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'Pierre Lévy
Pierre Lévy
DIE VIRTUALISIERUNG DES KÖRPERS HEUTE Die Virtualisierung von Körpern, Information, Kommunikation, Wissen, Wirtschaft und Gesellschaft, die wir heute erleben, ist ein neuer Schritt in der ständigen Entwicklung des Menschen.
Einige dieser aktuellen Entwicklungen würde ich gerne näher betrachten. Wenn wir uns die Virtualisierung von Körpern genau ansehen, werden wir eindeutig feststellen, daß diese Virtualisierung kein Verschwinden oder eine Entmaterialisierung bedeutet. Es sei daran erinnert, daß Virtualisierung eine Verlagerung der Identität von singulären Lösungen und Aktivitäten hin zu allgemeineren Problemen, Funktionen und Zielsetzungen darstellt. In diesem Fall trennt die Virtualisierung ein Organ oder eine spezifische Körperfunktion von ihrer Aufgabe oder Wirkung und bettet sie in eine allgemeine Funktion ein. Eine isolierte Funktion kann in der Folge hunderte verschiedene Aktualisierungen erfahren und eine Verbindung mit den Aktualisierungen anderer Funktionen eingehen. Der Körper tritt somit aus dem Körper heraus, die Geschwindigkeit von Abläufen verändert/erhöht sich, das Innere wird nach außen gekehrt, das Äußere nach innen und es findet eine Multiplikation statt. Dieser Vorgang ist aber keineswegs eine Entkörperlichung, sondern eine komplexe Wiederverkörperung, eine Heterogenese des Körpers.
Sehen wir uns die Wirkungsweise einiger Funktionen an. Die Funktion der Wahrnehmung zum Beispiel ist ein Hereinholen der Welt. Telefon, Fernsehen und Fernsteuerungssysteme virtualisieren die Sinne. Telekommunikationssysteme organisieren die Anbindung an virtualisierte Organe. Fernsehzuschauer sind Teil eines gemeinsamen großen Auges. Dank Fotos, Kameras und Wiedergabegeräten kann man die Eindrücke anderer zu einem anderen Zeitpunkt an einem anderen Ort nachempfinden. Die sogenannte Virtuelle Realität erlaubt dies darüber hinaus mit einer dynamischen Integrierung verschiedener Wahrnehmungsvorgänge.
Die umgekehrte Funktion ist ein Hinaustreten in die Welt, eine Handlungs- und Bildprojektion. Eine Handlungsprojektion steht natürlich in engem Zusammenhang mit Maschinen, Sendenetzen und Waffen. In diesem Falle können viele Menschen an einem einzigen großen virtuellen und entterritorialisierten Krieg teilhaben. Was wir als Telepräsenz bezeichnen, steht im allgemeinen in Zusammenhang mit der Projektion eines körperlichen Abbilds, doch reicht sie in Wirklichkeit darüber hinaus. Das Telefon stellt bereits ein Instrument der Telepräsenz dar. Es übermittelt kein Abbild oder eine Darstellung der Stimmen, sondern die Stimmen selbst. Systeme virtueller Realität vermitteln auch mehr als bloße Bilder, weil die Klone, sichtbaren Subjekte oder virtuellen Akteure andere virtuelle Akteure oder sichtbare Subjekte beeinflussen können.
Was macht den Körper sichtbar? Seine Oberfläche: das Haar, die Haut, das Leuchten der Augen. Medizinische Aufnahmen machen das Innere des Körpers sichtbar, ohne die Haut zu ritzen. Röntgenstrahlen, Scanner, Nukleardiagnostik usw, virtualisieren die Oberflächen des Körpers. Jedes neue System der Visualisierung bedeutet die Schaffung einer zusätzlichen Haut, eines neuen sichtbaren Körpers, und aus jeder virtuellen Haut läßt sich ein digitales 3D-Modell des Körpers erstellen und in der Folge ein plastisches Modell. Im virtuellen Bereich sind die Zerlegung und Neuformung des Körpers losgelöst von Schmerzen und Tod. Tatsächlich spielen all diese virtuellen Häute und Körper in der medizinischen Diagnostik und in der Chirurgie eine wesentliche Rolle.
