Der Cyberspace ist kein Disneyland
'Amy S. Bruckman
Amy S. Bruckman
An die 1200 Menschen beobachteten Peter Gabriel und Laurie Anderson, als sie nervös auf ihren Sitzen hin und her rutschten, Regisseur Peter Sellars dagegen konnte keinen Grund für die Unruhe erkennen, die sich breitmachte. Ort der Handlung war eine Podiumsdiskussion zum Thema "Active Meaning", welche im Oktober 1994 im Rahmen des Symposiums "Digital Expression" im MIT Media Lab stattfand. Der Diskussionsleiter, Komponist Tod Machover referierte gerade über den Standpunkt das Publikum als den eigentlichen Gestalter des Inhalts zu betrachten.
Somit wirkt jeder gestaltend. Wir haben es hier mit einem Paradigmenwechsel zu tun. Oder besser, mit d e m Paradigmenwechsel schlechthin. Die Bezeichnungen "Informationszeitalter” und "Datenautobahnen” sind irreführend. Die Begeisterung für Cyberspace hat absolut nichts mit dem Zugang zu Börsenquoten, Rezepten oder Reiseinfos zu tun, es geht dabei vorrangig um Gemeinschaft und aktive Teilnahme. Einmal im Netz, muß man sich nicht länger anhören, was Moderator Larry King oder Le Monde zu sagen haben, man kann selbst seine Meinung zum besten geben. Man kann den Kontakt mit alten Freunden problemlos aufrecht-erhalten, oder einfach neue Freunde finden, man kann zeigen wer und wie man ist.
Peter Gabriel ist sich dessen bewußt, und darum fühlt er sich auch gar nicht so wohl in seiner Haut. Er ist zwar begeistert von der Vorstellung, daß sein Publikum gestalterisch tätig wird, aber das führt auch unumgänglich zu der Frage, welche Rolle wohl dem Künstler in diesem Zeitalter, wo jeder einzelne zum Künstler wird, zukommt. Natürlich wird der Künstler im traditionellen Sinn nach wie vor gefragt sein. Peter Gabriel braucht sich also keine Sorgen um seine Zukunft machen (Peter Sellars schon eher). Aber der Ruf nach dem neuen Künstler wird immer lauter, jenem Künstler, dessen Kunst darin besteht, die Kreativität anderer zum Vorschein zu bringen.
Wie spornt man die Menschen dazu an, kreativ tätig zu werden und wie gibt man ihnen die Mittel zum Kreativsein an die Hand? Um diese Fragen geht es beim Design von virtuellen communities (Gemeinschaften). Was meine Arbeit im Zusammenhang mit diesen virtuellen Gemeinschaften betrifft, so sehe ich mich als Meta-Designer, als Designer, der für Designer entwirft.
Bei MediaMOO handelt es sich um ein virtual reality environment auf Textbasis, auch MUD genannt, das als community für Medienforscher konzipiert wurde. Seit dem 20. Januar 1993 ist es möglich, Mitglied bei MediaMOO zu werden, bis jetzt wurde diese Möglichkeit von 1000 Teilnehmern aus 29 verschiedenen Ländern wahrgenommen. Und während ich dies schreibe, werden Orte wie "The Distraction Factory”, "Tari’s Very Fashionable Hovel”, "Curtis Common”, "The Panopticum” oder einfach nur "Basement” besiedelt. MediaMoo entsteht durch seine Bewohner.
Um diese Gemeinschaft zu gründen, lud ich eine Gruppe von Menschen mit einem gemeinsamen Interesse – der Zukunft der Medien – ein. Ich stellte unumstößliche Regeln darüber auf, wer beitreten durfte, aber absolut keine darüber, was nach der Aufnahme zu tun sei. Mit der MOO-Software (von Pavel Curtis von Xerox PARC und Stephen White) stand den neuen Mitgliedern eine Sprache zur Verfügung, mittels derer sie agieren konnten. Ich schuf den einen oder anderen Raum, auf dem man aufbauen konnte, und außerdem einige öffentliche "Basis-Räume", um das entsprechende Klima zu schaffen. Darüberhinaus setzte ich ein paar Veranstaltungen an, um die Leute einzustimmen. Und danach ließ ich den Dingen freien Lauf.
