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Von der Welt der Kommunikation zur Utopie der Körper (1)


'Lucien Sfez Lucien Sfez

Eines der merkwürdigsten sozialen Phänomene ist das zeitliche Aufeinanderfolgen von sogenannten "herrschenden Ideologien". Diese Ideologien formen in der Tat Gebilde von geringer Stabilität, die tendenziell laufend entstehen und sich neu zusammensetzen. Sie sind, wie jede symbolische Gestalt, vom Verschleiß bedroht, sie werden brüchig, finden in der Öffentlichkeit keinen Anklang mehr und streben schließlich nach Erneuerung, indem sie ihre Bestandteile neu ordnen. (2)

So verhält es sich auch mit dem, was uns hier beschäftigt: das ist zum einen die Ideologie der Kommunikation, die die alte republikanische Ideologie auf ihre Weise neu geformt hat und andererseits die neue, sich nun abzeichnende Entwicklung, die ich als "Utopie des Körpers" bezeichne, welche die Elemente der Kommunikation in anderer Weise und auf anderer Stufe wieder zusammenführt.

I. DIE NEUFORMULIERUNG DER ALTEN REPUBLIKANISCHEN IDEOLOGIE DURCH DIE KOMMUNIKATION
Die symbolische Gestalt, die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in einem universellen Projekt vereinigte, fand in einer Welt, in der der technische Fortschritt als Wert an die Stelle der alten humanistischen und ethischen Trilogie getreten ist, kein Echo mehr. Verbraucht wie sie war, bewegte sie nichts mehr. Dagegen sind ihre Bestandteile für das soziale Leben weiterhin von realer Bedeutung. Die Herrschaft der Kommunikation, ihre Ausbreitung, ihre Macht haben sich in einer Weise entwickelt, daß sie ihre Elemente neu zusammensetzen, sie wieder zusammenführen und in Gestalt der Technologie aufeinander abstimmen konnte. So findet sich die Gleichheit, die jedem Demokraten teuer ist, umgewandelt in den "Zugang aller zur Information" wieder, und was in der Politik keine Antwort fand, sieht sich nun den Lösungsvorschlägen der Technik gegenüber: die Transparenz der Information bewirkt gleiche Chancen, während die Freiheit durch denselben Wandlungsprozeß zur Interaktivität wird, die aus dem technischen Fortschritt der Kommunikationsmaschinen hervorgegangen ist, ein Fortschritt, der dem Menschen, dem Individuum, die Freiheit des Eingreifens gegenüber dem Determinismus der Maschinen läßt. Was nun die Brüderlichkeit anbelangt, so wird deren Ausübung durch die Verbindung von Transparenz und Interaktivität gewährleistet: die Geselligkeit wird somit zum dritten Begriff der alten Trilogie.

Daraus ersieht man, wie sie zu jener Gestalt, die den technischen Modernismus mit humanistischen Werten zu vereinigen wußte, "geworden" ist – das Artefakt der industriellen Maschine und die menschliche Natur in ihrem Streben nach einer besseren Welt, besser informiert, anpassungsfähiger, weniger hierarchisch: die Begriffe des Netzes, der Selbstorganisation, der Autopoiesis, die Konzepte der Paradoxa und der Konstruktion der Wirklichkeit erfassen den Wechsel von ethischem Volontarismus und hierarchischen Systemen. Das Glück ist da. Zu wissen, wie man es ergreift, genügt, versichert die Technowissenschaft.

Die Gestalt der Kommunikation wird unter diesen Umständen allmächtig, eine Grenze ihrer Ausbreitung gibt es nicht, zumal gerade sie die Grenzen von Zeit und Raum verwischt. Sie ist nicht mehr universell sondern planetar, sie ist nicht mehr beherrschend, sie ist totalisierend und totalitär. Sie ist sogar, wie ich in der "Critique de la communication" (3) angemerkt habe, "tautistisch", eine Wortschöpfung aus den Begriffen "Autismus" (sie schließt die Individuen ein in ein informatives Gewebe, dem sie nicht entkommen können), "Tautologie" (repetitiv, die von den Massenmedien bereitgestellte Information imitiert und bestärkt sich selbst) und schließlich "totalitär", denn sie allein besitzt die Macht, die gesamte Informationsmenge zu sammeln und zu verwalten. Neutralität, Unmittelbarkeit, Transparenz, Ende der Konflikte durch das Aufkommen einer universellen Wissenschaft, Glück, Gleichheit. Alle Ideologen der Kommunikation lassen so den Raum und die Zeit verschwinden, die Geschichte und die symbolischen Vermittlungen. Sie verstehen es, sie auszulöschen um ihre eigene Maschinen-Symbolizität zu erzeugen, die alle anderen ersetzen soll.

