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Festival 1979-2007
 

 

Das Schicksal der Vernunft im globalen Netzwerk: Teleologie, Telegrafie, Telefon, Television, Teleästhetik.


'Timothy Druckrey Timothy Druckrey

Zeit und Raum: seit gestern tot.

Marinetti


I. NETOPOS . . . NICHTOPOS

Der Cyborg würde das Paradies nicht erkennen ...

Donna Haraway

In menschlichen Beziehungen gibt es wenig Feedback, und die Bandbreite ist geringer, als wir annehmen.

Marvin Minsky
Im Diskurs um den Übergang von der Moderne zur Postmoderne haben Raum und Zeit eine beherrschende Stellung inne. Nach Jahrzehnten wissenschaftlicher, kritischer und philosophischer Arbeit steht eine vollständige Theorie vom Ende des Raumes als Folge der Verzeitlichung der Ereignisse aber vorläufig noch aus. Gleichzeitig besitzt der materielle Raum als solches in der Auseinandersetzung mit der Welt eine ungeheure Triebkraft. Der räumliche und zeitliche Faktor stehen in einer offenkundigen Wechselwirkung zueinander.

Während also die Diskussion über die Verbindung der verschiedenen von Zeit und Raum beherrschten Bereiche das kritische Nachdenken über Kultur vorantreibt und behindert, dauern die althergebrachten Widersprüche zwischen nationaler oder sonstiger Identität und Gegenwart an. Der Raum könnte die letzte Grenze sein, aber die Frage der Territorialisierung und Besiedlung des Kommunikationssystems ist bei weitem wesentlicher als die fiktive Dimension des soziologischen Raumes. Trotzdem sind die geographischen Räume der Moderne immer noch fixer Bestandteil der Weltpolitik. Wie für Frederic Jameson die Geschichte, scheint auch der Raum zu "schmerzen".

In seiner Rechtfertigung des Angriffes auf Tschetschenien, einer Intervention im "post-imperialen Raum", sprach der russische Außenminister von einem identitätsstiftenden Territorium, einem historischen Territorium, einem Territorium des Widerstands, die natürlich alle erobert werden sollten. Ironischerweise verweigert sich der amerikanische Präsident Clinton einer Intervention in Bosnien, weil dies einer Verletzung territorialer Souveränität gleichkäme. Gleichzeitig gibt es heftige Diskussionen, aber nicht etwa über die Errichtung des "Informations-Superhighways", sondern über den Ausbau der Transamazonica zwischen Brasilien und Peru, der das Ökosystem und den Regenwald weiter gefährden wird. Zeitungsberichten zufolge hat der brasilianische Präsident Cardoso G 7-Vertretern und führenden Umweltschützern sogar den Handschlag verweigert, mit dem Hinweis: "Wir brauchen keine Einmischung von außen. Wenn uns jemand helfen will, soll er die entsprechende Technik liefern." Die Frage des Zusammenspiels zwischen Technik und Raum ist entscheidend, um das Wesen der elektronischen Kultur auszuloten.

Wenn wir uns tatsächlich an der Schwelle dessen befinden, was Virilio den "Nicht-Ort der teletopologischen Technologien" nennt, bedarf es beim Übergang zu "Darstellungsvektoren" einer Interaktions- und Kommunikationstheorie, die nicht nur auf der rein physischen Gegenwart beruht, sondern auf Telepräsenz. Diese Vektoren nämlich "beeinflussen im elektronischen Interface die Ordnung der Eindrücke". Aus überkommenen Vorstellungen von Öffentlichkeit, der Soziologie der Post-Industrialisierung, der diskursiven Identitätsstiftung einer postmodernen "Gegenwart", der Einbindung, oder besser der vollständigen Integration in die Medienlandschaft der Telekultur, muß sich ein Kommunikationsverhalten entwickeln, dessen Grenzen nicht im physischen Raum festgeschrieben sind. Stattdessen entstehen in den digitalen Territorien eine Neuro-Geographie der Kognition, ein Utopos von Netzwerken, elektronische Rezeptionsweisen und eine post-territoriale Gemeinschaft, deren Materialität ephemer bleibt, sich der räumlichen Einordnung entzieht und deren Gegenwart von ihrer Teilnahme statt von ihrem zufälligen Standort bestimmt wird.