Was Sprache, Technik und Verträge betrifft, ermöglicht die Virtualisierung des Körpers Loslösung, Reisen und Tausch. Transplantate besorgen den Organaustausch in menschlichen Körpern, zwischen Lebenden und Toten und zwischen den Arten. Der Trennstrich zwischen organisch und anorganisch wird durch Implantate und Prothesen durchbrochen (Brillen, falsche Zähne, Silikon, Schrittmacher, Gehörimplantate, Dialysefilter bei Nierenversagen …). Augen, Sperma, Eizellen, Embryos und natürlich Blut sind heute Allgemeingut und werden in eigenen Banken aufbewahrt. Blut ist eine entterritorialisierte Flüssigkeit, die mittels eines ausgedehnten internationalen wirtschaftlichen, technischen und medizinischen Netzwerks von Körper zu Körper wandert. Fleisch und Blut werden nach außen verlagert und allgemein verfügbar. Wenn wir diese Güter benötigen und sie bezahlen können, können wir darauf zurückgreifen. Es zeichnet sich ein virtueller, gemeinsamer Körper ab, analog zu den Sprachen, die schon lange Allgemeingut sind. Jeder einzelne Körper ist Bestandteil eines Hyperkörpers. Der einzelne Körper ist ständigen Einflüssen durch Medikamente und Arzneien ausgesetzt, und die Pharmaindustrie entdeckt tägliche neue Anwendungsmöglichkeiten. Schlußendlich verdanken wir der Biotechnik die Vorstellung neuer Dimensionen in einem viel weiter gefaßten und noch unbekannten virtuellen biologischen Kontinuum, das die bekannten Arten und selbst den Homo sapiens umfaßt.
So ausgesprochen private Angelegenheiten wie Fortpflanzung, Immunität gegen Krankheiten oder Steuerung der Gefühle werden öffentlich, austauschbar und externalisiert. Diese Funktionen spielen sich zunehmend in einem externen, komplizierten wirtschaftlichen und technischen Kontext ab.
Diese Virtualisierung ist aber keine Entkörperlichung oder Entfleischlichung, sondern im Gegenteil eine Wiederverkörperung oder Reinkarnation, eine Neuerfindung des Körpers. Mein eigener Körper hier und jetzt ist eine vorübergehende Aktualisierung eines riesigen, allgemeinen, hybriden Hyperkörpers. Der heutige Körper ist wie eine Flamme. Manchmal isoliert, klein und fast unbeweglich, lodert sie manchmal auf und züngelt virtuell himmelwärts, in medizinische oder Kommunikationsnetzwerke, wird öffentlich, teilt das Blasen des Windes und das brennende Holz mit anderen Flammen, vermischt ihren Schein und ihre Wärme mit dem Schein und der Wärme der anderen und kehrt dann rasch in ihre quasi private Sphäre zurück, um letztendlich zu verlöschen.
DIE VIRTUALISIERUNG VON INFORMATION UND KOMMUNIKATION Die Bezeichnung "virtuelle Realität" klingt wie ein Oxymoron und ruft deshalb allgemein Faszination hervor. Aber wir wissen jetzt, daß Virtualität keineswegs imaginär ist. Genaugenommen ist das Virtuelle nicht das Gegenteil des Realen, sondern des Aktuellen. Doch in der technischen Fachsprache bezieht sich Virtualität im allgemeinen auf den Bereich der Software und des Digitalen. Zum Beispiel wird ein Bild dann als virtuell bezeichnet, wenn es auf einer digitalen Beschreibung im Speicher eines Computers beruht. Man beachte, daß zur Wahrnehmung des Bildes dieses auf einem Bildschirm gezeigt, auf Papier gedruckt oder auf Film gebannt werden und daß zu diesem Zweck der Binärcode übersetzt werden muß. Wollten wir weiter die Parallele zur philosophischen Bedeutung ziehen, müßten wir sagen, daß das Bild auf der Festplatte virtuell und auf dem Bildschirm aktuell ist. Virtualisierung ist Digitalisierung und Aktualisierung ist Anzeige. Das Bild ist noch virtueller, wenn seine digitale Beschreibung nicht fix im Computer gespeichert ist, sondern wenn es ausgehend von einem Modell und durch Dateneingaben von einem Programm in Echtzeit erstellt wird.