MediaMOO wurde einmal als "multikulturelles Chaos" bezeichnet – das war das größte Kompliment, das man mir je gemacht hat. Dieser Kommentar wirft aber auch eine Reihe wichtiger Fragen auf: Wenn sich jeder kreativ betätigt, so fügen sich die Dinge nicht immer zu einem harmonischen Ganzen. So heißt etwa das Haus eines MediaMOO-Mitglieds "Cottonwood Grove", das eines anderen "The Letter ‘U.’", was nicht unbedingt gut zusammenpaßt. Für den postmodernen Menschen stellen derartige Kontraste eine willkommene Abwechslung dar. Was aber, wenn jemand Wert auf etwas mehr Kohärenz legt? Von wesentlicher Bedeutung ist hier der Unterschied zwischen privatem und öffentlichem Raum. In der Privatsphäre ist alles erlaubt, während im öffentlichen Raum gewisse gesellschaftliche Regeln gelten. Jede Gesellschaft muß Regeln und Lenkungsmechanismen für das Verhalten in gemeinsam genutzten Bereichen schaffen. In diesem Zusammenhang fällt mir die Debatte um Richard Serras Skulptur "Tilted Arch" ein. Die Leute, die um die New Yorker City Hall Plaza arbeiteten, bezeichneten die Skulptur als bedrückend, da sie einen riesigen Schatten auf den Platz warf, der zuvor so hell und freundlich gewesen war. Der Künstler konterte, daß es bei dem Werk ja gerade um Unterdrückung ginge. Nachdem man einander über Anwälte einige Gefechte geliefert hatte, wurde die Skulptur entfernt. Die reale Gesellschaft benötigt seit langem solche Mechanismen, die das Zusammenleben im öffentlichen Raum regeln. Die virtuelle Gesellschaft benötigt derartige Mechanismen noch dringender, sie braucht etwas, das Grabenkämpfe im Stil der "ted Arch"-Debatte verhindert.
Auch wenn jeder gestalterisch tätig ist, heißt das nicht, daß alles, was produziert wird, Museumsqualität haben muß. Jede Arbeit ist jedoch wertvoll, sobald sie für irgend jemanden von Bedeutung ist, und sei es nur für den Künstler selbst. Natürlich sind allem Schaffen Grenzen gesetzt, für gewöhnlich sind die finanziellen Mittel limitiert und müssen zugeteilt werden. Bei den meisten MUDs erhält jeder anfangs die Möglichkeit, eine bstimmte Anzahl von Räumen und Dingen zu schaffen; will man mehr machen, muß man sein Anliegen vor einem Verwalter oder einer Prüfungskommission, bestehend aus Mitgliedern der community, vorbringen und begründen. Ausschlaggebend bei der Auswahl sind dann die gesellschaftlichen Spielregeln.
Wenn jeder kreativ tätig wird, kann der Begründer der Gemeinschaft die schöpferische Arbeit nicht mehr kontrollieren. Man kann versuchen, sie seinen eigenen Vorstellungen gemäß zu formen und zu lenken, aber die Benutzer werden einen immer wieder überraschen und erstaunen, indem sie etwas völlig anderes schaffen, als man erwartet. Etwas, das die eigenen Vorstellungen übertrifft oder nicht einmal annähernd an sie herankommt. Die Kontrolle aufzugeben, ist wohl das Schwierigste für den traditionellen Künstler.
Der Meta-Designer stellt eine neue Generation von Künstler dar. Und auf dem Gebiet des Meta-Designs spielt auch der traditionelle Künstler nach wie vor eine wichtige Rolle. Der Ausgangspunkt für Kreativität muß nicht immer eine weiße Leinwand oder ein leerer Bildschirm sein. Ein paar Akkorde aus einem Peter Gabriel-Song, ein Chuck Jones-Sketch, ein Times-Leitartikel oder eine "Raumschiff Enterprise"-Folge können ebenso die Inspiration für Kreativität sein. Was wir brauchen, sind Menschen, die sich der Schaffung von Ausgangspunkten, Werkzeugen und Kontexten für die weitere kreative Arbeit widmen.
Um Menschen zu helfen, kreativ zu sein, muß man sie in erster Linie dabei unterstützen, ihre eigene Kreativität wahrzunehmen und gegen den Impuls, "Das kann ich nicht" zu sagen, anzukämpfen. Abgesehen von entsprechendem Werkzeug und Ausgangspunkten muß man ihnen Vorbilder und Kontakt zu Gleichgesinnten bieten. Manchmal kann der am ehesten helfen, der sich noch vor kurzem mit dem gleichen Problem beschäftigt hat. Und den Impuls, "Das kann ich nicht" zu sagen, bekämpft man am leichtesten, wenn man sich von Menschen umgeben sieht – die so sind wie man selbst (gleichen Alters, gleichen Geschlechts, gleichen ethnischen Hintergrunds) – und die ebenfalls an einem Projekt mitarbeiten, kreativ tätig sind und Spaß daran haben.
Der Cyberspace ist kein Disneyland. Der Cyberspace ist kein auf Hochglanz polierter, perfekter, von professionellen Designern geschaffener Ort, wo das Publikum sich brav in einer Reihe anzustellen hat, um dann irgend etwas vorgesetzt zu bekommen. Der Cyberspace ist eher mit einem Kindermalfest zu vergleichen, wo jeder mitmalt, überall Farbe verkleckert wird und wo Bilder entstehen, die wohl nur bei den Eltern Begeisterung hervorrufen können. Ab und zu aber entstehen Werke, die von den meisten als echte Leistungen empfunden werden. Die Vielfalt der Werke spiegelt die Vielfalt der daran Beteiligten wider. Und alle sind sich einig, daß es nicht um das Endprodukt selbst, sondern eher der kreative Prozeß und die Fähigkeit, sich auszudrücken, im Mittelpunkt stehen.
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