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Ars Electronica 1995
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Über den Mythos Information


'McKenzie Wark McKenzie Wark

Cyberspace! Virtual Reality! Internet! Multimedia! Wo alle Träume wahr werden, wo es für jeden etwas gibt, wo Langeweile nur mehr ein Wort ist. Presseriesen, Nachrichtenzentralen und Fachzeitschriften überschwemmen uns mit der Cyberflut. Und wir möchten so gerne alles glauben. Es gab eine Zeit, in der wir schon fast an den Untergang allen Glaubens glaubten. Aber die Cyberflut, die umgearbeitete, neu benannte, vakuumverpackte Version des Informationsmythos, hat uns unseren Glauben wiedergegeben. Laßt uns William Gibson loben und preisen! Laßt uns Bill Gates loben und preisen! Laßt uns – wie hieß noch mal dieser Virtual Reality-Typ, der in allen Zeitschriften war? Egal, laßt sie uns alle loben und preisen!

Information ist eine komische Sache, voller – wie Marx sagen würde – "theologischer Feinheiten". Eine Wissenschaft der Information war für mich immer ebenso unsinnig wie eine Wissenschaft der Zaubersprüche. Die einzige Definition von Information, die mir jemals gefallen hat, ist die von Gregory Bateson, welche besagt, daß Information jener Unterschied ist, der den Unterschied ausmacht.

Es gibt jedoch die Kunst der Information. Diese Kunst besteht nicht nur darin, Information so zu gestalten, daß sie unabhängig von der individuell-zufälligen Interpretation für irgend jemanden irgendwo den kleinen Unterschied ausmacht. Sie besteht auch darin, daß diese Information während des Interpretationsvorganges durch den Empfänger neu gestaltet wird.

Der Gedanke, daß das Publikum an der Kunst der Bedeutungzuweisung gleichberechtigt Anteil hat, wurde von den Kunsttheoretikern stets zurückgewiesen. Dies mag ein Grund dafür sein, daß die Kunsttheoretiker über diese neue Art der Informationsversorgung wenig zu sagen haben, einer Art, bei der die Codes der Rezeption noch nicht feststehen, sondern zwangsläufig von jenen festgelegt werden müssen, die die Informationen erhalten. Vielleicht ist es auch einfach so, daß Anfang und Ende – also Bereitstellung und Empfang – nicht mehr klar voneinander getrennt werden können. Vielleicht ist es die Vektoreigenschaft der Information, die jetzt maßgebend ist. Der Autor im ursprünglichen Sinn ist offenbar, wie es so schön heißt, tot. Die Gruppe der Rezipienten zerfällt in die fuzzy logic der Polysemie, und der Text ist kein Text mehr, sondern ein Vektor, dessen Bedeutung zunehmend in seiner Geschwindigkeit und Richtung liegt. Er verliert seinen Objektcharakter und wird mehr und mehr zur Relation.

… während ich das schreibe, sehe ich mir gerade die Oscar-Verleihung 1995 im Fernsehen an. Eben haben sie Quincy Jones einen Oscar für irgend etwas überreicht, seine Rede hat mich wirklich berührt. Der Mann weiß, wie man Bescheidenheit zur Zier macht. Schnitt … Lippenstiftwerbung mit Cindy Crawford und dann ein Werbespot für Whirlpoolbadewannen. Ich nehme die Fernbedienung und drehe den Ton leiser.

Wenn es eine Kunst der Information gibt, könnte es dann nicht auch sein, daß die Information die Grundlage jedweder Kunst ist? Ich denke, Kunst wird doch in zunehmendem Maß so aufgefaßt. Nicht die physischen, die Sinne ansprechenden Eigenschaften machen Kunst aus, und auch nicht die Qualität des Bildes. Es ist die durch die Eigenschaften und das Bild bewirkte Qualität der Relation, die die Kunst zur Kunst macht.