Videospiele, Hyperdokumente, Simulationen und Computerprogramme allgemein sind virtuelle Botschaften. Die Resultate, Texte, hörbare, fühlbare oder sichtbare Bilder können ausgehend von einer Grundmatrix (Programm, Modell) und einer laufenden Interaktion am Computer bearbeitet werden. Ein turbulenter Trickfilm auf der Kinoleinwand oder im Fernsehschirm ist für den Betrachter die gleiche aktuelle Abfolge von Bildern, die entweder vom Computer berechnet oder von Hand gezeichnet wurden. Vielleicht deuten einige Spezialeffekte auf den digitalen Ursprung des Computer-Trickfilms hin, aber sie verändern die Beziehung zum Bild nicht. Nur die Filmmannschaft hatte eine Interaktion mit der Virtualität. Bei einem Videospiel hingegen ist der Spieler direkt mit der Virtualität der Botschaft konfrontiert. Eine einzige Kassette enthält (virtuell!) unendlich viele Spiele, unendlich viele Bildabfolgen. Der Spieler wird aber nur einige wenige abrufen (oder aktualisieren). Interaktivität ist Aktualisierung.
Eine virtuelle Welt entsteht aus der Verbindung eines lebenden Benutzers in einer dynamischen Situation und eines digitalen Modells, das eine Vielzahl unterschiedlicher Botschaften erstellen kann. In der Interaktion mit dem digitalen Modell entdecken und aktualisieren die Benutzer eine virtuelle Welt. Wenn Interaktionen das Modell bereichern oder verändern können, wird die virtuelle Welt zu einem Vektor kollektiver Intelligenz und Kreativität.
Computernetzwerke sind die neue Infrastruktur des jungen Universums der virtuellen Information. Diese Netzwerke werden umfangreicher und leistungsfähiger und verfügen über steigende Übertragungs- und Speicherkapazitäten, was wahrscheinlich zu einer Vielfalt und Vielzahl von digitalen virtuellen Welten führt.
Bei der Virtualisierung von Information und Kommunikation durch digitale Netzwerke beobachten wir selbstverständlich die gleichen Veränderungen wie zuvor schon in anderen Bereichen. Die auffälligste Veränderung ist wohl die Entterritorialisierung, weil im Cyberspace jede Information im Netz einem virtuell nahe ist und bei der Auswahl und beim Durchblättern aktuell greifbar wird, auch wenn sie sich in Wirklichkeit (im physischen Raum) auf einem anderen Kontinent befindet. Dieser augenscheinliche Abschied vom klassischen geographischen Raum wird noch durch die Entterritorialisierung der Botschaften selbst beschleunigt/unterstrichen. Sie sind keine durch Besitz und Grenzen festgelegte Territorien mehr, sondern sammeln sich mittels Hyperverbindungen, Sampling und der Plastizität der digitalen Information zu einem dynamischen öffentlichen und globalen Fluß, der sich in ständiger Bewegung befindet. Hyperverbindungen zwischen Dokumenten stellen die Dinge komplett auf den Kopf. Eine der wesentlichsten Folgen der Virtualisierung von Botschaften ist, daß jeder Akt des Lesens zu einem potentiellen Akt des Schreibens wurde. Dies erfolgt bei weitem effektiver als bei der Anwendung von normalen Interpretationsmustern auf statische Systeme. Wenn wir Hypertext als einen Raum für mögliche Leseabenteuer definieren, erscheint ein Text als spezifische Aktualisierung von Hypertext. Der Benutzer ist am Prozeß des Schreibens oder zumindest des Redigierens beteiligt, weil er durch das Lesen die endgültige Gliederung festlegt (die "dispositio" der antiken Rhetorik). Der Benutzer kann in viel engerem Sinne zum Autor werden als durch die bloße Auswahl jener Textteile, die er liest, denn er kann neue Verbindungen herstellen. Einige Systeme können sogar die Lesespur aufzeichnen und die Verbindungen gemäß dem von der Benutzergemeinschaft eingeschlagenen Weg ausbauen oder reduzieren. Leser können letztlich nicht nur Verbindungen, sondern auch Knoten (Texte, Bilder) modifizieren. Hyperdokumente miteinander verknüpfen und so in die Neustrukturierung des digitalen Informationsflusses eingreifen.