Man stößt hier auf einen Haufen Gewäsch über Werte und Techniken: ein "neues" Wissen, ja sogar ein neues Denken, eine "neue" elektronische Demokratie und selbst das Aufkommen weiblicher Werte im planetaren Gehirn, glaubt man dem unsäglichen Joel de Rosnay; all dies verdanke sich der Akkumutalion der Techniken, ihrer Addition und ihrer digitalen Überschneidung im Bereich des Audiovisuellen und des Telefons. Das siebente Weltwunder erreignet sich.

Es heißt Informationshighway. Dieser Kauderwelsch, diese Maschinerie aus Nebeneinandergestelltem und Hinzugefügtem, trägt das Mal des Postmodernismus. Die Kommunikation paßt sich dieser Gesellschaft ausgezeichnet an – der Gleichschaltung, der Indifferenz, der Heterogenität, dem intarsiagleichen Mannigfaltigen, der Kunst der aneinander gefügten Zitate, die letztlich zu einem Buch werden, einem Küchenrezept, einem Film, der mehr oder weniger erratischen Zufallsbedingtheit, dem pensiero debole, den keinerlei Widerspruch duldenden Affirmationen von Theoretikern, die keiner Kontrolle durch welche wissenschaftliche Gemeinschaft auch immer unterliegen, hier, wo das Wahre vom Falschen nicht zu unterscheiden ist, in der Ära des Wahr-Falschen, auch des Unisex, wenn die als reaktionär angesehene Geschtechterdifferenz abgeschafft ist. Es gibt keine großen Erzählungen mehr, sagt uns Lyotard, sondern nur mehr kleine, fragmentierte Geschichten, ohne Verbindung untereinander. Es gibt keine Geschichte mehr. Es gibt keine Macht mehr, es gibt, so scheint es, das Wirkliche nicht mehr.

Wenn man den Intellektuellen, Philosophen oder Soziologen Glauben schenkt, geht die Postmoderne weiter. Ihre letzten Strahlen erleuchten uns noch, gebrochen und zugleich auch getragen von der Kommunikationselektronik.

Der Niedergang der kommunikationellen Gestalt
Wenn man jedoch diesen spezifischen Markt und auch die Geografie von den Vereinigten Staaten in Richtung Japan verläßt, erzittert das postmoderne Sein, es taumelt, verschwimmt und verschwindet wie die schlecht eingestellten Bilder der alten Fernseher. Intellektuelle zwar, jedoch von einem anderen Schlag, sind heftig am Werk. Es handelt sich um Biologen oder Ökologen, Anhänger einer biosphärischen Konzeption des Lebens. Sie sagen uns, jeder auf seine Weise, daß die Wirklichkeit zurückgekommen ist. Und ebenso die Geschichte. Auch die Macht. Die Wissenschaft spricht und die kommunikationelle Postmoderne kann nicht antworten. Die Praktiker brauchen nur zu reden. Sie tun es. Gipfel des technologischen Informationströdels ist die Datenautobahn. Sie leitet den Niedergang der Kommunikation als dominierendes symbolisches Bild ein. Nach dieser Spitze, diesem Mount Everest, kann man nur absteigen und danach zu einer anderen Sinnorganisation übergehen, zu einem anderen dominierenden symbolischen Bild, denn die Gesellschaften können sich nur Bildern oder Gestalten, die ihre Kohärenz und Konsistenz gewährleisten, zuwenden.

Mit ihren Sängern, ihren Propheten, ihren Gurus, ihren Ideologen, aber auch mit ihren Praktikern, ihren Erfindern und ihren Industriellen war die Kommunikation in Begriff zur Weltbibel zu werden und als Herrscherin über alte Völker zu regieren. Aber die Rechnung wurde gemacht, ohne das historische Gesetz vom Fall jeglicher Herrschaft zu berücksichtigen: am Zenit angelangt, beginnt sie sich zu verbrauchen, sie repräsentiert nicht mehr ein Projekt sondern eine Tatsache: sie ist zu einem Stand der Dinge geworden und verliert damit gleichzeitig ihr Mobilisationsvermögen.

