den 'Aufstieg' vom Spieler zum Spielregelspieler zu ermöglichen. Der programmierende Künstler wird zum Programmierer von Programmiermöglichkeiten, zum Programmierprogrammierer.
Bei Umstrukturierungen ist die Relation offen-geschlossen des Kommunikationsrahmens entscheidend: Gewinnt er Offenheit nur mangels Geschlossenheit oder durch eine Geschlossenheit, die mittels interner Ausdifferenzierung der Umweltsensibilität erzielt wurde? Unter "Umwelt" sind hier Züge von Spielern bzw. Beobachteroperationen zu verstehen und unter "Umweltsensibilität" die Möglichkeiten eines Kommunikationsrahmens, auf Spielzüge zu reagieren. Für Netz-Werke mit modifizierbarem Kommunikationsrahmen ist entscheidend, ob Beobachtereingriffe dessen Umweltsensibilität inklusive der Fähigkeit, auf nachfolgende Beobachteroperationen/Spielzüge zu reagieren, steigern oder senken. Ein Künstler kann seinen Kommunikationsrahmen diesem Interaktionstest aussetzen oder mit Blockaden gegen Komplexitätsverlust bzw. -entropie arbeiten.
KÜNSTLERISCHE KOMMUNIKATIONSRAHMEN IM ‚NETZSYSTEM KUNST’ Eine kontextuelle Analyse kann Möglichkeiten untersuchen, Grenzen zwischen elektronisch vernetzten Kunstinstitutionen und elektronischen Netz-Werken zu ziehen oder zu unterlaufen. Die Netz-Werke können diese Untersuchung selbst enthalten, indem sie ihr eigenes Konzept und seine Relation zum vorgegebenen Kontext, zum 'Netzsystem Kunst', explizieren: Konzeptualisierung durch Investigation der (Grenzen der) Möglichkeiten zur Selbsteinbettung in vorgefertigte (und änderbare?) elektronische Kontexte. Diese Konzeptualisierung von Datennetzkommunikation kann Spielräume für Beobachteroperationen enthalten oder selbst modifizierbar sein. Der Beobachter kann die Rolle vom Spieler im Rahmen gesetzter Spielregeln zum Spieler mit Regeln des Kommunikationsrahmens, den das Werk setzt, wechseln. Eine systeminterne Kommunikation über den Rollenwechsel bedarf eines übergeordneten System-/Informationsrahmens. Dieser Metakommunikationsrahmen kann die Konzeptualisierung der Möglichkeiten des werkinternen Rollenswitches vom Spieler zum Spielregelspieler auf Spiel- und Programmiermöglichkeiten in und an dem 'Netzsystem Kunst' übertragen. Das etablierte 'Netzsystem Kunst' liefert Spielregeln, aus denen der Metakommunikationsrahmen des Netz-Werks einen Teil selektiert und ihn entweder affirmativ als Metarahmen des Werks übernimmt oder sich kritisch bis negativ zu ihm verhält. Der Metarahmen kann zwei Schichten enthalten: eine Schicht für die Reflexion der Relationen zwischen Spielzügen und modifizierbaren Spielregeln von werkinternen Werk(-Spiel)en und eine Schicht für die Reflexion der Relation des Kommunikationsrahmens Werk zum 'Netzsystem Kunst'. Diese beiden Schichten bzw. Metarahmen für Werke im Werk und für den Kontext können sich wiederum aufteilen in eine Modifikationen des Rahmens offerierende und eine rahmeninterne Schicht (mit Möglichkeiten des Durchgriffs auf darunterliegende Schichten). Der Metarahmen teilt sich also zwei Mal zweifach: in eine werk- und eine kontextbezogene Schicht, und jede dieser Schichten in eine Präsentation bzw. Reflexion der werkinternen Regelsysteme und eine Regelmodifikationen offerierende Schicht. Der zweifach zweigeteilte Metarahmen wiederum bedarf eines weiteren Rahmens der Reflexion der Schichtengliederung, also eines Metametarahmens. Soll dieser für Modifikationen offen sein, muß auch dieser Metametarahmen in eine interne Schicht der Darstellung und Reflexion der Schichtengliederung und eine externe, Variationen der Schichtengliederung offerierende Schicht gegliedert werden.
Bei Werken, deren einziger Inhalt die Problematisierung des Kommunikationsrahmens Kunst mit seinen Spielregeln und ihre Modifikation im 'Netzsystem Kunst' ist, entfallen die Schichten mit werkinternen Spielregeln und Spielregelmodifikationen. Wenn ein Künstler jedoch als Werk eine alternative "elektronische Kunstgalerie" mit Zugängen zu elektronischen Werken konzipiert und werkinterne Werke wie Galerie für Modifikationen öffnet, dann ergeben sich bei hinreichender Ausdifferenzierung die erwähnten acht Werkschichten (Diagramm 1). Diese Werkschichten verteilen sich auf vier Kommunikationsrahmen, davon drei Rahmen mit je einer Schicht für Modifikationen: Spielregeln der werkinternen Werke (ohne Modifikationsschicht), Reflexion und Modifikation der Spielregeln der werkinternen Werke, Reflexion der Spielregeln des Kontextes und Modifikation der Kontextreflexion, Reflexion und Modifikation der Metaregeln (Schichtengliederung) der Relationierung von Werk und Kontext. Modifikationen unterer Schichten können zur Abkoppelung von höheren Schichten oder zur Rekursion in die höchste Modifikationsschicht, die eine De- & Rekonstruktion der vorliegenden Schichtengliederung ermöglicht, führen.
