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Der neue Mythos


'Frank Ogden Frank Ogden

Während des finsteren Frühmittelalters, der Zeit vom 5. bis zum 10. Jahrhundert also, regierte das Barbarentum im westlichen Europa. Die große Wende kam mit dem Hochmittetalter und dem Feudalwesen, welches seine Blüte in der Zeit zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert erlebte. Das war auch die Zeit der Kreuzzüge. Eine Zeit also, in der sich beinahe ganz Europa aufmachte, um nach dem Heiligen Gral zu suchen – jenem geheimnisvollen Gold- oder Silberkelch, der beim Letzten Abendmahl verwendet worden sein soll. Die Legende besagt, daß dieser Kelch auch von Josef von Arimathäa verwendet wurde, um das Blut Christi aufzufangen. Diese Mythen und Legenden dominierten die Kultur des mittelalterlichen Europa. Und wie das Mittelalter hatte auch jedes andere Zeitalter seine Mythen und Legenden, welche die Werte der Zeit widerspiegelten und das ihre zur Entwicklung der einzelnen Kulturen beitrugen. Jedes Zeitalter hatte seine Besonderheiten, war eine Zeit wie keine andere.

Die Sage von König Artus und seiner Tafelrunde beispielsweise geht auf das 6. Jahrhundert zurück, Lanzelot, Mitglied der Tafelrunde, begeht mit Ginevra – Artus' Frau – Ehebruch. Würde die Artussage in der Gegenwart spielen, würde Lanzelots Sohn Galahad wohl mit der Schlagzeile "Galahad trägt Heiligen Gral zum Himmel" sämtliche Titelseiten füllen.

In seiner letzten Oper ließ Richard Wagner seinen Helden Parsifal einen Blick auf den Heiligen Gral erhaschen.
Von dieser Zeit künden auch das Hildebrandslied und das Nibelungenlied. Beide beschreiben das Feudalwesen des Mittelalters und das Geschehen rund um das Gebiet, auf dem sich heute das Linzer Museum der Zukunft befindet.

Vom 14. bis zum 16. Jahrhundert brachte die Renaissance einen Aufschwung der Kunst, der Musik und der Architektur in Europa. Das Wiederaufleben der Kunst und das Zeitalter der Entdeckungen dauerten bis ins 20. Jahrhundert an. Das Schwert regierte diese beinahe ein volles Jahrtausend andauernde Ära. Und wieder war es eine Zeit wie keine andere. Heute fällt es uns schwer nachzuvollziehen, warum diese Mythen, Sagen und Legenden einen derartigen Einfluß auf die Menschen ausüben konnten, wie sie über so lange Zeit hinweg alles Handeln bestimmen konnten.

Vielleicht brauchen wir heute einen neuen Mythos, der uns den Weg in die Zukunft weist. Einen Mythos voller Herausforderungen, einen Mythos, der es schafft, 5 Milliarden Menschen in seinen Bann zu ziehen. Etwa eine Sage um einen mausgesteuerten Cursor, der uns direkt in das geheimnisvolle Königreich des Cyberspace führt.

Es gäbe viele Parallelen zu den Sagen des Mittelalters. Im Cyberspace gibt es neue Gebiete zu besiedeln. Ein Reich ohne bekannte Grenzen, Gesetze oder Regeln. Ein Universum ohne Ende, bevölkert von Kreaturen, die von jenen unerschrockenen Forschern geschaffen wurden, welche sie jetzt zu erforschen suchen. Ein Zeitalter von Galliumarsenverbindungen, Treibsand und Photonen. All das, was man so braucht, um einen Mythos zu schaffen –Bizarres, Phantastisches – und alles ist einem Wandel unterworfen, der sich in atemberaubender Geschwindigkeit vollzieht. Ein Wandel im Zeitbegriff, die Abschaffung veralteter Regeln und Konventionen, der Zusammenbruch unserer ach so perfekten Institutionen.