Zumal dieser Stand der Dinge bei weitem nicht zufriedenstellend ist. Zugang für alle? Und die Dritte Welt? Und das Gewicht der wirtschaftlichen Investitionen? Freiheit? Und die Massenmedien, die das soziale Image konstruieren und die sich, die eine wie die andere durch tautologische Imitation konstruieren? Gewiß, die Transparenz der Leere ist eine Transparenz, und die Freiheit des Zappens durch die Kanäle oder das Abschalten des laufenden Programms ist eine ziemliche armselige Freiheit. Das Verhältnis zwischen dem totalen Defizit in den nicht entwickelten Ländern und dem zuviel an Information und Kommunikationsmitteln in den fortgeschrittenen Ländern ist unausgewogen.

Es ergibt sich also, und das ist nun meine These, eine andere Gestalt, die auf eine andere Weise mächtiger ist als jene der Kommunikation, denn sie zielt nicht allein auf die Außenbeziehungen der Menschen zueinander und die reduzierte Zeit ihrer episodischen Beziehungen, sondern auf ein viel weiteres Feld: jenes des Lebens und des Lebenden, nicht des Menschen des 20. oder gar 21. Jahrhunderts, sondern der Humanität als lebender Spezies: Ich möchte von der Utopie des Körpers, der großen Gesundheit sprechen.
II. DIE UTOPIE DES KÖRPERS ODER DIE "GROSSE GESUNDHEIT" REKONSTITUTIERT DIE ALTEN IDEOLOGIEN
Dieses neue Fundament des Sinns beruht auf einer materiellen, einer äußerst materialistischen Basis und das ist: unser Apparat zur Wahrnehmung der Welt und zum Handeln in der Welt, unser Körper, der vom Körper des Planeten nicht zu trennen ist. Vollkommene Gesundheit beider Körper bedeutet, die des einen durch den anderen, die des einen im anderen. Vollkommene Gesundheit als Ziel und als Mittel. Gesundheit für das Leben. Aber auch Leben um bei guter Gesundheit zu sein. Leben und die Biotechnologien und die Technologien der Ökologie, ohne die die Große Gesundheit nicht existieren würde, lebendig zu machen. Vergleichbar den Kommunikationstechnologien, die die Basis der kommunikationellen Religion bildeten.

Nicht rechtfertigen, nicht zerstören, aber verstehen. Denn es geht hier weder um die Bioethik noch um die Ökologie, das ist hier nicht unserer Gegenstand, vielmehr eine sich bildende Utopie, die man allem Anschein nach noch nicht in allen ihren Implikationen überblickt, in ihrer zweiseitigen Totalität: der menschliche Körper und der des Planeten. Wir sagen Utopie und nicht Ideologie. Oder immer weniger Ideologie und immer mehr Utopie in einer allmählichen Steigerung, die im "Artificial Life" kulminiert, dem letzten Schrei der technologischen Moden in Amerika.

Diese Utopie ist die neue Gestalt, die ebenfalls aus einer Neuzusammensetzung hervorgeht. Neu zusammengesetzt werden hier die charakteristischen Elemente der kommunikationellen Ideologie.

1. Transparenz, Gleichheit und Reinheit
In der Tat wird die Transparenz – die bereits die Gleichheit ersetzt hatte – in der Großen Gesundheit als absoluter Imperativ interpretiert: wir alle müssen eine ganzheitliche Vision von uns selbst haben, wir müssen wissen, woraus wir gemacht sind. Das am meisten Verborgene, das Geheimste, muß enthüllt werden. Die Gene, die uns zu dem, was wir sind, machen, der Plan unserer Bio-Organisation, unser Entwicklungsprogramm dürfen uns nicht entgehen. Wir müssen alles über die herrschenden Krankheiten wissen, über unsere möglichen Schwierigkeiten, über die Zukunft unseres eigenen Körpers. Jeder einzelne von uns muß sich damit beschäftigen, das Geheimnis unserer Organe zu lüften, aber selbstverständlich müssen wir es auch den anderen offenlegen, unseren Ärzten ebenso wie unseren Arbeitgebern, unseren Versicherern, unseren Familien. Dies ist die Grundlage für eine mögliche soziale Transparenz. Die Informationstheorie, die an der Wurzel der Entwicklung der biologischen Wissenschaften steht (der Kodierung der DNA und ihrer Entschlüsselung) ermöglicht es, die elementaren Daten der Konstitution des lebenden Körpers herauszufinden und aufzuzeichnen. Die Technobiologie setzt mit großen Schritten an zur Eroberung des menschlichen Genoms, das mapping (bzw. die Kartographie) und das sequencing (d.i. die Rekonstitution der Aufeinanderfolge der DNA-Sequenzen) werden die Kenntnis der kleinsten Details der Entwicklung unserer Zeiten ermöglichen.
Das Sammeln der "guten" Gene, die Jagd auf die "schlechten Gene" trifft sich mit dem Ziel der Transparenz, und das heißt hier mit dem der Reinheit. Nach dem Imperativ der kommunikationellen Transparenz im sozialen Bereich gehen wir hier zu dem der Reinheit in der Domäne des Biologischen über.