In den letzten zehn Jahren wurde erhebliche Forschungsarbeit in die Entwicklung von Darstellungssystemen investiert, die auf der Verbindung von Kommunikation und Computer beruhen. Von besonderer Bedeutung ist das Aufeinandertreffen von Medien, die Motion Imaging ("verwischte" Bilddarstellung), Hypertext und Ton verbinden und die Entwicklung des Internet. Viele der Diskussionen über die Möglichkeiten von digitaler Bilddarstellung, Hypermedien, Netzwerken und Darstellung liefen sich tot, weil die Entwicklung oder Weiterführung eines entsprechenden Umfelds fehlschlug. Dadurch hat das Verschmelzen dieser Komponenten im Netzwerk etwas von Zwang zur Kohärenz an sich, was eindeutig einen neuen Diskurs erfordert, in welchem die Hypermedien in ein neues Bezugssystem ohne traditionelle Beschränkungen eintreten und das Informationsganze weit über lokale Texteingaben hinausreicht.

Es ist kein Zufall, daß Ende der 40er Jahre unseres Jahrhunderts durch das zwangsläufige Verschmelzen von Mathematik, Physik und Biologie sowie Kybernetik, Kommunikationstheorie und Genetik die Basis für einen totalen Umbruch in der Kultur gelegt wurde, hin zu einer ideologischen Ausrichtung, wenn auch noch nicht hin zur Aktualität des Programmierens und der Algorithmik. Es verwundert auch nicht, daß ein materiell orientiertes industrielles System von einem medienorientierten post-industriellen System abgelöst wurde, in welchem die Bewußtseinsmanipulierung eine größere Rolle spielte. Die Zusammenführung von Fernseh- und Informationstechnologie löste einen sozialen Wandel aus, in dessen Verlauf Fernsehen und Radio das Global Village anscheinend überschwemmten und dabei, so Hans Magnus Enzensberger, eine "reaktionäre Heilslehre" verbreiteten. Aber die McLuhanisierung der Medien – von den magischen Kanälen bis zum Global Village – erfüllte weniger die Imperative vom Verschwinden der Moderne, sondern diente als Spielwiese für die Formulierung utopischer und vielleicht sogar avantgardistischer Konzepte von der Rolle der Medien, die mit den breitangelegten Zielsetzungen des Kalten Krieges verbunden wurden, der den Rahmen für den technologischen Fortschritt abgab. Tatsächlich fehlte bei McLuhan der politische Diskurs auch dann noch, als die brennende Frage nach der Verantwortung der Medien für die Botschaften und deren Träger zentrale Bedeutung erlangte. McLuhan erkannte, daß Fernsehen und Telekommunikation (zumindest auf dem Entwicklungsstand der 70er und frühen 80er) textuelle, visuelle und auditive Komponenten verschmolzen, und ging an die Wiederentdeckung primitiven Denkens, d.h. der multi-kontextuellen Sehweisen von Kulturen ohne Schrift. In gewisser Weise sollte das Global Village die Neudefinierung mündlicher Überlieferungen in der Medienwelt darstellen. Es nimmt nicht wunder, daß die Idee der Homogenisierung über eindeutig festgeschriebene territoriale Grenzen hinweg von soviel Euphorie geprägt schien. Der technologische Imperialismus der westlichen Selbstdarstellung fand in der nicht unlogischen Verknüpfung zwischen Fernsehen und Radio und demokratischem Kapitalismus seine Metapher. Während in den 30ern Reproduzierbarkeit und Massenpsychologie die Vorgaben für die Kulturkritik lieferten und die Übertragungs- und Bewußtseinstechnologien im Fernsehzeitalter nach den 50ern auf dem Tapet waren, bestehen die wesentlichen Fragen vor der Jahrtausendwende aus einer Verbindung von Ausbau verteilten Computerzugriffs, kognitiver Wissenschaft, Genetik und vernetzter Kommunikation. Es ist bezeichnend, daß Enzensbergers Essay über die "Bewußtseinsindustrie" der Begeisterung der Nachkriegszeit für Kybernetik und Informationstheorie, der Erfindung des Transistors und dem Durchbruch in der Genforschung, der Entdeckung der DNS-Struktur, folgte -ebenso wie der Kalte Krieg! Das von Norbert Wiener 1948 veröffentlichte Cybernetics: or Control and Communication in the Animal and the Machine markierte einen Wendepunkt in der Technologieforschung der Nachkriegszeit (euphemistisch – und mit psychoanalytischem Hintergrund – als "militärisch-industrieller Komplex" bezeichnet) und auch einen Markstein für die Computerentwicklung, dessen Metaphern in einer Implosion auf den Bereich des Bewußtseins zurückfallen sollten. Er schrieb: "Im Repertoire des Wissenschaftlers ist jedes Instrument, das er erzeugt, ein potentielles Sinnesorgan" und erkannte damit, daß die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine keine objektive Grenze mehr war, sondern daß es zu einem neuartigen Beziehungsgeflecht kam. Im selben Jahr verfaßten Claude Shannon und Warren Weaver gemeinsam einen Fachartikel, der 1949 unter dem Titel The Mathematical Theory of Communication (dt. Mathematische Grundlagen in der Informationstheorie, 1976) in Buchform erschien. Es war ebenso eine mathematische Analyse des Verhältnisses zwischen Signal und Geräusch wie eine Verbindung der mathematischen Symbolstruktur mit Botschaften auf technischer Ebene.