Der Zyklus der Erneuerung und Wiedergeburt schließt sich. Eine neue Religion mit einem neuen Gott hält Einzug in unsere Welt. Die Zentrale der Bank of Asia wurde nach seinem Angesicht geschaffen – dem eines Roboters. Und schon wird sie von ihren Anhängern bejubelt. Und wieder ist es eine Zeit wie keine andere.
Es war einmal …

AUF ZU NEUEN UFERN . . . MIT DEM MYTHOS ELEKTRONIK
Im Zuge meines dritten und bisher längsten Versuches, mich aus dem Geschäft zurückzuziehen (er dauerte höchstens 30 Tage), erhielt ich von einem Steinzeit-Häuptling im Kikori-Regenwald von Papua-Neuguinea eine Einführung in das Computerzeitalter, das damals gerade über uns hereinbrach. In der Folge wurde ich im Jahre 1979 der erste kanadische Benutzer von The Source, der ersten Online-Informationsstelle der Welt. Im Laufe der folgenden Jahre kam es zwischen John Taub, dem Initiator von The Source, und mir immer wieder zu einem Gedankenaustausch darüber, wie sich diese neue Welt wohl weiterentwickeln würde. Taub, der anderen Lichtjahre voraus war, spielte durch die Einführung vieler heute äußerst gefragter Serviceleistungen bereits Gott. Er verkaufte seine Ideen für Unsummen an den Reader's Digest-Verlag, der sich dann mit CompuServe, dem heute größten kommerziellen Onlinedienst, zusammenschloß.

Während dieser Zeit war ich ein sehr aktiver Nexis-Benutzer. Nexis funktioniert ähnlich wie Lexis, der Onlinedienst für Rechtsauskünfte. Die Nexis-Zentrale befindet sich in Ohio und stellt mit ihren 75 Milliarden Zeichen an Eintragungen eine riesige Datenbank dar. Nexis wurde ebenfalls unlängst verkauft. Seinerzeit schien Nexis äußerst kostspielig zu sein. Um auf das System zugreifen und die Bedienung erlernen zu können, zahlte ich etwa 2.000 US-Dollar. Rückblickend hat sich diese Investition bezahlt gemacht. Es war der Ausgangspunkt für den erste Video-Beobachtungsdienst der Welt, den ich in der Folge gründete. Ich hatte mehrere Kunden, von denen jeder pro Monat und Interessensgebiet eine Gebühr von 1,000 US-Dollar zahlte. Zuerst zeichneten wir nur regionale Nachrichten auf, später nationale und schließlich über Satellit Sendungen aus ganz Nordamerika und mit Hilfe unseres Mannes in Tokio sogar aus Asien. 1981 florierte das Geschäft bereits außerordentlich gut. Wir mußten uns die Sendungen im Zeitraffer ansehen und uns auf Trends anstatt auf Ereignisse konzentrieren.

Anstatt auf teuren Breitband-Quad Bändern, wie sie bezeichnet wurden, aufzunehmen, benutzte ich eine gute Einzelhandelsmarke -Schmalbandvideokassetten von Sony. Eine Sony-Kassette zu 8 Dollar hatte eine Aufnahmekapazität von drei Stunden. Bei den privaten Fernsehsendern fand man bald heraus, daß es auch für sie finanziell nicht tragbar war, 200 Dollar für ein 20-Minuten-Band auszugeben, und dann zusätzlich noch hohe Summen für die Aufbewahrung dieses wachsenden Bänderberges aufzubringen.

Folglich löschten die meisten nordamerikanischen Sender eine Vielzahl der zwischen 1981 und 1988 aufgezeichneten Nachrichten. Innerhalb dieses Zeitraums sammelten sich bei mir eine Milliarde Videobilder aus nordamerikanischen und etwa eine halbe Milliarde Bilder aus asiatischen Nachrichtensendungen an. Ich spekulierte damit, daß es im Zuge der sich in rasendem Tempo weiterentwickelnden Elektronik innerhalb von zehn Jahren möglich sein würde, aus qualitativ minderwertigen Amateuraufzeichnungen Videos von professioneller Qualität zu machen. Und genau das ist nun seit vier Jahren möglich. Weil ich für meine Aufzeichnungen preisgünstige Videokassetten verwendete, war es mir möglich, diese nicht wie die Fernsehsender zu löschen und wiederzuverwenden, sondern sie aufzubewahren. Ich habe sie tatsächlich alle behalten – und sie sind Goldes wert.