2. Freiheit, Interaktivität und Erfindung des Menschen durch die Technik
Die Freiheit, die durch die Kommunikation bereits zur Interaktivität geworden ist, wird durch die Utopie der Großen Gesundheit ebenfalls neu interpretiert: Wenn wir unsere Gene kennen und in der Lage sind, hier die geringste Unreinheit zu beseitigen, können wir in das fatale Schicksal, das uns zu Krankheit und Tod führt, eingreifen. Genetische Manipulationen verschaffen uns jene Freiheit, die uns bislang durch die ursprüngliche Bestimmung des biologischen Erbes vorenthalten war. Die technische Interaktivität der denkenden und kommunizierenden Maschinen wird ersetzt durch die genetische Intervention, eine auf uns selbst gerichtete Aktivität, eine Selbstschaffung im eigentlichen Sinn: Wir konstruieren uns selbst mit Hilfe der Biotechnologie. Die Bemühungen, die äußere Determiniertheit soziopolitisch zu erleichtern, weichen der "Sorge um sich selbst", der Verantwortung für das eigene Schicksal: Krankheiten verhindern, die Lebensdauer verlängern, die Unsterblichkeit ins Auge fassen. Das Projekt menschliches Genom vereinigt alles, was unter Biologen innerhalb eines dicht gewobenen internationalen Netzes von Bedeutung ist, es mobilisiert enorme Finanzmittel und zahlreiche Instanzen: das Recht, die Philosophie, die Geschichte vereinigen sich zu einem großen bioethischen Unterfangen, an dem alle fortgeschrittenen Länder partizipieren.
Aber diese Sorge um sich selbst endet nicht bei unserem eigenen Körper, sie betrifft die Nahrungsmittel, die wir zu uns nehmen, die Luft, die wir atmen: alles muß rein sein, die Umwelt gereinigt. Die Natur verfügt, wie alles Lebende, auch über schlechte Gene. Durch einen guten Einsatz der Technik werden ihr jene Qualitäten, die sie verloren hat oder die sie selbst nicht aktivieren kann, zugeführt: das Beispiel von Biosphere Two kann uns den Weg zu einem biotechnischen Paradies weisen, in dem das Gleichgewicht Mensch/Natur durch die Balance der Technik vermittelt wird. Durch die Technik können in einer künstlich überwachten und aufrechterhaltenen Welt tatsächlich die maximal reinsten Lebensbedingungen wiederhergestellt werden. Eine geschlossene Welt, isoliert vom Rest der (unreinen) Welt, autark. Sie erfordert freilich Lebewesen – die Bewohner der Biosphäre – die ebenso rein und transparent sind, wie die große Glaskuppel, die in der Wüste von Arizona errichtet wurde.
Die letzte Stufe dieser Suche nach der Reinheit des Lebenden mit Hilfe der Technologie stellt schließlich das künstliche Leben oder die Schaffung eines künstlichen Lebewesens dar. Die beiden Begriffe des Künstlichen und des Lebens, die sich zueinander widersprüchlich zu verhalten scheinen, werden in den fortgeschrittensten Praktiken der Wissenschaft von der künstlichen Intelligenz miteinander verbunden. Hier wird die Aufgabe des Genetikers sehr vereinfacht, denn er operiert mit Hilfe von Autoevolutionsprogrammen "lebender" Gruppen auf künstlich errichteten Elementen, deren Wachstum und deren Absterben gleichermaßen überwacht werden kann. Die Auto-Intervention geht des Terminus "auto" verlustig, es handelt sich nicht mehr um das Selbst, sondern um eine Population von Lebewesen, die durch die künstliche Intelligenz geschaffen wurden: ihre Reinheit ist garantiert, ihre "Gene" wurden berechnet, und da sie "wie" eigene lebende Wesen existieren, müssen sie auch Rechte haben: die auf künstliche Wesen angewendeten Menschenrechte.