Kollektive Intelligenz beruht – wie erwähnt – ebenso wie Sprache, Technologie und soziale Einrichtungen fundamental auf der Kultur. Die Digitalisierung und Virtualisierung der Information führt aber eine neue Ebene in der Ausbildung kollektiver Intelligenz ein. Wir können jetzt in Echtzeit nicht nur statische Verzeichnisse abrufen, sondern sich ständig verändernde dynamische Daten. Wir können Simulationen teilen, handeln und kollektiv bearbeiten, die externalisierte und austauschbare dynamische mentale Modelle darstellen. Expertensysteme ermöglichen einen leichten und schnellen Zugriff und die Verteilung empirischen Wissens. Wir können auf computergestützte gemeinschaftliche Arbeitsabläufe oder computergestützte Netzwerke gemeinschaftlichen Lernens zurückgreifen. Wir können die Aktivitäten und Zuständigkeiten tausender Menschen ohne Zentrale oder die Notwendigkeit eines vorherigen detaillierten Plans koordinieren. Wir können durch Interaktivität verteilt kommunizieren, statt der frontalen Einwegkommunikation in den traditionellen Massenmedien oder der Eins-zu-eins-Kommunikation traditioneller Netzwerke wie Post und Telefon. Parallel mit dem zunehmend verteilten Hyperkörper steht die Menschheit vor einer raschen Entwicklung und Ausbreitung eines globalen Hyperkortex.
Diese neuen Formen kollektiver Intelligenz können wohl äußerst nutzbringend in den Bereichen Erziehung, Kunst, Planung und Politik eingesetzt werden, doch gibt es keine Erfolgsgarantie. Jede hierarchische und statische Institution ist in Gefahr und wird wahrscheinlich Widerstand leisten. Die neuen Instrumente können aber auch zu einer Machtkonzentration in den Händen einzelner, von Organisationen oder Staaten führen.
WIRTSCHAFT Das gegenwärtige Wirtschaftssystem ist von Entterritorialisierung und Virtualisierung gekennzeichnet. Der größte Wirtschaftszweig der Welt ist der Tourismus: Geschäftsreisen, Urlaubsreisen, Kongresse, Restaurants. Hotels. Noch nie haben die Menschen soviel ausgegeben, um weit weg von zu Hause zu essen, zu nächtigen oder zu leben. Rechnet man zum Tourismus noch die Herstellung von Transportmitteln (Automobile, Lkw, Züge, U-Bahnen, Schiffe, Flugzeuge, etc.) und Treibstoffen hinzu, kommt man wahrscheinlich auf mehr als die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung. Elektronische und digitale Kommunikation sind kein Ersatz für physische Fortbewegung. Im Gegenteil sind sowohl Kommunikation wie auch Transport Bestandteile des nämlichen Prozesses der Virtualisierung. Außer Telekommunikation und Transport muß man aber auch Datenverarbeitung, Medien, Bildung, Weiterbildung und viele andere Zweige des expandierenden virtuellen Wirtschaftssektors berücksichtigen.
Tourismus, Transport, Kommunikation, Ausbildung und Finanzwesen sind Wirtschaftssektoren, in welchen die Virtualisierung besonders deutlich wird. Aber alle Wirtschaftssektoren sind heute in Kernbereichen von den besonderen Wirtschaftsgütern Information und Wissen abhängig. Diese neuen wichtigen Ressourcen unterliegen zwei Gesetzen, die klassischen Begriffen und Grundgedanken der Wirtschaft zuwiderlaufen. Sie werden bei Gebrauch nicht abgenutzt und gehen bei der Weitergabe nicht verloren, während man bekanntermaßen mit der Weitergabe eines Sackes Weizen, eines Autos oder der Leistung einer Arbeitsstunde etwas verliert. Beim Mahlen des Weizens, der Inbetriebnahme des Autos und der Inanspruchnahme von Arbeitszeit wird ein unumkehrbarer Prozeß in Gang gesetzt: Abnutzung, Kosten, Umwandlung, Verbrauch.