Das Verschmelzen von Interface, Systematisierung der Kommunikation und Informationstheorie ist nur ein Teilaspekt. Die These von James Watson und Francis Crick aus dem Jahre 1953, daß der Code der DNS als Sequenz von Informationen (die Doppelhelix) aufzufassen sei, schuf ein zusätzliches Bindeglied mit dem neuen Gebiet der Bioinformatik. François Jacob kommentierte die Bedeutung dieser Mitteilung folgendermaßen: "Das Programm ist ein Modell, das von Elektronenrechnern entlehnt wurde. Die genetischen Bausteine eines Eis werden mit dem Magnetband eines Computers gleichgesetzt. Es verlangt eine Reihe von Bedienungsschritten." Das Verschmelzen der Disziplinen zur systematischen Erstellung von Verhaltensstrukturen zielte zweifellos auf die Entwicklung algorithmischer Komponenten, einzelner Codes, deren schlußendliches Ergebnis vielleicht nicht erklärbar, deren Funktion aber trotzdem quantifizierbar wäre. Aber durch die Anwendung mathematischer Grundlagen gelang es noch nicht, die Persönlichkeit zu verändern oder auf rationelle Parameter zurückzuführen, außer in der Konzipierung früher Computermodelle und Expertensysteme, Vorboten von in der Entstehung begriffenen kognitiven und Immersionssystemen. Gleichzeitig führte das Fetischieren der Technologie im Kalten Krieg und später im Raumfahrtprogramm zu einer rastlosen Entwicklung in den Bereichen Computer, Bilder und Nachrichtenwesen (einschließlich der entscheidenden Entwicklung des "Rückgrats" für das Internet durch die DARPA des amerikanisches Verteidigungsministeriums).