3. Die kosmische Brüderlichkeit
Aus der Reinheit und der biologischen Autointervention, ja sogar aus der Erschaffung eines künstlichen Lebens ist der dritte Begriff der Trilogie hervorgegangen: transportiert, erweitert und sublimiert wird in diesem Fall die brüderliche Geselligkeit: es wird sich nicht mehr bloß um andere Menschen handeln, um diese kleinen, lebendigen, ungewissen Einheiten, diese unbeständigen Elemente des Planeten, Subjekte mit verschiedensten mehr oder weniger starken persönlichen Charakteren, jedoch von kosmischer Geselligkeit mit Gaia, der nährenden Erdenmutter, Göttin der Fruchtbarkeit und des Lebens, die für das Schicksal der menschlichen Spezies unter all den anderen Arten bestimmend ist. Die republikanische Brüderlichkeit ist sehr fern und erscheint überaus beschränkt, die Vernunftgöttin der Revolution und der Aufklärung recht schwach und die gesellige Interaktivität ein belangloses, kleines Werbegeschenk für den, der das Denken des Universums, die Kommunion mit der geheiligten Natur erreicht und sich der Religion der Bio-Öko-Ethik widmet. Wir haben hier also eine Trilogie – ausgestattet mit allen alten Werten früherer überentwickelter und überdimensionierter Ideologien – in einem fundamentalistischen ethischen Projekt, das unsere Beziehungen zu uns selbst betrifft und zum Leben des höchsten Lebendigen: dem Planeten. Als wir die kommunikationelle Ideologie als etwas Religiöses behandelten, waren wir noch weitab vom Ziel: mit der Utopie der Großen Gesundheit handelt es sich hier um eine wirkliche Religion.
Gewiß ist, daß die Wirksamkeit dieser Utopie zu tun hat mit dem was sie berührt, mit dem was es in uns an "Innerstem" gibt, mit dem Geheimnis des Lebens, dem der Menschen und dem des Universums, daß ihre zeitliche Ausdehnung Millionen Jahre umfaßt und daß dieses utopische Projekt vom Ursprung und vom Ende … der Welt handelt. Diese große Erzählung ist von unbestreitbarer Tragweite und sie ist – so wie zu ihrer Zeit die Ideologie der Kommunikation – in der Lage, zu verbinden, nämlich die größtenteils aus den Kommunikationstechnologien stammenden Fortschritte der Technologie und die verängstigten Fragen, die nicht mehr dem sozialen Gewebe und seinen Werten gelten, sondern dem Leben des Planeten und dem seiner Bewohner.
III. DIE ZWEI AUSPRÄGUNGEN DER NEUEN GESTALT: IDEOLOGIE UND UTOPIE
Die Macht der neuen Gestalt hängt von ihrer Ausdehnung auf alte Bereiche des individuellen und planetaren Körpers ab.
Sie ist eine Ideologie.

Natürlich ist sie hier aus mehreren Gründen, die ich, ohne sie zu erörtern, lediglich aufzählen kann, zum Teil eine Ideologie: da ist die Idee, daß das bearbeitete Objekt, ob Gen oder Biosphäre, die letztmögliche Bestimmung und die letztmögliche Realität darstelle: eine Reinigung, um die man sich hier bemüht, um sich von schlechten Genen zu befreien oder von Beeinträchtigungen der Harmonie der Gaia: sodann die Idee, daß die Theorie der Information der Kommunikation alles vereine: die Information als Grundlage des Lebendigen und die verallgemeinerte Kommunikation der ganzen, in der Gestalt der Gaia lebendigen Materie, die Beispiele hier betreffen den Kern der Rekonstruktion der alten Metapher "Kommunikation" in der neuen Form der Großen Gesundheit; weiters die Idee, daß wir hier sind auf der Suche nach dem Ursprünglichen, das heißt an der Grenze des Belebten und des Leblosen: "Die Erde als ein lebendiges Sein das leidet; … das ist vollkommen absurd", sagt uns indessen Atan (4); schließlich die Idee, daß das Lebendige biologisch wie ökologisch über allem stünde: gewitzte Geister wundern sich darüber und behaupten, daß der Sinn der Ehre, der Freiheit und der Verantwortung dem Lebendigen letztlich überlegen sein könnte (5); muß man daran erinnern, daß diese Überlegenheit zentral für den Mechanismus der Tragödie ist? Es handelt sich hier um ebensoviele ideologische Elemente wie aufzuzeigen erforderlich war.

