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Ars Electronica 1995
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Festival 1979-2007
 

 

Gegen eine offizielle zeitgenössische Kunst - für eine zeitgemässe Kunst


'Fred Forest Fred Forest

Es wäre ein großer Irrtum zu glauben, es gebe nur eine bestimmte Realität. Durch die Sichtbarmachung des Unsichtbaren hat uns die Kunst seit jeher gezeigt, daß es – jenseits der unmittelbar wahrnehmbaren Welt – eine Vielzahl virtueller Welten gibt, denen der Künstler mit der Kraft seines Talents und seines Könnens eine Gestalt gibt. Die Wissenschaft selbst hat uns in den letzten 25 Jahren mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß die Realität nichts weiter ist als eine Haut, unter der eine unendliche Reihe anderer Wirklichkeitsebenen liegt. Jene Technologien, die neue Aufgaben in unserer Alltagswelt übernehmen sollten, haben allerdings unsere Wahrnehmung ebendieser Welt verändert, in dem sie uns den Zugang und den Schlüssel zu anderen Formen von Realität gegeben haben. Die vermehrte Nutzung von Geräten zur multisensorischen Visualisierung und Interaktivität auch im privaten Bereich wird dem Einzelnen "virtuelle" Umwelten eröffnen, die der Wissenschaft, der Philosophie und natürlich auch der Kunst neue Gebiete erschließen werden.

DIE NEUEN GRENZEN DES VIRTUELLEN RAUMS
Das Verdienst des Künstlers war es genaugenommen immer, die Welt mit "anderen" Augen zu betrachten, mit mißtrauischen Augen, die uns einerseits an für selbstverständlich genommenen Gewißheiten zweifeln lassen und andererseits eine Realität durch eine andere ersetzen und neue Codes der Darstellung einfordern. Es fällt uns heute sicher leichter zu akzeptieren, daß die Interpretation der Welt unmittelbar mit dem jeweils gegebenen Wissen, mit dem gegebenen Moment und der soziokulturellen Konditionierung zusammenhängt, von denen unsere geistigen Vorstellungen in hohem Maße abhängig sind. Der Status, der dem Begriff der Realität zugewiesen wird, definiert sich immer über die Bestimmung eines bestimmten Moments der Geschichte und des Wissens. Dieser Moment wird von den Menschen der jeweiligen Zeit in Form eines Impulses erfahren, unbeweglich schwebend in der Zeit, die Illusion einer Region der Stabilität, die als erstarrtes Bild erscheint. Die Menschen sind in ihrer jeweiligen Zeit und auf ihrem jeweiligen Niveau oft in einem bestimmten Wissen und in bestimmten Überzeugungen verankert, und nur Persönlichkeiten von besonderer Größe, wie Galileo, haben den Mut, diese anzuzweifeln, auch wenn sie dabei ihr Leben aufs Spiel setzen.

Seit dem Auftreten des Cromagnon-Menschen in der Evolution des Abenteuers "Mensch" haben wir eine Reihe aufeinanderfolgender "Virtualitäten" durchlaufen, die schließlich zu konkreten "Realitäten" wurden. Was sich jedoch schon seit der Erfindung des Rades, besonders aber seit der Verbreitung von elektronischen Geräten und Computern, zu ändern scheint, ist der Umstand, daß das immer schnellere Funktionieren der Mittel begonnen hat, die Bewegung selbst sichtbar zu machen! Das erstarrte Bild des Wissens (und als solches wurde es angesehen) war nicht mehr als eine aus der Begrenztheit unserer Wahrnehmungsgabe resultierende Täuschung. Elektronische Geräte bieten andere Möglichkeiten, ihre Realität zu evaluieren und unsere eigenen geistigen Strukturen zu modifizieren.