Da sie nur sendeten, dienten Fernsehen und Radio als Propagandaplattform des Westens. Durch das Fehlen demokratischer Mitbestimmung entwickelten sich Inhalte, die die westlichen ideologischen Imperative im Kalten Krieg transportierten, während die Technologien weitere Verbreitung fanden. Diese Technologien – Video, frühe Computer und interaktive Medien – stehen am Anfang von alternativen Medienstrategien und Verbreitungssystemen. Tatsächlich aber wurde das Internet, das gegenwärtig so beeindruckende Perspektiven für eine weltweite Kommunikation bietet, vom Verteidigungsministerium entwickelt, um Kommunikation und Datenaustausch international zu gewährleisten. Die Geschichte, Entwicklung und der Schritt zur öffentlichen Zugänglichkeit des Internet stellen eine Saga dar, die erst niedergeschrieben werden muß. Soviel sei gesagt, daß die öffentliche Zugänglichkeit das kulturelle Verhalten in einer Vielzahl von Bereichen in Frage gestellt und zum Entstehen eines Kommunikationsnetzwerkes geführt hat, das sich oft am Rande der Anarchie zu bewegen scheint. Zusammen mit einschneidenden Veränderungen in den Bereichen Graphik, Bildverarbeitung und Animation hat dies zur zweifellos tiefgreifendsten Veränderung in der westlichen Erkenntnistheorie geführt. Wissen, Information und Darstellung wurden mit einer Kommunikationstechnologie verschmolzen, die aktive Teilnahme und freien Zugriff ermöglicht. Verbunden zu sein heißt jetzt, Zugriff zu haben. Henri Lefebvre merkt dazu an:
"Die Erkenntnis befindet sich auf einem Irrweg, wenn sie Darstellungen des Raums als Ausgangspunkt für die Untersuchung des Lebens heranzieht, weil sie dadurch die gelebte Erfahrung einschränkt. Der exakte Gegenstand der Erkenntnis ist die bruchstückhafte und vage Verbindung zwischen detaillierten räumlichen Darstellungen einerseits und gegenständlichen Räumen (zusammen mit ihren Fundamenten) andererseits; und dieses Objekt bedingt (und erklärt) ein Subjekt – jenes Subjekt, in dem gelebte, wahrgenommene und gedachte (erkannte) Erfahrung in einem räumlichen Verständnis zusammenfließen."
Wenn die analoge Welt nicht mehr ausreicht, um die Kultur zu beschreiben, muß man darangehen, jene neuen elektronischen Beschreibungsmöglichkeiten zu bewerten, deren Legitimität sich aus dem Verhältnis zwischen Kultur und Technik ableitet. Sie haben sich zu einem Zeitpunkt entwickelt, an dem die materiell orientierte Metaphysik der Moderne am Verschwinden ist. Das Aufrollen der Moderne begann ja schon in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts, als eine neue Aufklärung Platz griff. Wie in Politik, Wissenschaft und Darstellung gab es für die Moderne in der Zwischenkriegszeit eine Apotheose voller Triumphe und Niederlagen. Was aber die Moderne mit sich brachte, war eine Wissenschaft ohne schlüssige materielle Modelle, eine Politik, die sich am Rande der Vernichtung bewegte und eine hauptsächlich abstrakte Darstellungsweise: eine bewegte Zeit, in der die Formensprache Ausdruck rudimentärer Legitimität und fehlender Autorität war. In der Nachkriegszeit erwuchs eine Krise der Symbolik, die Arthur Miller als "verlorenes Vorstellungsvermögen" beschrieb.

Statt eines Trägers illusorischer "Wahrheiten" in fotografischen Systemen wurde das Bild durch den Computer wieder, wie das Bewußtsein, ein Mittel zur Übertragung von Information. Das Vorstellungsvermögen wurde durch eine Bilddarstellung ersetzt, die eine neue erkenntnistheoretische Facette aufwies. In die verdichtete Darstellung der Infographik ist ein Raum verwoben, in dem Wahrnehmung und Information eins scheinen. In "Diskursanalysen" stellt Friedrich Kittler ein Wechselspiel zwischen Darstellungstechnologie und Informationsarchäologie fest. Das diskursive Netzwerk kann ein Netzwerk von Technologien und Institutionen festlegen, das es einer bestimmten Kultur erlaubt, relevante Daten auszuwählen, zu speichern und zu verarbeiten. Außerdem erkennt Kittler die Grenzen einer bloß rhetorischen Theorie, die nicht durch die Technologie fundiert ist. Der Informationsaustausch war für die Kultur der Moderne wie für ihre Wirtschaft ein enormes Problem. Schreiben, das Festlegen von Zeichen zur Datenübermittlung, hatte katastrophale Folgen für die Beziehung zwischen sich entwickelnder Technik und Kultur. Im Jahr 1900 "veränderte die Möglichkeit, Sinnesdaten aufzuzeichnen, das ganze diskursive Netzwerk … Zum ersten Mal in der Geschichte war das Schreiben nicht mehr gleichbedeutend mit der seriellen Speicherung von Daten. Die technologische Dokumentation der Wirklichkeit trat in Konkurrenz zur symbolischen Erfassung der Symbolik." Die Schwierigkeit, die Kontinuität des Austausches zu gewährleisten, zeigte völlig richtig den semiotischen Charakter des Trägers und der Bedeutung der Information: "Botschaften von einem Medium auf ein anderes zu übertragen, bedeutet stets, sie neuen Normen und Materialien anzupassen. In einem diskursiven Netzwerk erfordert dies, sich der Unterschiede zwischen verschiedenen Kategorien von Sinneseindrücken bewußt zu sein – anstelle der Übertragung tritt notwendigerweise die Transposition." Transposition kann als Metapher für die Entwicklung der Kommunikationstechnologien dienen, die eine Meta-Umgebung schaffen, in der Erfahrungen in Zusammenarbeit gemacht werden. In vernetzten Medien stehen Hypermedien und Diskurs in einem substantiellen Wettstreit miteinander.

