Über virtuellen Sex und den Verlust des Begehrens
'Slavoj Zizek
Slavoj Zizek
Als Psychoanalytiker interessiert mich natürlich die Frage: Wie beeinflussen die neuen elektronischen Medien unseren Sexualitätsbegriff? Im Hintergrund steht dabei folgendes Problem: Wie können wir heute das Bedürfnis nach Geschlechtsverkehr neu stimulieren – in einer Zeit, in der das Objekt der sexuellen Begierde durch seine direkte Erreichbarkeit, d. h. durch das Fehlen von Hindernissen, die seinen Wert steigern würden, immer mehr an Reiz verliert, oder, um Freuds klassische Formulierung zu verwenden, daß:
". . . der psychische Wert des Liebesbedürfnisses sofort sinkt, sobald ihm die Befriedigung bequem gemacht wird. Es bedarf eines Hindernisses, um die Libido in die Höhe zu treiben, und wo die natürlichen Widerstände gegen die Befriedigung nicht ausreichen, haben die Menschen zu allen Zeiten konventionelle eingeschaltet, um die Liebe genießen zu können." (1) Aus diesem Blickwinkel erscheint die höfische Minne als die radikalste Strategie, den Wert des Objekts zu erhöhen, indem seiner Erreichbarkeit konventionsbedingte Hindernisse in den Weg gestellt werden. Lacan sagt im Seminar etwas nur scheinbar Ähnliches, tatsächlich aber grundlegend anderes, wenn er in seiner sehr prägnanten Beschreibung des Paradoxons der höfischen Minne diese als "eine sehr ausgeklügelte Methode, das Fehlen einer sexuellen Beziehung zu verdrängen, indem man sich vortäuscht, daß wir selbst Hindernisse gegen diese Beziehung errichten" (2) bezeichnet. Es geht also nicht einfach nur darum, daß wir zusätzliche konventionsbedingte Hindernisse aufbauen, um den Wert des Objekts zu steigern, sondern äußerliche Hindernisse, die das Objekt für uns unerreichbar machen, existieren gerade deswegen, um uns vorzuspiegeln, daß das Objekt ohne sie direkt zugänglich wäre. Was diese Hindernisse dabei verbergen, ist die inhärente Unerreichbarkeit des Objekts. Wenden wir uns, um zu illustrieren, daß diese Strategie in eine Sackgasse führt, kurz einem Beispiel aus einem völlig anderen Bereich zu, der sogenannten "Datenautobahn" (Infonet, etc.). Wären zum Beispiel in naher Zukunft alle Daten, alle Filme, usw. sofort zugänglich, wäre die Verzögerung so minimal, daß der Begriff der "Suche nach etwas" (nach einem Buch, einem Film … .) selbst seine Bedeutung verlieren würde – würde diese sofortige Erreichbarkeit nicht das Begehren selbst im Keim ersticken? Das bedeutet, daß das menschliche Begehren durch einen Kurzschluß zwischen dem ursprünglich verlorenen Ding und einem empirischen, positiven Objekt ausgelöst wird, d.h. durch die Überhöhung dieses Objekts auf das Niveau der Würde des Dinges – das Objekt füllt damit die "transzendentale" Leere des Dinges aus, es wird verboten und nimmt damit die Funktion des Auslösers von Begehren an. Wenn jedoch jedes empirische Objekt erreichbar wird, dann verursacht dieses Fehlen des Verbots natürlich ein gewisses Angstgefühl: Durch diese Sättigung zeigt sich, daß der Sinn des Verbots letztlich darin lag, die inhärente Unmöglichkeit des Dinges zu verdecken, also die strukturelle Sackgasse, in welche das Begehren geraten ist. (Darin liegt auch eine der Widersprüchlichkeiten des Spätkapitalismus: auf der einen Seite diese Sättigung, diese sofortige Befriedigung, die jegliches Begehren erstickt; auf der anderen Seite die wachsende Menge jener "Ausgeschlossenen", die nicht einmal die elementarsten Grundbedürfnisse des Lebens (ausreichende Nahrung, Unterkunft, medizinischer Versorgung, etc.) befriedigen können – Überfluß und Not, Exzeß und Mangel hängen organisch zusammen, sodaß man den "Fortschritt" nicht mehr an einem eindeutigen Standard messen kann. Das heißt, daß es unsinnig ist, zu fordern, alle müßten nach allgemeinem Überfluß streben, nur weil einige Menschen im Überfluß leben und andere Not leiden: die "Universalisierung" jener Form des Überflusses, die den Spätkapitalismus kennzeichnet, ist aus strukturellen Gründen unmöglich, da im Kapitalismus der Überfluß selbst den Mangel verursacht, wie auch schon Hegel in seiner Philosophie des Rechts feststellte.)