Seit einiger Zeit scheint es, als würden die Relationen, zu denen die Kunst wird, immer unabhängiger von der Einzigartigkeit ihrer ursprünglichen Form. Es scheint, als würde die Ausübung der Kunst immer mehr in Richtung öde Spezialisierung, Formalisierung und Fachlichkeit tendieren. Gleichzeitig gibt es aber auch einen Trend in die entgegengesetzte Richtung, wo Kunst ein leichtfüßiges und gewandtes Spiel mit dem Abstrakten ist – dem Punkt, an dem Kunstgegenstände zu Kunstvektoren werden. In den Neuen Medien, der Computerkunst und der Multimedia-Kunst finden sich sowohl die besten als auch die schlechtesten dieser Errungenschaften.

Aber woher kommt dieser Mythos, dieser zum Fetisch gewordene Gedanke, der die Information in Kunst, Handel und Alltag umgibt? Und warum gerade jetzt? Ich kann an die Frage nach dem Mythos Information, wie sie mir von den Leuten bei der Ars Electronica gestellt wurde, nur auf diese Weise herangehen. Der moderne kritische Geist hat den Mythos als das entlarvt, was er ist: der durch nichts begründete Glaube an eine rationale Erklärung für die Erfahrung. Der moderne kritische Geist fand weiters heraus, daß sogar ein Mythos über die Entlarvung des Mythos entstanden ist. Folglich haben viele den Verdacht, daß man hinter jedem Mythos weitere Mythen findet.

… Michelangelo Antonioni hat soeben den Ehrenoscar für sein auf das Bildliche reduzierte Kino der Stille erhalten. Sie zeigen einen Ausschnitt aus der Schlußszene von "Zabriskie Point”, alles explodiert in Zeitlupentempo zur Musik von Pink Floyd. Ich werde nie vergessen, wie es war, als ich das als Teenager im Kino sah …

Problematisch wird es dann, wenn man auf der Suche nach dem Mythos Information die Information an sich hinterfragen muß. Man hinterfrägt und hinterfrägt bis nichts mehr übrig bleibt. Darum wäre es vielleicht besser, von der anderen Seite an die Sache heranzugehen und einen Mythos rund um den Mythos Information aufzubauen – immer in der Hoffnung, daß wir irgendwann auf ein wenig Rationalität stoßen.

Vor vielen, vielen Jahren wurden die Menschen auf die Erde geworfen. Es war ein harter, kalter Ort und sie fühlten sich nicht sehr wohl dort. Sie fürchteten sich. Also taten sie sich zusammen und beschlossen, die Erde besser zu machen. Und sie waren ziemlich erfolgreich, sie gediehen und mehrten sich. Sie begannen die Erde als "Natur" zu sehen, als etwas, das ihnen das Leben sicherte, aber doch nie Teil von ihnen war. Das machte sie traurig. Sie fühlten sich, als wären sie auf die Erde geworfen. Und so träumten sie davon, die Erde nach ihren Vorstellungen neu zu gestalten. Sie erträumten eine neue Umwelt. Sie schufen Worte, Werkzeuge und Beziehungen, und so veränderten sie die Natur, machten sie zu einer neuen Heimat, die eher ihren Vorstellungen, ihrem Selbstbild entsprach. Sie schufen sich eine zweite Natur.

In dieser zweiten Natur gab es Türgriffe, die Türen öffneten, Feuerzeuge, die zündeten, und Toaster, die Toast auswarfen. Die Menschen verwendeten Wörter und Werkzeuge und gingen Beziehungen ein, und eine neue Welt war entstanden. Sie fühlten sich wohl in dieser Welt, manche zumindest. Die meisten fühlten sich, als wären sie auf den harten Beton dieser zweiten Natur geworfen, so wie seinerzeit ihre Vorfahren sich gefühlt hatten, als ob sie auf die Erde geworfen worden wären. Sie fürchteten sich vor dieser harten, dunklen, zweiten Natur. Und sie begannen, davon zu träumen, diese zweite Natur nach ihren Vorstellungen neu zu gestalten. Sie erträumten eine neue Umwelt, und manchmal rissen sie tollkühn die Kontrolle an sich und begannen mit der Gestaltung dieser neuen Natur.