Die Theorie und Praxis der Wirtschaft basieren hauptsächlich auf dem Postulat von der Knappheit der Güter. Die Knappheit selbst basiert auf dem destruktiven Charakter des Verbrauchs und dem Wesen von Weitergabe und Erwerb, die einander ausschließen. Information und Wissen beruhen nicht auf diesen Grundsätzen und sind daher eine mögliche Quelle einer anderen Art des Wohlstands. Es zeichnet sich eine Wirtschaft des Überflusses ab, deren Theorie und Praxis vollkommen anders sind als die der herkömmlichen Wirtschaft. Tatsächlich leben wir bereits in diesem System, benützen aber immer noch die unzulänglichen Instrumente einer auf Knappheit ausgerichteten Wirtschaft.
EREIGNISSE UND INFORMATION: DAS MÖBIUSSCHE BAND Ein Ereignis ist eine Aktualisierung. Dagegen sind die Erstellung und Verbreitung von Nachrichten darüber eine Virtualisierung dieses Ereignisses. Die Nachricht ist mit all jenen Eigenschaften ausgestattet, die wir bis jetzt der Virtualisierung zugeschrieben haben: Loslösung von einem bestimmten Zeitpunkt und Ort. Öffentlichkeit und Heterogenese, Nachrichten, die das Ereignis virtualisieren, sind gleichzeitig auch seine Verlängerung. Durch ihre Rolle in seinem Verlauf und Determinationsprozeß werden sie ein Teil von ihm. Wahlergebnisse können zum Beispiel durch die Wirkung der Medien die Finanzmärkte in einem anderen Land beeinflussen und hier und da weitere politische oder militärische Ereignisse auslösen. Durch die Information über das Ereignis (durch seine Virtualisierung) aktualisiert sich das Ereignis weiter zu anderen bestimmten Zeitpunkten an anderen bestimmten Orten. Diese Aktualisierung erfolgt oft als Erstellung von Nachrichten und Information, also als Mikrovirtualisierung. Hier treffen wir wieder das gängige Motiv des Möbiusschen Bandes: die Nachricht über das Ereignis ist gleichzeit eine Sequenz im Ereignis. Die Karte (die Nachricht) ist Teil des Landes (das Ereignis), und das Territorium entsteht oft aus einer Hinzufügung, einer dynamischen Artikulierung, einem wachsenden System von Karten. Anders ausgedrückt stehen Ereignisse und Information im dynamischen Spannungsfeld von Aktualisierung (Territorialisierung, Verankerung im Hier und Jetzt, singuläre Lösung) und Virtualisierung (Entterritorialisierung, Loslösung vom Hier und Jetzt, Verteilung, allgemeiner Zugang, Problemannäherung). Ereignisse und Informationen über Ereignisse tauschen in jeder Phase der Dialektik des menschlichen Sinnbildungsprozesses ihre Identitäten und Funktionen.