Global Village von Marshall McLuhan, Informational City von Manuel Castells und Mentopolis von Marvin Minsky stehen unter und über den fiktiven Städten von William Gibson in Neuromancer und Neal Stephenson in Snowcrash. Castells schreibt:
"Die Tatsache, daß der Schwerpunkt der neuen Technologien in der Informationsverarbeitung liegt, hat weitreichende Folgen für die Beziehung zwischen dem Bereich soziokultureller Symbole und der produktiven Basis der Gesellschaft. Information beruht auf Kultur, und Informationsverarbeitung ist ja eine Manipulation von Symbolen auf der Grundlage vorhandenen Wissens. Wenn die Informationsverarbeitung ein Hauptmerkmal der neuen Produktivkräfte wird, ist die individuelle und kollektive symbolische Aufnahmefähigkeit der Gesellschaft eng mit ihrer Entwicklung verknüpft."
Ein interaktiver elektronischer "Raum" aus Knoten, Servern, Telefonanschlüssen und Faseroptik stellt den Höhepunkt in der Verbindung zwischen Kommunikation und Gemeinschaft dar. Technologien der vernetzten Kommunikation bieten Lösungsansätze für die entwurzelten Kulturen der Moderne und Begegnungsmöglichkeiten mit einer Rückkehr der Polis zu politischem Engagement und diskursiver Zusammenarbeit. In der Auseinandersetzung gleichermaßen mit Ideologie wie Identität ist die Elektropolis mehr als nur ein neuer soziologischer Aspekt. Sie steht für einen Ort, an dem eine neue kulturelle Logik geschaffen wird, unter der Prämisse von Interaktion als Teilnahme und der Wiederherstellung historischer Identität unter den Bedingungen der Postmoderne. Man mag vielleicht glauben, daß die neuen vernetzten Gemeinschaften post-geografisch sind. Sie werden aber vom Imperativ verbunden, Kontinuität zu bewahren inmitten einer nomadischen digitalen Kultur, die für einen ununterbrochenen Kontakt verkabelt, aber vom Gebrauch einer so intimen und mächtigen Technologie befremdet ist. Die durch die Beziehung zwischen der Entwicklung von Kybernetik, Kommunikation, Urbanistik, Identität und dem Netzwerk aufgeworfenen Fragen sind eine gewaltige Herausforderung für die kulturellen Traditionen. Gleichzeitig unterstreichen diese Fragen einmal mehr die Notwendigkeit, über die ganze Rolle der Kultur in einer technologischen Konzeption von Anbindung und verteilten Systemen nachzudenken. Es ist klar, daß Systemtheorien von Kommunikation, Intelligenz, Biologie, Identität, Kollektivität, Demokratie und Politik die Bedeutung digitaler Kulturen nicht zur Gänze abdecken werden. Stattdessen müssen Kommunikationstheorien hinsichtlich Interaktion, Verbreitung und Technologie angepaßt werden. Auf den zahllosen Schauplätzen des Netzwerkes (M00s, MUDS, World Wide Web-Seiten) gibt es Bereiche einer grenzenlosen sozialen Welt, die nicht von virtuellen Wesen, sondern von wirklichen Menschen bevölkert werden, die in realen Organisationen tätig sind. Die geografische Streuung dieser Gemeinschaften ist bedeutungslos. Nach Jacques Attali sind die Grenzen durchlässig geworden. Gemeinschaften sind Schauplätze von Schnittstelle und Diskurs geworden. Der "Raum" des Wissens, der "Raum" und der "Raum" der Wahrnehmung wachsen zusammen. Das Netzwerk durchbricht die Eins-zu-eins-Verbindungen des Telefons und beendet den Imperialismus von Fernsehen und Radio. An deren Stelle tritt ein dynamisches System, in welchem Verteilung mehr als eine ökonomische Größe ist, in welchem die Aufgabe des Ortes nicht bedeutet, daß es keinen Schauplatz mehr gibt, und in welchem Darstellung keinen Realitätsverlust bezeugt.