Sie scheiterten. Ihre Bemühungen waren heldenhaft, aber sie waren leider nicht die Helden dieses Mythos. Die Menschen mühten sich weiterhin ab, schufen Wörter, Werkzeuge und Beziehungen und wurstelten sich durch, und ihre zweite Natur wurde schneller, höher, stärker, bis sie schließlich die ganze Erde bedeckte. Aber die Menschen waren noch immer nicht glücklich. Sie hörten auf, davon zu sprechen, wie wunderbar ihre neue Umwelt – wenn sie einmal fertig war – sein würde. Sie sprachen nicht mehr davon, daß alles noch schöner sein würde, sobald sie jenen, die Macht hatten, diese entzogen und selbst die Gestaltung übernommen hatten.

… aus dem Fernseher tönt mir ein Lied entgegen – Elton John betritt die Bühne. Er macht jetzt Filmmusik. Meine allererste Schallplatte – erinnern Sie sich noch an Schallplatten? – war von ihm. Ich habe sie nicht mehr. Jetzt kommt ein Werbespot für irgendein Zeugs für die Haare …

Diese zweite Natur wuchs und wurde erweitert und immer unkontrollierter. Manchen gelang es, sich das zu sichern, was sie brauchten und was ihr Leben bequemer gestaltete, aber all das auf Kosten der anderen. Und gleichzeitig entstand auch etwas anderes. Ohne sich dessen bewußt zu sein, schufen die Menschen wieder eine neue Umwelt. Sie waren der Meinung, sie hätten lediglich daran gearbeitet, die zweite Natur zu verbessern.

Zuerst war da der Telegraph, dann kam das Telephon, dann dieses Wundergerät vor dem ich jetzt gerade sitze – das Fernsehgerät. Und dann machten sie das Ganze weltweit und nannten es Telekommunikation.

… soeben wurde ein weiterer Oscar verliehen, er ging an Clint Eastwood. Ich erinnere mich noch daran, wie meine Schwester und ihr Freund mich mit ins Autokino nahmen, um einen seiner Italo-Western anzusehen. Sie wollten mich nicht wirklich mitnehmen, aber meine Schwester sollte auf mich achtgeben, und da blieb ihnen wohl kaum etwas anderes übrig! Ihr Freund war das, was wir als Rowdy bezeichneten – eine Art Halbstarker. Er war ein kleiner Angeber. Er fuhr mit seinem silbernen Alfa Romeo durch die Ausfahrt in das Autokino, kurz nachdem der Film begonnen hatte, die Scheinwerfer ausgeschaltet, damit wir nichts zahlen mußten …

Das wirklich Befremdliche an diesem Tele-Zeugs war, daß es den Menschen damit möglich war, Informationen schneller von einem Ort zum anderen zu transportieren als sich selbst. Schneller, als man Waren versenden konnte. Schneller, sogar als man einander verprügeln konnte. Sie schufen sogar ein Wort, das diese befremdliche Art, die Dinge, die kreuz und quer durch die zweite Natur geschickt wurden, wahrzunehmen, beschreiben sollte: Telästhesie oder Fernwahrnehmung. Sie schufen dieses Wort und vergaßen es sofort wieder.

Die Menschen waren so sehr damit beschäftigt, diese neuen Telästhesie-Werkzeuge zur Adaption der zweiten Natur einzusetzen, sie schneller, höher, stärker zu machen, daß sie gar nicht bemerkten, daß damit eine völlig neue Umwelt entstand. Langsam und Strich für Strich schufen sie sich selbst eine dritte Natur.

Und ganz allmählich, Stück für Stück wurden all ihre Träume von einer neuen Umwelt, all ihr Gerede über ihre Werkzeuge Wirklichkeit. Aber sie waren noch immer nicht wirklich glücklich. Sie fühlten sich noch immer, als wären sie in diese Welt geworfen. Nicht auf die Erde, denn diese war mit Beton überzogen. Und auch nicht auf den Beton, denn dieser war mit Telästhesie überzogen. Sie fühlten sich, als wären sie in ein Netz aus Medienvektoren geworfen worden. Manchmal fürchteten sie, daß die Medien sie ihrer Seelen berauben könnten. Aber meist waren sie einfach nur gelangweilt.

Und es gab keinen Ort mehr, wo man noch hätte hinfliehen können. Sie hatten ihren Glauben daran, daß man eine neue Umwelt schaffen könnte, längst verloren. Was, wenn diese neue Umwelt wieder ebenso unwirtlich wäre wie die vorherigen? Also glaubten sie an gar nichts mehr, und für kurze Zeit vergaßen sie sogar, daß es das Glauben gab.