Vor diesem Hintergrund erscheint nun die sogenannte "politische Korrektheit" in einem neuen, möglicherweise unerwarteten Licht. Ein Aspekt dieser political correctness ist eine Wiedereinführung der Prohibition im Bereich der Sexualität und das Bestreben, die Menschen dazu anzuhalten, überall die versteckten Zeichen von "inkorrekten" (patriarchischen, rassistischen, etc,) Vergnügungen aufzuspüren. Man ist deshalb versucht, die politische Korrektheit als eine Foucault'sche "Strategie ohne Subjekt" zu betrachten, die unser Interesse an jenen Dingen wecken soll, die der offizielle, öffentliche Diskurs zu verbieten vorgibt. Von diesem Standpunkt aus erscheint die politische Korrektheit als eine Art (unbewußte) "List der Vernunft", um dem alarmierenden Umstand entgegenzuwirken, daß die Menschen im Gefolge der "sexuellen Revolution" der sechziger Jahre immer weniger am Geschlechtsverkehr interessiert sind (nach aktuellen Umfragen in Westeuropa ziehen 70% aller jungen Frauen ein Abendessen in einem teuren Restaurant einer leidenschaftlichen Liebesnacht vor …). Wir werden hier Zeugen einer ironischen Umkehr der sechziger Jahre, in denen (sexuelle) Begierde als "progressives", befreiendes Mittel der Beseitigung starrer traditioneller Werte erlebt wurde – heute gehört (sexuelle) Begierde in ihrer tatsächlich beunruhigenden Dimension, von obszönem Gerede bis zu Selbsterniedrigung, zum Bereich des "Reaktionären". Eine gewisse Ironie liegt darin, daß im Rahmen der politischen Korrektheit die ganz "normale", "gewöhnliche" Sexualität beinahe verpönt ist und gleichzeitig andere Formen der Sexualität mit zunehmender Perversion an Anerkennung gewinnen – man muß sich schon fast entschuldigen, wenn man sich am liebsten in der völlig altmodischen, heterosexuellen Missionarsstellung vergnügt … Das "False Memory-Syndrom" (bei dem der Patient aufgrund der Suggestion des Psychiaters seine uneingestandenen Phantasmen in eine äußere Realität projiziert und sich "erinnert", wie er in seiner Jugend von seinen Eltern verführt und/oder sexuell mißbraucht wurde) ist daher das Symptom der politischen Korrektheit, eine Beispiel dafür, wie das "was vom Symbolischen ausgeschlossen wurde, in das Reale zurückkehrt". Das Urbild des "politisch inkorrekten" sexuellen Belästigers ist natürlich nichts anderes als das "Genießen des Vaters", die phantasmatische Figur des obszönen präsymbolischen Vaters. (3)
Gerade die Rehabilitierung der Verführungstheorie kann als Zeichen für den geänderten Status der Subjektivität in unserer postmodernen, spätkapitalistischen Gesellschaft gewertet werden, also als Zeichen der Verschiebung hin zu einem "pathologischen Narziß", dem der andere (das begehrende Subjekt) an sich als gewaltsamer Eindringling erscheint. Was immer er oder sie tut (ob er oder sie raucht, zu laut oder nicht laut genug lacht, mir einen lüsternen Blick zuwirft …), es wird zu einer Störung meines empfindlichen mentalen Gleichgewichts. Da er jede Begegnung mit dem Begehren des anderen als Bedrohung empfindet, strebt dieser "pathologische Narziß" nach einem Leben im virtuellen Raum (in genau dem Sinn, den dieser Begriff in der Welt der Computer hat): in einer Welt virtueller communities (Gemeinschaften), in der man jederzeit seine Identität ändern kann und in der keine Verbindung wirklich verpflichtend ist, da ich mich jederzeit aus jeder "Beziehung" zurückziehen kann. – Darin liegt auch der fatale Irrtum im Kampf der politischen Korrektheit gegen die "Sprache des Hasses", in dem versucht wird, "aggressive" durch neutrale Ausdrücke zu ersetzen (ein Mensch mit Sehbehinderung ist "visuell benachteiligt", ein unterentwickeltes Land ist ein "Entwicklungsland", etc.). Das Problem dieser Strategie liegt darin, daß der Machtdiskurs sie leicht zu seinem eigenen Vorteil verwenden (und verdrehen) kann, um so die rohe Brutalität der Ausbeutung zu verharmlosen: Warum sollte nicht auch eine brutale Vergewaltigung zur "unfreiwillig gewährten sexuellen Befriedigung" werden, etc.? Die politisch korrekte "Neusprache" ist, kurz gesagt, schlicht ein Abbild der heutigen "Bürokratensprache", in der die Ermordung eines politischen Gegners zur sterilen "Zerstörung des Ziels" wird, etc. – in beiden Fällen steht das Bestreben auf dem Spiel, die "verletzende" Dimension der Sprache aufzuheben, jenen Punkt, an dem das Wort des anderen das tiefste Innerste meines Wesens trifft. Und ist dieser Schutz vor der realen Begegnung nicht der wahre Zweck, der der "Erniedrigung des Liebeslebens" zugrunde liegt?