Sie ist vor allem eine Utopie
Aber das Wesentliche an der neuen Gestalt liegt nicht dort. Denn ihre Macht geht von ihrer utopischen Form aus. Sie ist Ideologie und Utopie. Und mehr noch Utopie als Ideologie. Was wollen wir hier sagen?

Wir wollen damit zum Ausdruck bringen, daß die Utopien, alle Utopien, gemeinsame Züge aufweisen, Kennzeichen, die sie als Gattung des Diskurses definieren. In ihren Inhalten haben sie sich reichlich unterschieden, die moralischen und sozialen Utopien des 16., 17. oder 18. Jahrhunderts bis hin zu den technologischen Utopien des modernen Zeitalters. Andererseits haben sie hiervon all jene Züge bewahrt, die der Konstitution der Erzählung eigen sind. Sehr schematisch finden sich hier Elemente daraus.

Die Kennzeichen der Utopie
  1. Der von den Verwicklungen isolierte Ort. Isoliert, isola, eine Insel, in seine Grenzen eingeschlossener und gegen jede Verunreinigung geschützter Ort. Die Insel ist gegen die Außenwelt abgeschirmt. Es sind nur Dämme, Festungswälle und Wassergräben oder auch stürmische Ozeane und unzugängliche Ufer. Wenn der Reisende sich ihnen nähert, wird er, ehe ihm der Zugang gestattet wird, genau geprüft.


  2. Die Allmacht des Erzählers oder Rezitators, der der Doppelgänger des Schriftstellers ist. Allgegenwart des derart zum Meister seiner Erzählung gewordenen Romanciers. Unerschütterlicher und autoritärer Charakter der Utopie, die die inselhafte Isolierung noch verstärkt.


  3. Regeln des hygienischen Lebens. Die Bewohner müssen schön sein, wohl gestaltet und die Vergnügungen lieben (l'Abbaye de Thelem). Nur die guten Elemente erhalten Zutritt (Icarie de Cabet). Tabak ist verboten, über die Nahrungsmittel wird abgestimmt (idem). Das Gesetz erfordert Sittsamkeit und Reinheit und verwirft den Ehebruch (er wird bei Burton mit dem Tod bestraft; in der Histoire des Sevarambes von Vairasse werden Frauen öffentlich gegeißelt). Sauberkeit des Körpers ist Sauberkeit der Seele. "Wascht euch, wascht euch …" sagt uns Jules Verne in Les 500 millions de la Begum. Sauberkeit und Transparenz sind miteinander verbunden. Die Transparenz ist, wie in der Ideologie der Kommunikation, eine fundamentale Regel. Alles ist sichtbar, nichts wird verborgen. Die Modellstadt muß vollkommen lesbar sein.


  4. Das technische Imaginäre. Die Technik wird in den Utopien immer beansprucht. Die physikalischen Maschinen (Cyrano de Bergerac) oder auch die sozialen (alte gemeinschaftlichen Einrichtungen) werden von einer übernatürlichen Macht eingesetzt. Das heißt, sie kommen der Natur zu Hilfe um sie zu vervollständigen, indem sie ihre Fehler reparieren. Mechanik der Zahlen (Fourier), der Werkzeuge (Jules Verne), der Gesetze der Verteilung der Reichtümer (Cabet), der Energie (Villiers de l'Isle Adam). Die Technik gestattet die sofortige Transformation: Sie ist die Triebfeder der Erzählung. Das utopische Universum ist hierarchisch, kategorisiert, spezialisiert, folglich bedarf es technischer Experten. Die Technik errichtet eine Welt nach ihrem Bilde. Der Zufall ist ausgeschlossen. Das ist eine Welt ohne Ungewißheit, ohne Verunreinigung, ohne Tod und ohne Zersetzung, ohne Staub und ohne Absonderlichkeit. Übernatürliche Welt, die ihre Überlegenheit dem Künstlichen verdankt.