Nach und nach wandte ich mich anderen Arten des Datenzugriffs, in erster Linie mit Hilfe des Computers, zu. Ich zeichnete aber auch weiterhin Satellitenprogramme auf, verwendete die Daten allerdings für Vorträge und Beratungsaufträge, da dies wesentlich lukrativer und der Personalbedarf gleich Null ist. Ich betreibe ein Ein-Mann-Unternehmen, welches mehr als eine Million Dollar im Jahr abwirft. Meine Subunternehmer sind der Schlüssel zum Erfolg. Mein früherer Assistent Jim Semenick arbeitet jetzt mit seinem eigenen Unternehmen Scanix für mich. Ich stellte ihn ein, als er 13 war – es war mir schlichtweg unmöglich, einen kompetenten Erwachsenen zu finden. Meine Tochter Lodei arbeitet als Videographer für mich, und das Unternehmen meiner Frau, Baker Communications, veröffentlicht meine Artikel sowohl im guten alten Gutenberg-Format als auch auf Diskette. Das National Speakers Bureau fungiert als mein Agent für Gastvorträge, von denen ich etwa 70 im Jahr halte. In Zusammenarbeit mit drei kleinen Washingtoner Unternehmen produziere ich Videos, CD-ROMs und bereite Informationsmaterial für meine WorldWideWeb-Seite auf.

Man kann mich über das WorldWideWeb unter der Anschrift www.drtomorrow.com/-drtom erreichen. Beim WorldWideWeb handelt es sich entweder um das größte Fiasko der Welt oder um eine äußerst profitträchtige Errungenschaft. Niemand weiß wirklich genau, wie viele Benutzer es gibt, verläßlich wirkende Daten besagen allerdings, daß ihr Kreis monatlich um etwa eine Viertelmillion wächst. Das ist schon eine ziemliche Anzahl von Menschen, die da einer neuen Community (Gemeinschaft) beitreten – der am raschesten wachsenden Community der Welt, um genau zu sein, "Community" bezieht sich nicht mehr nur auf "eine Gruppe Menschen, welche die gleichen Interessen hat und im gleichen geographischen Raum ansässig ist". Im Cyberspace gibt es bereits eine wirklich aktive Community. Am 27. April 1993 habe ich in den USA einen Antrag auf Registrierung von "Cyberspace University" als Handelsmarke eingereicht. Sollte es keine größeren Einwände geben, wird "Cyberspace University" ab dem 21. April 1995 eine geschützte Marke sein. Eine diesbezügliche Verlautbarung erschien am 21. März in der entsprechenden US-Publikation.

Mit "Cyberspace University" würde erstmals etwas als Handelsmarke registriert werden, das physisch eigentlich nicht existiert. Bereits 1992 bemühte ich mich erfolgreich darum, die Bezeichnung "Dr. Tomorrow" registrieren zu lassen. Beide Handelsmarken scheinen im Titel meiner neuen multimedialen CD-ROM auf: "Dr. Tomorrow's Cyberspace University". Und gleich der erste Händler, dem sie vorgeführt wurde, kaufte 2.000 Stück als Muster. Der Einzelhandelspreis für diese CD-ROM beträgt 30 Dollar, und besagter Händler beliefert 33.000 Filialen in ganz Amerika. Das könnte uns ziemlich viel Neuland erschließen.