Es ist schwer, die vielschichtige Problematik dieser raschen sozialen Veränderungen abzuschätzen. Kein kultureller Wandel geschah ohne entsprechende Technologie. Netzwerke, Expertensysteme, künstliche Intelligenz, Immersion, Biogenetik etc. sind die Bereiche, die zukünftige Verhaltensweisen bestimmen. Der Grad des Zusammenspiels mit den Fragen kognitiver Forschung und Darstellung ist von zentraler Bedeutung für die Anstrengungen zur Entwicklung von Hyper-, Inter-, Cyber-, virtuellen und vernetzten Medien. Die Entwicklung von digitalen Medien, Netzwerken und Technologien bildet nämlich die wesentliche Basis sozialer Kommunikation. Und wenn die kulturelle Logik der Technologie bei der Beherrschung eines universellen digitalen Austauschsystems erfolgreich bleibt (was wahrscheinlich ist), bedarf es einer umfassenden Kommunikationskritik, die die kulturelle Bedeutung der Technologie hinsichtlich der ästhetischen und politischen Bedeutungen, die sie ausbildet, berücksichtigt. Natürlich ist auch in den verteilten Systemen der digitalen Kommunikation der Aspekt der Macht wesentlich, weil sie gestreut erscheint: "Die Cyberelite ist heute ein transparentes Wesen, das man sich nur vorstellen kann." (Critical Art Ensemble). Nimmt man dies zusammen mit einer Reihe von Implikationen von Überwachung bis Identität, nimmt die vielschichtige Problematik der elektronischen Kultur ungeheure Dimensionen an. Virilio schreibt dazu:
"Mit der industriellen Verbreitung von visuellen und audiovisuellen Prothesen und dem unmäßigen Gebrauch dieser Gerätschaften zur unmittelbaren Übertragung seit dem frühesten Kindesalter erlebt man von nun an eine immer stärkere Codierung von mentalen Bildern, die kaum noch gespeichert und wiederverwertet werden, einen schnellen Zusammenbruch der mnestischen Konsolidierung, der Erinnerungsfähigkeit.
Das scheint ganz natürlich zu sein, wenn man sich a contrario daran erinnert, daß dem Blick und seiner Organisation von Raum und Zeit beim Erkennen, Wiedererkennen und Erkennenlassen die Geste, das Wort und ihre Koordination vorausgehen, und zwar als Bilder unserer Gedanken, als unsere Gedanken und kognitiven Funktionen, die keine Passivität kennen."