Wir meinen daher, daß die Geisteshaltung der politischen Korrektheit durch ihren Versuch, alle Spuren der Begegnung mit dem Realen, mit dem anderen als begehrendem Subjekt zu beseitigen, sogar zu dieser "Erniedrigung des Liebeslebens" beiträgt. Womit versucht sie sich nun, dieses begehrende Subjekt zu ersetzen? Hier kann uns die Grundidee von Robert Heinleins Puppetmasters als Antwort dienen. Heute erscheint uns das Motiv von parasitären Aliens, die unseren Planeten erobern, sich an unserem Rücken festsaugen, mit ihren langen Tentakeln in unser Rückenmark eindringen und uns so "von innen" beherrschen, ähnlich aufregend wie abgestandenes Bier: der (nach Heinleins Vorlage) 1994 gedrehte Film wirkt auf uns wie eine ziemlich mißlungene Kombination von Alien und Die Körperfresser kommen. Sein fantasmatischer Hintergrund ist jedoch interessanter als es den Anschein hat: Er besteht im Gegensatz zwischen der menschlichen Welt der sexuellen Fortpflanzung und dem Prinzip des "Klonens" bei den Aliens. In unserer Welt geschieht die Fortpflanzung durch Geschlechtsverkehrs unter der Schirmherrschaft des symbolischen Wirkens des Namen-des-Vaters, während die außerirdischen Eindringlinge sich durch direkte Duplizierung über Selbstkopien asexuell vermehren und daher keine "Individualität" besitzen; sie stellen einen Fall von radikaler "Verschmelzung von Subjekten" dar, das heißt, sie können direkt miteinander kommunizieren und das Medium der Sprache umgehen, da sie alle Teil eines einzigen riesigen Organismus, des einen, sind. Warum nun stellen diese Aliens eine solche Bedrohung dar? Die unmittelbare Antwort ist natürlich, daß sie zum Verlust der menschlichen Individualität führen – unter ihrer Herrschaft werden wir zu "Puppen", das andere (oder besser, das eine) spricht direkt durch uns. Es gibt dabei aber auch noch ein tiefer liegendes Motiv: wir können uns selbst nur insofern als autonome und freie Individuen erfahren, als wir durch einen nicht zu ersetzenden, konstitutiven Verlust, durch nicht zu überwindende Spaltung und Trennung gekennzeichnet sind, unser Innerstes sozusagen "aus den Fugen" ist und das andere (menschliche Wesen) für uns letztendlich ein unergründliches, unbegreifliches Rätsel bleibt. Die Aliens dagegen stellen die exakte Ergänzung dar, die die verlorene Vollkommenheit des menschlichen Subjekts wiederherstellt: Sie sind die von Lacan in seinem Seminar XI sogenannten "Lamellen", das unzerstörbare asexuelle Organ ohne Körper, der mythische Teil, der verlorenging, als die Menschen sexualisiert wurden. Im Gegensatz zu einer "normalen" sexuellen Beziehung, die immer durch das Fehlen von etwas zustande kommt und die daher an sich "unmöglich" und zum Scheitern verurteilt ist, ist die Beziehung mit den Aliens daher völlig befriedigend: verschmitzt ein menschliches Subjekt mit einem Alien, so ist es, als ob die perfekte Ganzheit des vollständigen Wesens, die vor den sexuellen Teilungen existierte und von der Platon in seinem Symposion spricht, wiederhergestellt wird – der Mann braucht die Frau nicht mehr (oder umgekehrt), da er in sich selbst bereits ganz ist. Wir sehen nun, warum, so wie in Heinleins Roman, ein Mensch, der sich aus der Gewalt eines parasitären Aliens befreien konnte, völlig verwirrt ist und wirkt, als ob er vollkommen den Halt verloren hätte, wie ein Drogensüchtiger, dem seine Droge entzogen wurde. Am Ende des Romans wird das "normale" sexuelle Paar durch einen (buchstäblichen) Vatermord wiederhergestellt: die Bedrohung der Sexualität ist überwunden.