Das synthetische Bild verändert unsere Beziehung zur Welt, weil es uns die Möglichkeit gibt, direkt auf virtuelle Welten Einfluß zu nehmen. In der virtuellen Umgebung, in der wir bisher experimentieren konnten, wird das Gefühl der physischen Bewegung von zwei sensorischen Stimuli vermittelt: einer davon basiert auf totalem stereoskopischem Sehen, der andere auf der Wahrnehmung der Muskelreaktion. Das Verhältnis zwischen dem durch das synthetische Bild geschaffenen virtuellen Raum einerseits und dem eigenen Körper andererseits entsteht durch Zellen, die eine enge Verbindung, ja Verschmelzung, zwischen dem Körper und dem virtuellen Raum, in den wir sozusagen eintauchen, schaffen.
EINE ÄSTHETIK DER NETZE
Alle diese elektronischen Einrichtungen, die es uns ermöglichen, das Immaterielle zu sehen und zu berühren, das in gewisser Weise immer "realer" wird, erschaffen rund um uns einen neuen Raum, in dem der Künstler mit neuen Möglichkeiten experimentieren und so neue Modelle schaffen kann, die für immer neues ästhetisches Vergnügen unbedingt notwendig sind. Der bisher so selbstverständliche Begriff des Raumes wird verwandelt und um bisher ungeahnte Aspekte erweitert. Der Kommunikationsraum, in dem wir heute im Alltag leben, ist nicht mehr der klassische Raum, mit dem wir früher experimentierten, sondern vielmehr ein Hybrid, eine symbolische Form, deren Darstellung sich nicht mit herkömmlichen Kriterien erfassen läßt. Die rasante Verbreitung der Kommunikationsmittel, die ein permanenter Teil unserer Umgebung werden, versetzt uns in einen informellen Rahmen, der einen virtuellen Raum mit abstrakten Grenzen markiert. Es ist die Manifestation dieses neuen Raumes, seine Experimenthaftigkeit, für die die Künstler der Gruppe "l'Esthétique de la Communication" (1) durch den Bruch mit visuellen Traditionen unsere Sensibilität und unser Bewußtsein schärfen wollen.

Greifbare Veränderungen unserer Wahrnehmung und unserer Beziehung zur Welt nehmen ihren Ausgang in dieser Position, in unserem ganz alltäglichen Verhalten. Sie bedingen spezifische Systeme und zeugen von der Geburt einer Ästhetik, die "anders" ist, in der der Begriff der Beziehung über dem Konzept des Objekts steht und deren Horizont jenseits des Sichtbaren liegt.

Die Vorstellungen, denen die Künstler von "l'Esthétique de la Communication" (2) sozusagen "Gestalt verleihen" wollen, entstehen jenseits des unmittelbar wahrnehmbaren Realen, jenseits des Sichtbaren, jenseits des üblichen Wahrnehmungsrahmens. Technologie wird zum Instrument einer "Erkenntnis" der Welt, in der das Auge seine Bedeutung als Bezugspunkt verliert und durch elektronische Evaluierungsquellen ersetzt wird. Computergenerierte sowie videographische Darstellungen verdrängen die Materialität der Distanz mit solcher Kraft, daß sie ihr Bezugsobjekt schon fast auflösen. In der derzeitigen Situation – zwischen jenen Repräsentationssystemen, die bereits der Vergangenheit angehören, und jenen, die gerade ihren Platz einnehmen – müssen wir einen Kompromiß finden. Mit der Komplexität der von ihr gesteuerten Prozesse konfrontiert, müssen wir die Verantwortung im Umgang mit einer solchen Situation oft an die Maschine delegieren. Traditionelle Darstellungsformen werden durch einen mittelbaren Ansatz ersetzt, durch den wir direkt in das Zeitalter der Simulation eintreten. Dabei kann unser Körper – in Erfüllung unserer ältesten Mythen – den Raum in einer intimen Erfahrung erkunden, die alle Grenzen unserer physischen Beschränkungen überwindet. Das uns seit frühester Kindheit eigene Raumverständnis ist davon auf grundlegende Weise betroffen, und wir können so neue Wege – mit enormen Möglichkeiten – entdecken. Es geht nicht so sehr darum, daß es schwieriger wird, das Echte vom Falschen, die Realität von der Virtualität zu unterscheiden, sondern daß diese Begriffe einander durch Annäherung einfach immer ähnlicher werden.
DIE KÜNSTLERISCHE HERAUSFORDERUNG
Die Künstler müssen auch in der Konfrontation mit einem gigantischen, für neue Technologien offenen Gebiet der Versuchung billiger Effekthascherei widerstehen. Es bleibt nach wie vor ihre Aufgabe, das Symbolische, das Imaginäre und das Hedonistische zu schaffen. Natürlich können sie auch die Grenze überschreiten und die Seite wechseln. Dabei könnten sie ihre Arbeit weiterführen und faszinierende Werke schaffen, aber sie wären von da an anderswo.