Die Schichtengliederung einer von Künstlern für ein etabliertes 'Netzsystem Kunst' geschaffenen "elektronischen Galerie" entspricht in ihren Problemstellungen künstlerischen Installationen mit Kunstwerken in Kunstausstellungen und Museen, wie sie von Michael Asher, Marcel Broodthaers, Daniel Buren, Ed Kienholz, Joseph Kosuth, Gerhard Merz oder Daniel Spoerri in den siebziger und achtziger Jahren geschaffen wurden. Allerdings fehlen die Schichten für die Modifikationen.
’NETZSYSTEM KUNST’ ALS „PERMANENTE KONFERENZ" Das im oder an Stelle einer Kunstinstitution installierte Netzsystem kann Positionen zwischen Kritikern, Künstlern und anderen Netzwerkbeobachtern enthalten, die sich mit dem Werkbegriff und der Definition des Status von Kunst auseinandersetzen. Solche Dialogpositionen im 'Netzsystem Kunst' dienen der Kommunikation über das künstlerische Netz-Werk. Das elektronische Netz-Werk wiederum kann die Dialogpositionen seines elektronischen Kontextes problematisieren. Die Trennung Kunstwerk und Institution Kunst gerät an einen (für den etablierten Kunstkontext mit strikter hierarchischer Trennung zwischen Werk und Vermittlung) kritischen Punkt, wenn das Netz-Werk aus einem Vorschlag zur De- & Rekonstruktion der Funktion des Netzsystems der 'Institution Kunst' besteht, der künstlerische Vorschlag in diesem 'Netzsystem Kunst' zirkuliert, die vorgeschlagene Rekonstruktion von Netzwerkbeobachtern praktiziert und als neue Spielregel im Kunstkontext akzeptiert wird: Das Netz-Werk wandelt sich vom künstlerischen Beitrag zur Komponente des 'Netzsystems Kunst'. Joseph Beuys' Vorschlag des Museums als Ort der "permanenten Konferenz" (den er auch in musealen Kontexten praktizierte) wäre multilokal über die Dialogpositionen eines 'Netzsystems Kunst' realisierbar. Die Dialogpositionen lassen sich durch eine permanente Kritik des Kommunikationsrahmens Kunst 'besetzen' und verändern. Die alternative Praxis der 'freien Bürgernetze' läßt sich so auf den Kunstbetrieb übertragen. Vorbilder dieser kritischen Dialogkunst liefern Joseph Beuys' Informationsbüro der "Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung" 1972 auf der documenta 5 in Kassel und die Podiumsdiskussionen, die Mitglieder der Künstlergruppe Art & Language 1975 in australischen Museen (National Gallery of Victoria, Melbourne, Art Gallery of South Australia, Adelaide) organisierten. Von dem Art & Language-Mitglied Terry Smith wurde in diesen Podiumsdiskussionen die internationale Dominanz amerikanischer Kunst und des amerikanischen Kunsthandels im australischen Kontext problematisiert. An diese Formen der seit Ende der sechziger Jahre sich zur kunstinternen Institutionenkritik wandelnden Anti-Kunst (von der Anti-Kunst zur Kunst-über-den-Kunstbetrieb) können in Datennetzen operierende kontextkritische Netz-Werke anschließen und sie ausdifferenzieren.
NETZ-WERKE Seit den Pionierleistungen der Objektkunst und den ersten Happenings werden durch neue Präsentationsformen etablierte Kunstdefinitionen umgestoßen oder Kunstdefinitionen werden zur Ausgrenzung von neuen Präsentationsformen aus der Institution Kunst eingesetzt. Die Vernetzungen von Medien und Kanälen provozieren zu Modifikationen von Kunstdefinitionen nicht mehr durch einen Medienbruch (durch den Wechsel der Präsentationsformen), sondern durch die Medien- und Kanalkombination. Nicht genuin künstlerische, aber teilweise bereits künstlerisch vorbelastete Technologien werden in Konzepte integriert, die Interaktivität, Kollaboration, Dis- und Relozierung, Mehrweltsimulationen bzw. Programmwechsel im Programm und Transformationen vorsehen. Dabei müssen weder "Intermedia" (Higgins 1966) noch Gesamtkunstwerke, weder Zwischenformen noch neue Ganzheiten entstehen, sondern durch Interaktion mit Beobachtern und Umwelt transformierbare und sich transformierende, differenzierbare und sich ausdifferenzierende Strukturen können entwickelt werden. Mit diesen Fähigkeiten nähern sich die Werke den Prozessen an, die institutionelle Rahmenbedingungen konstituieren und verändern: Die Beziehungen zwischen institutionellen Rahmenbedingungen der Kunst und von Kunstwerken offerierten Kommunikationsrahmen, zwischen 'Netzsystem Kunst' und Netz-Werken, sind als Relationen zwischen unterschiedlich transparenten Schichten darstellbar: Was aus der Sicht der einen Schicht fehlt, wird im Durchgriff auf die andere Schicht erkennbar. Jeder dieser beiden Schichten Netz-Werk und 'Netzsystem Kunst' kann wiederum mehrschichtig untergliedert sein und in diesen Unterschichten Relationen zwischen Werk und Kontext ausdifferenzieren. Mehrschichtige Netz-Werke komplizieren die Relation zum 'Netzsystem Kunst' in einer Weise, die den Fall wahrscheinlich macht, daß ein Netz-Werk dem 'Netzsystem Kunst' schon eine Modifikation seines (Meta-)Metarahmens geliefert hat, bevor das 'Netzsystem Kunst' in seinem alten Zustand darauf zu reagieren fähig war.
|