Wir wollen jedoch aufzeigen, daß das, was im Roman als paranoide Phantasievorstellung erscheint, langsam Teil unseres realen Alttagslebens wird. Entwickelt sich der Personal Computer nicht auch langsam zu einer parasitären Ergänzung unseres Wesens? Vielleicht ist die Wahl zwischen Sexualität und dem zwanghaften Spiel am Computer (der sprichwörtliche Jugendliche, der so in seinen Computer vertieft ist, daß er sein Rendezvous vergißt) mehr als eine Erfindung der Medien: vielleicht ist sie ein Anzeichen dafür, wie durch neue Technologien langsam eine ergänzende Beziehung zu einem "un-menschlichen Partner" entsteht, die auf unheimliche Weise befriedigender ist als die Beziehung zu einem Sexualpartner – vielleicht hatte Foucault doch recht damit (wenn auch nicht aus den richtigen Gründen), daß sich das Ende der Sexualität abzuzeichnen droht, und vielleicht dient der Computer als Werkzeug auf diesem Weg. Vor jeder Beziehung zu einem intersubjektiven anderen steht daher die Beziehung zu einem Objekt, mit dem das Subjekt "verknüpft" wird und das als unmittelbare Ergänzung, als Ersatz für das a-sexuelle ursprünglich verlorene Ding dient. Populär-psychoanalytisch ausgedrückt könnte man sagen, daß das Subjekt, das durch den Computer als Objekt-Ergänzung Teil einer virtuellen community wird, zu einer polymorphen Perversion des "Ur-Narzißmus" "regrediert" – man darf jedoch die fundamental "prothetische" Natur dieses (und jeden) Narzißmus nicht außer acht lassen: sie beruht auf einem fremden mechanischen Körper, der das Subjekt für immer dezentriert. Die herausragendste Eigenschaft der computerisierten "interaktiven Medien" ist die Art, in der sie eine neue Drive-in-community als Ersatz für den fortschreitenden Zerfall unseres "tatsächlichen" Gemeinschaftslebens schaffen: was die Menschen weit mehr fasziniert als der noch nie dagewesene Zugang zu Information, zu neuen Bildungsformen, Einkaufsmöglichkeiten etc., ist die Möglichkeit, "virtuelle Gemeinschaften" zu schaffen, in denen ich eine beliebige sexuelle, ethnische, religiöse etc, Identität annehmen kann. Oder, wie es ein Journalist einmal ausdrückte: "Vergiß Begriffe wie Geschlecht und Rasse. Im Cyberspace bist du das, was du sein willst." Ein homosexueller Mann kann zum Beispiel in eine geschlossene sexuelle community einsteigen und über den Austausch von Mitteilungen als heterosexuelle Frau an einem fiktiven Gruppensex-Abenteuer teilnehmen … Diese virtuellen Gemeinschaften stehen keineswegs für das "Ende der kartesischen Subjektivität", sondern stellen den bislang am weitesten gehenden Versuch dar, den Begriff des kartesischen Subjekts im sozialen Raum selbst zu aktualisieren: erst wenn alle meine Eigenschaften, auch die persönlichsten, zufällig und austauschbar werden, ist die Leere, die "ich selbst bin", jenseits aller meiner angenommenen Eigenschaften das cogito, das leere kartesische Subjekt ($). Man muß jedoch vorsichtig sein, um den Fallen auszuweichen, die hier warten. Die erste dieser Fallen ist die Annahme, daß wir vor der computergenerierten Virtualisierung der Realität mit einer unmittelbaren, "realen" Realität konfrontiert waren: Das Erleben der virtuellen Realität sollte uns vielmehr bewußt machen, wie sehr die "Realität", mit der wir zu tun hatten, immer schon virtualisiert war. Der grundlegendste Prozeß der symbolischen Identifikation, der Identifikation mit einem Ichideal, bedarf, wie es Lacan schon in den fünfziger Jahren anhand seines berühmten Schemas der "umgekehrten/verkehrten Vase" darstellte, einer Identifikation mit einem "virtuellen Bild / l'image virtuelle": der Punkt in dem großen anderen, von