  5. Die Rückkehr zum Ursprung. Die Technik ist da, um einen Stand der Gnade zu erreichen, einen wieder gefundenen Garten Eden. Die reisenden Missionare des 18. Jahrhunderts kennen, als sie auf die Indianer treffen, nur eines, nämlich sie zu unterweisen. Man muß ihnen neue Namen geben (die Taufe), ihnen die Sprache neu beibringen (sie eine neue Sprache lehren), die Dörfer wieder aufbauen (nachdem man sie zerstört hat), sie maßregeln (Verbot der sexuellen Zügellosigkeit und der Nacktheit). Die Jesuiten sind die großen Lehrer und Experten in Sachen Utopie. Diese Rückkehr zum Ursprung bedeutet eine Neufundierung.
Wie verhält es sich nun mit der Bio-Öko-Religion, mit der Utopie des Körpers, die wir beschrieben haben? Sie entspricht Punkt für Punkt den fünf soeben beschriebenen Kennzeichnungen der Utopie, zumindest wenn man dabei drei seit mehreren Jahren erforschten Objekten vertraut: das Weltprojekt des menschlichen Genoms (erstes Objekt), Biosphäre II, die zweite Biosphäre dieses Namens, die auf einigen Hektar nahe Tucson (Arizona) an einem als Oracle bezeichneten Ort (so etwas erfindet man nicht) die fünf Hauptbiome des Planeten versammelt, dreitausendzweihundert pflanzliche Arten, einige tierische und einige menschliche: zweites Objekt. Schließlich das dritte Objekt, "Artificial Life", durch welches numerische Wesen geschaffen werden, die sich entwickeln, die essen, sich lieben und Kinder zeugen und die unsere wahrhaftigen Nachfolger, wir sagen, die Propheten dieses neuen Universums sind. Wohlan, diese drei Objekte werden von den Regeln der utopischen Erzählung gesteuert.

Die utopischen Regeln beherrschen die Objekte der zeitgenössischen Forschung
Die Isolierung. Die kreisförmige Biosphäre ist wie eine Insel in der Wüste von Arizona verankert, sie zeigt sich den Besuchern in ihrer Transparenz aus undurchdringlichem Glas, welches zugleich die Biosphäriker, die neue Menschenrasse, schützt. Die Genetiklabore sind Festungen, die von den Forschern gegen potentielle Feinde, die Geheimnisse stehlen oder sie verwerten wollen, verteidigt werden (die Geschichte der Patente beweist dies).

Die Allmacht des Erzählers. Dieser ist hier zum Plural geworden, er ist anonym und ist in einem Kollektiv verankert. Es ist diese Kollektivität die spricht, nach außen übermittelt, publiziert und debattiert. Für ein nicht fachkundiges Publikum, was für die meisten von uns zutrifft, ist die Sprache der Komitees und Assoziationen der Forscher unangreifbar, sie sind Meister ihrer "Erzählung", das heißt ihrer Arbeiten, die nicht mehr durch die Gesetze der Literaten sondern durch die der Wissenden geschützt sind.

Das technische Imaginäre ist zur eigentlichen Substanz der Forschung geworden und nicht mehr eine Hilfe für Machenschaften. Ohne die allmächtige Technologie hätten die Projekte selbst gar nicht stattfinden können. Obwohl sie oft von "reinen" Wissenschaftlern entworfen werden, ist die Rolle der Maschinen doch wesentlich. Sie sind vollwertige Akteure.

Die Regeln des hygienischen Lebens sind vor allem für Biosphäre II feststellbar. Im Inneren der Luftblase strikte eingehalten, sind sie beispielgebend, sie sollen, geht es nach den Biosphärikern, zur universellen Regel für alle Menschen werden. Die Ökologen, eine Art von Biosphärikern ohne Luftblase, geizen nicht mehr mit ihren Empfehlungen für Menschen und Erde. Für die Gemeinde der Genetiker zwar weniger leicht erkennbar, machen diese Regeln des perfekten Lebens doch die Finalität ihrer Arbeiten aus. Und die Mittel hier zu etwas zu gelangen, werden wie Gebote erlassen: Es ist eine neue Rasse, die – von schlechten Genen erst einmal befreit – den bestimmenden Prinzipien eines künftigen "guten" Genoms gehorcht.

Die Rückkehr zum Ursprung schließlich spukt durch beide Projekte, es ist ein geträumter Ursprung, eine Zeit vor den Krankheiten der Gesellschaft, ein reiner Ursprung, wo Natur und menschliche Kunstfertigkeit miteinander verbunden sind und vor der Trennung ein Ganzes bilden. Diese Ganzheit von Materie / Geist nimmt in den atheistischen Versionen die Gestalt einer Technosphäre an beziehungsweise die einer Noosphäre in der spirituellen Version.
SCHLUSSFOLGERUNG
Als Schlußfolgerung gestatten Sie mir, Ihnen eine Interpretation des sehr schönen Films von Fritz Lang: Metropolis zu geben. Hier läßt sich der Übergang von einer Utopie zu einer Ideologie nachweisen und in der Folge, skizzenhaft, die Geburt einer zweiten Utopie.