ZUSAMMENFASSUNG: ANSÄTZE ZU EINER ÄSTHETIK DER GASTFREUNDSCHAFT Virtualität ist keinesfalls das, was uns das Fernsehen vormacht. Sie ist keine imaginäre oder irreale Welt. Im Gegenteil stellt die Virtualisierung die eigentliche Dynamik in unserer gemeinsamen realen Welt dar, ja sie macht die Welt erst zu einer wirklich gemeinsamen. Virtualität ist nicht das Reich der Lüge, sondern die eigentliche Dimension, die Wahrheit und Lüge Bestand gibt. Ameisen, Fische oder Wölfe wissen nicht, was richtig oder falsch ist, sie kennen nur Köder und Fährten. Tiere werten nicht. Wahrheit und Unrichtigkeit entstehen nur durch die Sprache. Wahrheit und Unrichtigkeit stehen im Zusammenhang mit artikulierten Äußerungen, und jede Äußerung setzt, explizit oder nicht, eine Frage voraus. Ein Verhör bedingt eine ungewohnte geistige Anspannung, die Tieren fremd ist. Hier klafft eine Lücke, die das eigentliche Wesen der Virtualität darstellt. Ich stelle die Hypothese auf, daß jede neue Art von Virtualisierung, jede Erweiterung des Problemfelds neue Räume der Wahrheit eröffnet (und natürlich der Lüge). Ich meine damit die logische Wahrheit, die zur Gänze von Sprache und Schrift abhängig ist (zwei großartige Instrumente der Virtualisierung). Ich meine aber auch andere Formen der Wahrheit, die vielleicht viel profunder sind, und von Dichtung, Kunst, Religion, Philosophie, Naturwissenschaft, Technik wie auch vom Menschen formuliert werden, nämlich von jedem einzelnen von uns im täglichen Leben. Die Entdeckung und Erforschung neuer Arten der Wahrheit, die durch die Dynamik der Virtualisierung entstanden sind, ist heute wahrscheinlich die interessanteste künstlerische Herausforderung.
Warum sollten Kunst und Philosophie in die Dynamik der Virtualisierung eingreifen? Weil Aktualisierung manchmal zur Realisierung führen kann, weil die Heterogenese zur Entfremdung verkommen kann, weil die Entwicklung einer neuen Geschwindigkeit in eine bloße Beschleunigung münden kann, weil die Virtualisierung oft die Aktualität aussperrt und weil der allgemeine Zugang, jenes Grundmerkmal der Virtualisierung, oft durch Beschlagnahme und Ausschluß ersetzt wird.
Diese Sichtweise sieht die Rolle der Kunst als Mittlerin zwischen Virtuellem und Möglichem, zwischen Ereignis und Substanz. Die Kunst würde das Universum der Dinge und all seine Ressourcen zum Zweck einer kollektiven und innovativen Unternehmung nützen: neue Fragen zu stellen und Antworten zu finden.
Kunst, aber auch Philosophie, Politik und (warum nicht?) Technik können der pervertierten Virtualisierung des Aussperrens und des Ausschlusses eine zugängliche, offene und gastfreundliche Virtualisierung entgegenhalten. Tempo und Ausmaß des Trends zur Virtualisierung sind gegenwärtig so enorm, daß Menschen oft von ihrem Wissen, ihrer Identität, ihrer Arbeit, ihren Ländern etc, verbannt und vertrieben sind. Die Menschen werden sozusagen zu einem inneren Nomadentum gezwungen. Eine Abkehr von der Virtualisierung wäre in dieser Situation die falsche Antwort. Stattdessen sollten wir versuchen, ihr zu folgen, ihr Sinn zu verleihen und eine neue Gastfreundschaft zu entwickeln. Aus einem Gebot der Nomaden kann in der heutigen großen Entterritorialisierung eine neue ästhetische Dimension erwachsen.
Diese Kunst, diese Philosophie, die Politik könnten folgende vernünftige Botschaft verkünden: Menschen hier und überall, Ihr, die Ihr in dieser gewaltigen Bewegung der Entterritorialisierung gefangen seid, Ihr, die Ihr dem neuen pulsierenden Hyperkörper der Menschheit eingepflanzt seid,Ihr, die Ihr verstreut denkt unter dem Hyperkortex der Nationen,Ihr, die Ihr diesem gewaltigen Geschehen einer Welt beiwohnt, die niemals aufhört, zu sich selbst zurückzukehren und sich neu zu erschaffen, Ihr, die Ihr in das Virtuelle geworfen seid, Ihr, die Ihr heute teilhabt an dem Eintauchen unserer Art in den Strom des Seins, im Zentrum dieses seltsamen Wirbelwinds, wahrlich, Ihr seid zu Hause. Willkommen im neuen Haus der Menschheit, willkommen in der Virtualisierung.
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