dem ich mich selbst so sehe, wie ich mich sympathisch finde (die Definition des Ichideals) ist per definitionem virtuell. Ist die Virtualisierung daher nicht das Merkmal jeder, auch der elementarsten, ideologischen Identifikation? Wenn ich mich selbst als "Demokrat", "Kommunist", "Amerikaner", "Christ" etc. sehe, dann sehe ich nicht direkt "mich": Ich identifiziere mich mit einem virtuellen Punkt im Diskurs. Und insofern, als eine solche Identifikation eine Gemeinschaft begründet, ist jede Gemeinschaft stricto sensu immer schon virtuell. Diese Logik der Virtualität kann auch anhand von Oswald Ducrots Analyse der verschiedenen Diskurspositionen veranschaulicht werden, die ein Sprecher während ein und desselben Sprechaktes einnehmen kann: bestimmt, ironisch, verständnisvoll, etc. – wenn ich spreche, schaffe ich immer einen virtuellen Punkt der Behauptung, von dem aus ich spreche, der aber nie unmittelbar "ich" bin. Heute weist man gerne darauf hin, daß die Welt der virtuellen Gemeinschaften mit ihren beliebig austauschbaren Identitäten neue ethische Probleme aufwirft: Angenommen, ich als homosexueller Mann nehme in einer virtuellen community die Identität einer heterosexuellen Frau an – was passiert, wenn mich innerhalb dieses virtuelen sexuellen Spiels, das durch den Austausch von Beschreibungen auf dem Bildschirm funktioniert, jemand brutal vergewaltigt? Ist dies ein Fall von "echter" Belästigung oder nicht? (Die Dinge werden noch komplizierter, wenn in Zukunft immer mehr Menschen einander im virtuellen Raum begegnen und miteinander in Interaktion treten: Welchen Status wird Gewalt haben, wenn mich jemand in der virtuellen Realität angreift?) Wir meinen jedoch, daß diese Probleme sich gar nicht so sehr von jenen unterscheiden, mit denen wir in der "gewöhnlichen" Realität zu tun haben, in der meine geschlechtliche Identität auch kein unmittelbares, sondern ein "virtuelles", symbolisch konstruiertes Faktum ist, sodaß ständig eine Kluft zwischen ihr und dem Realen besteht: auch hier ist jede Belästigung primär ein Angriff auf meine "virtuelle", symbolische Identität.
Dies soll aber keineswegs heißen, daß in der heutigen technologischen Virtualisierung nichts wirklich Wichtiges stattfindet: was passiert, ist -um sich der Hegel'schen Ausdrucksweise zu bedienen – die formale Umkehrung vom In-sich zum Für-sich, d.h. die Virtualisierung, die bisher "in sich" war, ein Mechanismus, der implizit ablief als die verborgene Grundlage unseres Lebens, wird nun explizit und wird als solcher postuliert, was entscheidende Folgen für die "Realität" selbst hat. Was wir hier sehen, ist ein exemplarischer Fall der Hegel'schen Eule der Minerva, die "am Abend wegfliegt": ein geistiges Prinzip hat solange Gültigkeit, wie es nicht als solches (an)erkannt wird: sobald die Menschen sich seiner unmittelbar bewußt werden, geht es unter und das "stille Wirken des Geistes" schafft bereits die Grundlage für ein neues Prinzip. Das wirklich dialektische Paradoxon besteht, kurz gesagt, darin, daß gerade die "empirische", explizite Realisierung eines Prinzips seine Gültigkeit unterminiert. Die zweite Falle ist das genaue Gegenteil der ersten und besteht darin, vorschnell jede Realität zur virtuelle Fiktion zu erklären: Man sollte sich immer dessen bewußt sein, daß der "echte" Körper die unüberschreitbare Grenze für die Freiheit der Virtualisierung darstellt. Die Vorstellung, daß die Menschen in nicht allzu ferner Zukunft fähig sein werden, die Verbindung zu ihrem Körper zu lösen und sich in geistartige Wesen zu verwandeln, die frei von einem virtuellen Körper zum anderen schweben, ist das Phantasma