Manche bezeichneten das als Postmoderne.

… einer der Produzenten von Forrest Gump erscheint auf meinem Bildschirm. Seinen Oscar nimmt er mit den Worten entgegen: "Wir sollten stolz darauf sein, in einem Industriezweig zu arbeiten, der die Menschen nicht nur unterhält und bildet, sondern ihnen auch Mut macht." …

Ab und zu allerdings, wenn die ständigen Licht- und Tonreize der Telästhesie sie nicht gerade langweilten oder ängstigten, ergriff die Idee einer neuen Umwelt abermals Besitz von ihnen. Nur daß diese neue Erde, von der sie träumten, virtuell wäre. Eine Welt, die aus reinen Datenvektoren bestünde und in der man jedes gewünschte Ziel sofort, ohne Anstrengungen und große Kosten erreichen könnte. Nur, daß es sich dabei nicht mehr um wirkliche Ziele handeln würde, denn man könnte sich frei in der zweiten Natur bewegen und gleichzeitig mit der dritten Natur in Kontakt stehen. Die Erde bestünde dann aus einem einzigen Netz von Vektoren, hauchdünne Linien, Blitzen gleich, die die ganze Erde umspannten.

Und unsere Langeweile hätte damit ein Ende! Die Angst hätte ein Ende! Die Tyrannei hätte ein Ende! Wir würden uns nie mehr an der Welt stoßen, an unseren Mitmenschen oder an uns selbst. Wir würden nicht mehr mit Texten, sondern mit Vektoren arbeiten. Wir hätten keine Wurzeln mehr, sondern Antennen. Wir hätten keine Anfänge mehr, sondern Endgeräte.

Zumindest hört man das so. Und zwar meist von jenen Menschen, die an der Gestaltung dieser Endgeräte beteiligt sind oder damit spielen. Die dritte Natur entwickelt sich nach außen, erfaßt jeden Winkel der Erde. Die dritte Natur entwickelt sich auch nach innen, das Netz aus Vektoren wird immer dichter und es bilden sich Zentren aus Hitze, Licht und Macht. Die dritte Natur greift nach den Sternen und dem Unbewußten. Und sie wurden zu dem, was sie sahen.

… ich sehe hier in Australien fern, sehe, was gerade in Hollywood, auf der anderen Seite der Erde, passiert. Ich tippe Wörter in meinen Laptop und sende sie per Modem nach Österreich. Dort werden sie Teil des Katalogs, den Sie gerade vor sich haben. Das ist Telästhesie – Wahrnehmung auf Distanz. Was wir sehen, wahrnehmen, ist das Produkt all dieser Vektoren. Sie sind die dritte Natur und sie durchdringen die Poren der zweiten Natur – gelangen nach Hollywood/USA, Sydney/Australien, Linz/Österreich …

Die dritte Natur errettet uns vor der zweiten Natur, vor dem immensen Schaden, den die zweite Natur dem angetan hat, was wir ursprünglich als Natur bezeichneten und das seine Natürlichkeit in dem Moment verlor, als wir Hand anlegten. Das ist ein Mythos über den Mythos Information und seinen Ursprung. Ein Mythos bleibt nur so lange ein Mythos, als er einer großen Menge von Menschen aus verschiedenen Gründen Hoffnung gibt, ihre Angst mindert und sie von ihrer Langeweile befreit. Und auch wenn dieser Mythos jeglicher Wahrheit entbehrt, so ist er doch von Nutzen für uns. Er hilft uns, die unbarmherzige, endlose, sinnlose Abstraktion der Welt zu verstehen.

Vielleicht ist es besser, an das Unmögliche zu glauben und es dann möglich zu machen, anstatt sich mit dem Möglichen abzufinden, nur um dann zu sehen, wie es selbst unmöglich wird.

… und ich danke meinen Produzenten, Regisseuren, Redakteuren, Lektoren und besonders Karl Marx, Rosa Luxemburg, Georg Lukács, Henri Lefèbvre, Joan Robinson, Gregory Bateson, Harold Innis, Raymond Williams, Bernard Smith, Meaghan Morris, Paul Virilio, Fred Jameson und der verstorbenen Filmlegende Guy Debord …