Erstmals in der Geschichte der Menschheit bietet dieses Netz jedem Benutzer potentiell Zugang zu allen Bürgern unseres Planeten. Natürlich sind noch nicht alle im Netz, aber das System ist so unverschämt billig, daß sich so gut wie alle Bürger der westlichen Welt, und auch viele Asiaten einkaufen können. Sogar in Indien, China und Sri Lanka hängen bereits viele im Netz, und auch in Osteuropa greift das Cyberspace-Fieber um sich.

Das Zeitalter der Industrialisierung teilte die Menschen in zwei Gruppen: Besitzende und Besitzlose. Während dieser Zeit nahmen die Besitztümer um das etwa 30fache zu, dieser Reichtum war allerdings sehr ungleich verteilt, die USA und Europa gingen als die wirklichen Gewinner hervor. Vielen Teilen der Welt mangelte es aufgrund des langwierigen und kostspieligen Lernprozesses an Bildung und Kapital, die erforderlich waren, um Zutritt zu dieser Welt zu erlangen: sie forderte schließlich eine stattliche Eintrittsgebühr dafür, daß man Kapital einsetzen durfte.

Heute teilt sich die Welt in Wissende und Unwissende. Die Landbesitzer des Agrarzeitalters bezogen ihren Reichtum aus dem, was ihr Land hervorbrachte. Im darauffolgenden Industriezeitalter gingen Maschinen und Reichtum Hand in Hand, weil es auch die Maschinen waren, die den Reichtum schufen.

Heutzutage bedarf es keiner astronomischen Summen mehr, um Unternehmen voller profitträchtiger Maschinen aufzubauen. Ich könnte 90,000 Dollar am Tag erwirtschaften, indem ich mit dem gleichen Computer elektronische Bücher (heute bereits für 200 Dollar zu haben) produziere, auf dem ich sie geschrieben habe. Die Produktion eines Buches dauert 42 Sekunden, Kostenpunkt für die Diskette: 35 Cent. Man braucht kaum Lagerbestände. Der Aufwand für Produktionsstätte und Lagerräumlichkeiten ist praktisch gleich Null. Und selbst das Marketing ist im Vergleich zu den Marketingkosten im Industriezeitalter billig. Es besteht kein Bedarf mehr an großen Büros, riesigen Gebäuden und unzähligen Angestellten. Geld ist nicht mehr das Wichtigste, um in diesem neuen Zeitalter Fuß zu fassen, denn es ist ein Zeitalter experimentellen Lernens, nicht traditioneller Bildung. Es ist an der Zeit, sich Buckminster Fullers Gestaltungsaxiom "Weniger ist mehr" zu Herzen zu nehmen, Small is beautiful! Man muß allerdings Unternehmergeist und Risikobereitschaft besitzen. Sie glauben Bill Gates, heute der reichste Mann Amerikas, hat alles ohne fremde Hilfe geschafft?! Weit gefehlt! Er hatte viel fremde Hilfe, Hilfe von jenen, die seinen Traum mitgeträumt haben und mit ihm ein Stück Weges gegangen sind. Etwa 2,000 von ihnen sind heute selbständige Millionäre, aber nur wenige haben ihre Arbeit aufgegeben. Warum? Weil sie sich ganz einfach nichts Aufregenderes vorstellen konnten, als das zu tun, was sie zu Millionären gemacht hat. Und beinahe alle von ihnen sind unter 35. Der Silicon-Valley-Mythos hat das Seine zu ihrem Glück und Erfolg beigetragen.

Der Mythos rund um Zarathustra hatte seine Auswirkungen auf Babylon. Die Renaissance und das Zeitalter der Aufklärung hatten ihre Mythen. Mythen stärkten die Russische Revolution und Hitler. Und der Mythos hat auch schon im Lande Gaias Einzug gehalten. Manche arbeiten bereits an der Verbreitung des Mythos von der Technokalypse.

Dies ist nun unsere Zeit. Wir stehen am Beginn eines neuen Jahrtausends. Laßt uns unseren eigenen Mythos schaffen. Die Zeit ist reif dafür!
Die Sterne sind ein Stück näher gerückt. Greift nach der Zukunft!