Die industrielle Gesellschaft zu Beginn dieses Jahrhunderts, Maschinen, Wirkungsgrad, Mechanisierung und natürlich Machinationen. Ein genialer Planer hat eine leuchtende Stadt gebaut,weiß, eine schwebende Architektur, die sich isoliert, geschützt, reguliert, ritualisiert und rein darstellt. Ihre Bewohner sind wie sie "weiß". All dieser Reinheit steht maschinenhaft die schwarze, schattige Welt gegenüber, die der Fließbandarbeit, hier sind die nach Energie gierenden Maschinen. Der Planer ist der Meister seiner Erzählung, und bei dieser Erzählung handelt es sich um eine der klassischen Utopie, mit allen ihren Kennzeichen. Zur Gänze auf ihre eigene Existenz gerichtet und selbstgefällig, ignoriert die weiße Stadt die Zeit, sie ist aus dem Nichts aufgetaucht, sie erhält sich dank ihrer Regeln, die den Großteil der "schwarzen" Arbeiterbevölkerung ausschließen.

Zweiter Abschnitt: ein "weißer" Mann, ein Mann von oben, versucht die Beziehung zwischen oben und unten zu vermitteln. Der erste Erzähler verschwindet, wir befinden uns nicht mehr in der Utopie, sondern in einem diskursiven Abenteuer, in dem es zu unvorhergesehenen Ereignissen kommt, in einem Roman, wenn man so will. Es ist dies die Welt der Kommunikation, die hier entsteht. Das ins Auge gefaßte Ziel ist die Transparenz zwischen den beiden Welten, sie soll zur Gleichheit führen. Trotz alter Hindernisse läßt der abschließende Händedruck zwischen Oben und Unten (zwischen dem genialen Planer und weißen Chef und dem Arbeiter, dem schwarzen Chef) für die Kommunikation eine strahlende Zukunft erwarten. Es handelt sich nicht mehr um eine Utopie, sondern um eine Ideologie. Die Welt der Kommunikation und alle Arten von Vermittlungen kristallisieren sich heraus, mit ihren bald weißen, bald schwarzen Doppelgängern (das junge, reine Mädchen und die Kreatur, die Aktion vermittelnde Dubletten). Vertragen Transparenz, guter Wille, Brüderlichkeit und Maschinen sich gut? Ende von Metropolis. Die Frage der verallgemeinerten Kommunikation stellt sich. Sie scheint vielversprechend …

Sicher, der zeitgenössische Zuschauer zweifelt daran sehr … er hat die kommunikationelle Ideologie am Werk gesehen. Und durch eine Rückentwicklung, wie sie in der Geschichte häufig genug vorkam, ist das, was er jetzt benötigt, eine … Utopie! Die Kommunikation hat den Graben nicht zum Verschwinden gebracht, die Transparenz hat die Ungleichheit nicht abgeschafft. Und wenn es, durch eine noch radikalere Transformation genetischer Art, dazu kommt, daß nicht mehr die Vermittlungen "geordnet" werden, sondern die Protagonisten selbst? Wenn sie alle, zum Beispiel durch den Einsatz aller möglichen Mittel, "weiß" würden und sich von dem Schlechten, das sich in ihren Körpern, auf dem Planeten befindet, befreien würden? Eine neue Ära, eine utopische, würde sich entfalten zu: jener der generellen Reinigung …

(1)
Eine systematische und detaillierte Ausführung der einzelnen Teile dieses Artikels findet sich in meinem Buch La Santé parfaite. Le Seuil, Herbst 1995. zurück

(2)
Das Gesetz der Degradierung symbolischer Gestalten und ihrer sukzessiven Neubildungen zu anderen Gestalten wurde dargestellt und entwickelt in meinen Leçons sur l'égalité, Presses de la FNSP. 1984. zurück

(3)
Le Seuil, 1988, dritte Auflage 1992. zurück

(4)
In Questions de vie, Gespräche mit Catherine Bousquets. Le Seuil, 1994.S.50. zurück

(5)
Siehe Alain-Gérard Stama, Interview im Point vom 6. August 1994. zurück