II.
McLuhan und Powers zitieren in der Vorbemerkung zum Global Village aus "Das Haus der Sieben Giebel" von Nathaniel Hawthorne:
"Dann ist da noch die Elektrizität! … Oder habe ich nur geträumt, daß die materielle Welt ein einziger großer Nerv geworden ist, der in Blitzesschnelle Tausende von Meilen durchzittert? … Ist nicht vielmehr der Erdball ein ungeheurer Schädel, ein Gehirn, Instinkt samt Intelligenz! Oder sagen wir, er ist selbst ein Gedanke, nichts sonst, und nicht länger von der stofflichen Beschaffenheit, die wir ihm zugeschrieben haben."
Hawthorne, zweifellos vom Telegrafen inspiriert, erkannte das sich verändernde Umfeld des 19. Jahrhunderts. Der Telegraf, gestützt auf die Entwicklung der Eisenbahn, hat tatsächlich die Grenzen nicht nur des Raumes, sondern auch der Zeit gesprengt. Unvorstellbare Übertragungsgeschwindigkeiten in einem ausgedehnten Netz von Standorten, in einer Sprache, die dem Binärcode vorausging, hat sicherlich "Instinkt samt Intelligenz" und das Ende der "stofflichen Beschaffenheit" als gleichbedeutend mit materieller Gegenwart nahegelegt. Eine große Überraschung war McLuhans Entwicklung einer Kommunikationspraxis, die problematischerweise auf dem technologischen Fortschritt als Maßstab des sozialen Wandels gründete. Soweit politisch, daß die Techno-Logik des westlichen Wirtschaftssystems wieder zu triumphieren schien, unterschied sich das Verhältnis zwischen Medium und Botschaft nicht wesentlich von jenem zwischen Signifikant und Signifikat in der Semiotik. Der codierte Diskurs hat seine Wurzeln in der Forschung des 19. Jahrhunderts, dessen "Beherrschung" der Natur sich in der Technik niederschlug. Die Diskurse über Darstellung, Überwachung, Maschinenbau, Medizin, Physik und Kommunikation sind die Grundlage des theoretischen Rahmens, der unser Verhältnis zur Welt ständig herauszufordern scheint. Und während die großartigen Entwürfe der Moderne so eng mit den Diskursen über Machtpolitik und Beherrschung verbunden waren, schufen und zerstörten sie ihr frisch-fröhlich verfolgtes lineares Fortschrittskonzept. Die lineare und verteilte Natur war keine geeignete Metapher für den Fortschritt. Als die technologische Industrialisierung in den 1920ern einen ersten Höhepunkt erreichte, sagte sie sich vom fehlgeleiteten Prinzip der Entwicklung los, auf dem sie so sehr beruhte. Die Technologie erstellte eine neue Gleichung von Natur und Kultur. Was wir von der Entwicklung der Kommunikationstechnologie, Visualisierung und Darstellung erben, ist eine versteckte, auf Sachverstand gegründete Macht. Den Systemstrukturen der Techno-Wissenschaft sind Herrschaftsmuster inhärent, die die Grundlage der verschiedenen Utopien im Netzwerk darstellen.

Die Geschichte der Verbindung zwischen Technologie, Kommunikation und neuen Darstellungssystemen wird das so nötige grundlegende Verständnis für das Verhältnis zwischen Überwachung und Propaganda liefern, für das zunehmend sichtbare Spektrum, die Folgen der Globalisierung der Medien, den grenzüberschreitenden Austausch. Aber im letzten Jahr stand der Rausch, das Netzwerk zu besiedeln, im Mittelpunkt des Geschehens. Mit einer "Bevölkerung" des Netzwerks, die um 20-30% pro Quartal zunimmt, steigert sich die Entwicklung von kritischen, kreativen und politischen Identitäten in eine Raserei von schwindelerregendem Tempo.

Die Homepage ist zum Ausgangspunkt der Identitätsstiftung im Cyberspace geworden. Unternehmen, Regierung, Medien, Institution – Identität hat nicht notwendigerweise etwas mit der Persönlichkeit zu tun. Tatsächlich zeigt die elektronische Zersplitterung der Persönlichkeit und ihre Substituierung durch eine Art Index schwerwiegende Probleme mit dem Kulturbegriff im Netzwerk auf. Aber die Zahl der Anschlüsse steigt und Fachgrenzen werden gesprengt, was vermuten läßt, daß verteilte Meinungen ebenso ein Gradmesser der sozialen Streuung und Anbindung wie Ausdruck der Identität sind. Die folgenden Abbildungen geben einen kleinen Eindruck von der Vielfalt im Netzwerk.

Information, sei es das "Human Genome"-Projekt, der digitale Superhighway oder die Stadtentwicklung, hat sich – von besitzrechtlichen bis wirtschaftlichen Fragen – zu einem gewichtigen Faktor der Kultur entwickelt. Die Frage, die Castells bei der Stadtplanung angeschnitten hat, ist die gleiche, die Hypertext-Medien aufwerfen. Der diskursive Raum wird zum verteilten Raum. Virilio beschreibt dies als den "Triumph des Sitzens, der Trägheit, des Rückzugs". Das Potential von Hyper-, Inter- und vernetzten Medien zwingt uns, Einflußmöglichkeiten zu finden, die jeden Aspekt der Darstellung mit kulturellen und historischen Elementen verbinden. Es ist die Aufgabe von Hypermedia und interaktiver Kommunikation, dieser öko-systematischen Verbindung Ausdruck zu verleihen.