der vollständigen Virtualisierung, in der das Subjekt endgültig vom"pathologischen" Makel des objet petit a befreit wird. Welche dieser beiden Fallen ist schlimmer? Da sie miteinander zusammenhängen, zwei Seiten derselben Medaille sind, kann man nur Stalins unsterbliche Antwort auf die Frage: "Welche der beiden Abweichungen ist schlimmer, die nach links oder die nach rechts?" zitieren: "Beide sind schlimmer!" Die näherliegende Frage ist vielmehr: Wovor laufen wir in Wirklichkeit eigentlich davon, wenn wir uns in die virtuelle Gemeinschaft flüchten? Nicht direkt vor der authentischen symbolischen Verpflichtung – es gibt noch etwas anderes zwischen der eigentlichen symbolischen Verpflichtung und der virtuellen Gemeinschaft. Denken wir an den Unterschied zwischen der traditionellen, von den Eltern arrangierten Ehe und der modernen, posttraditionellen Liebesehe. Die Verdrängung der traditionellen Ehe durch die Liebesehe wird üblicherweise als Zeichen eines liberalen Fortschritts gefeiert: die Dinge sind jedoch durchaus nicht so eindeutig und können jederzeit eine unangenehme Wendung in die unergründlichen Gefilde des Über-Ichs nehmen. Die traditionelle Ehe verlangt von den Eheleuten nur Treue und Respekt (oder besser, den Anschein von Respekt) – in ihr kommt die Liebe erst nach der Hochzeit, sie ist ein Zufall, der sich aus dem Wesen der Ehe ergibt (oder auch nicht) – ich bin also nicht verpflichtet, meinen Ehepartner zu lieben. Im Gegensatz dazu finde ich mich in einer Liebesehe bald mit dem Paradoxon der verpflichtenden Liebe konfrontiert: da ich verheiratet bin, und da eine Ehe auf Liebe basieren sollte, muß ich meinen Ehepartner lieben – ein Befehl des Über-Ichs, der mich von innen her quält. Damit beginnen schon bald Zweifel an mir zu nagen, die unaufhörliches Fragen ("Liebe ich meinen Ehepartner wirklich noch immer?") auslösen, was früher oder später zu Schuldgefühlen führt . . . Es sind diese unerträglichen Ermahnungen des Über-Ichs, vor denen der Mensch in die "kalte" Welt der virtuellen Beziehungen flüchtet, wo der andere kein echter intersubjektiver anderer mehr ist – sein Tod beispielsweise hat für mich dieselbe Bedeutung wie der Tod meines fiktiven Gegners in einem Videospiel.
Das Bild der interaktiven Medien verdeckt also möglicherweise sein genaues Gegenteil, nämlich die Neigung, das Subjekt als isoliertes Individuum darzustellen, das nicht mehr wirklich mit anderen interagiert: das "interaktive" Computer-Network ermöglicht es dem Subjekt, seine Einkäufe zu erledigen (anstatt ins Geschäft zu gehen), sich sein Essen nach Hause liefern zu lassen (anstatt ins Restaurant zu gehen), seine Rechnungen zu bezahlen (anstatt zur Bank zu gehen), zu arbeiten (an einem via Modern mit der Firma verbundenen Computer, anstatt zur Arbeit zu gehen), sich politisch zu betätigen (durch die Teilnahme an "interaktiven" Fernsehdiskussionen), etc. und verändert auch sein/ihr Sexualleben (Masturbation vor dem Bildschirm oder "virtueller Sex" anstatt einer Begegnung mit einem "echten" Menschen). Was hier langsam zum Vorschein kommt, ist ein echtes "post-ödipales" Subjekt, das nicht mehr mit der Vater-Metapher verknüpft ist.
(1) Sigmund Freud, Über die allgemeine Erniedrigung des Liebeslebens (1912), in: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 88. Fischer, Frankfurt/Main 61973 zurück
(2) Jaques Lacan, zit. nach Le seminaire, livre XX: Encore, S. 65. Paris, Editions du Seuil 1975 zurück
(3) Vgl. Leonardo S. Rodriguez, Le False Memory Syndrome, in L'Ane. Le magazine Freudien, No. 57/58, S. 53 f., Paris 1994 zurück
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