Das Zusammenfließen von Text, Ton und Bild mit Erzählung, Erkenntnis und Information in interaktiven, vernetzten und Hypermedien, verlagert die Gestaltung des Diskurses hin zu Simulation, Immersion und Netzwerk. Es würde die Untersuchung einer Reihe von Technologien und kulturellen Diskursen erfordern, um den Weg zur Interaktion im 20. Jahrhundert zu verstehen. Lange war dieses Jahrhundert von der brüchigen Kontinuität in Physik, Psychologie, Philosophie, Literatur, Film usw. geprägt. Quantenphysik, diskursive Identität, Phänomenologie, die Literatur des Bewußtseinsstroms, Filmmontage, Fotomontage, wissenschaftliche Visualisierung … neben vielen anderen Brüchen sind sie die Ursache für die Destabilisierung der Erzählung in der Postmoderne. Diese Bereiche werden durch verschiedene Darsteltungsweisen verbunden, die in den digitalen Medien zusammenkommen. Die Wiederentdeckung der Darstellung in der elektronischen Kultur ist der Schlüssel, um die komplexen und subtilen Strukturen der Kommunikation auszumachen. Ausgehend von vernetzten Medien werden Aspekte überdacht oder ausgeweitet, die die einfache semiotische Gestalt von Botschaften umgeben ("Techno-Semiotik", so Brian Rotman), und der "Raum" in der Elekronik untersucht. Die Technologie führt im Produktionsbereich eine systematische mathematisch-rationale Sprache ein, die von der diskursiven Sprache der Kommunikation zu trennen ist. Den kommunikativen und technologischen Diskurs zusammenzubringen ist eine philosophische, intellektuelle, kreative und politische Herausforderung erster Ordnung. Kybernetik, Biologie, künstliche Intelligenz, Simulation, Interaktion, kurz, fast alle Formen kultureller Aktivität spielen sich im Bereich der Technik ab. Ihre Sprachen und Inhalte sind für eine Einschätzung elektronischer Medien von grundlegender Bedeutung. Beim Programmieren wird der Darstellung ein Befehl zugeordnet, während die Sprache Elemente einführt, die die Darstellung erweitert und somit destabilisierend wirkt. Die Neustrukturierung der Bilddarstellung muß sich den Imperativen des Systems digital codierter Botschaften ebenso anpassen wie den ästhetischen Imperativen der Interaktion, deren immanente Bedeutung nicht weniger wichtig ist als jede bisherige Symbolik.

Gleichzeitig entsteht ein differenzierter "Raum", in welchem das Bild über den Bildschirm übertragen wird. Bildschirmgestützte Medien werden aus einer Reihe von Gründen ihre Folgen zeitigen: verteilte Schauplätze der Wahrnehmung, die Problematik des Verhältnisses Mensch-Computer, Umschichtung der Erfahrung, integrierte Anwendung von Text/Ton/Bild und kritische Theorien der Darstellung in der Technokultur. Das Sozialverhalten verlagert sich hin zum Immateriellen, zum Programmierten, zur inhärenten Macht des Mediums. Wie Baudrillard schreibt:
"Einst lebten wir im Imaginären des Spiegels, der Entzweiung und der Ichszene der Andersheit und der Entfremdung. Heute leben wir im Imaginären des Bildschirms, des Interface und der Vervielfältigung, der Kontiguität und Vernetzung. Alle unsere Maschinen sind Bildschirme, wir selbst sind Bildschirme geworden und das Verhältnis der Menschen zueinander ist das von Bildschirmen geworden. Was auf den Bildschirmen erscheint ist nicht dazu ausersehen, tiefgründig entziffert zu werden, sondern soll unverzüglich in einem unmittelbaren Abreagieren, in einem unmittelbaren Kurzschluß der Pole der Repräsentation abgelesen werden."