Sie befänden sich, jedenfalls für manche Menschen, außerhalb der Sphäre der Kunst, die dann neu definiert werden müßte. Und warum nicht? Jedem das Seine: es geht nicht nur um eine Frage der Terminologie, sondern um eine rein persönliche Angelegenheit. Die Protagonisten von "l'Esthétique de la Communication" haben sich für die Seite entschieden, auf der sie stehen. Sie arbeiten mit den außergewöhnlichen Möglichkeiten, die uns die neuen Technologien bieten, und nutzen diese Möglichkeiten zur Schaffung einer neuen Art der künstlerischen Erfahrung, die sich an unser zeitgenössisches Empfinden anpaßt. Wie auch Mario Costa in seinem neuen Buch "Le Sublime Technologique" (3) feststellt, schafft "l'Esthétique de la Communication" weder Objekte noch arbeitet die Gruppe an Formen, sondern sie thematisiert das Raum-Zeit-Verhältnis.

Allgemein betrachtet versuchen diese Künstler mit ihren Aktionen auszudrücken, daß wir uns im Zentrum eines globalen Informationsprozesses befinden, dessen komplizierte Funktionsweise den Einzelnen in eine völlig neue Lage versetzt, in der er gezwungen ist, für seine Umgebung und das Repräsentationsmodell einer in konstanter Krise befindlichen Realität neue Formen der Steuerung zu erfinden. Das Ziel des Kommunikationskünstlers ist es, uns verstehen zu helfen, inwieweit der gesamte Bereich unserer Empfindungen betroffen ist und wie diese neuen "Formen des Fühlens" neue Wege der Ästhetik erschließen.
FÜR EINE ZEITGEMÄSSE KUNST
Ich kann an dieser Stelle der zeitgenössischen Kunst, die immer mehr an Prestige verliert, den Vorwurf nicht ersparen, daß sie durch den Markt banalisiert und in quasi exklusiver Weise durch internationale Institutionen gefördert wird (4) . Diese "offizielle" zeitgenössische Kunst ist mittlerweile ausschließlich akademischer und formaler Natur und lebt in einer Art von der übrigen Welt abgeschlossenen Mikroklima der Produzenten und Konsumenten. Es ist eine Art exklusiver Club, völlig abgeschnitten von der Öffentlichkeit und von den Errungenschaften von Wissenschaft und Forschung, die die Menschheit heute vor grundlegende Fragen stellen. Der Künstler dieses "fin de siècle" steht an einem Wendepunkt in der Geschichte unserer Zivilisation, an dem Kategorien, auch jene der Kunst, neu erdacht und neu gelesen werden müssen. Das Ende des linearen Denkens sowie die breite Nutzung der multimedialen Ausdrucksmittel haben eine "Komplexität" geschaffen und zum Ende des Narrativen in der Kunst geführt. Übergangslos werden wir von der "Repräsentation" zur "Präsentation", vom "Sichtbaren" zum "Scheinbaren" katapultiert. Das bedeutet, daß nicht länger die Geste, das Objekt oder das Bild fixiert werden müssen, sondern der Transformationsprozeß, der – ständig im Fluß befindlich – als Ausgangspunkt dient.

Dies bedeutet weiters, daß die Position des Künstlers sich in signifikanter Weise von jener des Beobachters zu jener des "Agierenden" verschiebt, dessen Handeln unsere Wahrnehmung der uns umgebenden Umwelt verändert. Die Impressionisten brachten uns bei, die Landschaft zu "sehen" und zu "fühlen"; der Künstler unserer Zeit lehrt uns, uns unseres technologischen Kontextes bewußt zu werden. Wir sind nicht mehr mit der klassischen Problematik der Kunst konfrontiert, nämlich mit jener der Betrachtung des Sichtbaren, sondern mit der dynamischen Entstehung der Dinge!
Dies trifft besonders auf die Bedeutung zu, die der Künstler schafft, wenn er mit interaktiven Netzen arbeitet, in denen der Begriff des Autors bzw. des Urhebers selbst in Frage gestellt wird.

Beim gegenwärtigen rasanten Wachstum des Wissens kann die Kunst sich nicht weiter nur auf den Lorbeeren der Vergangenheit ausruhen. Wir sind mit neuen Formen des Raumbegriffes konfrontiert, und die Kunst hat plötzlich bewiesen, daß sie ein flexibles Adaptionsinstrument ist, mit dem wir uns in der völlig neuen Situation zurechtfinden können, in der sich die Menschheit heute wiederfindet.

Unsere Beziehung zur Welt wird nie mehr dieselbe sein, seitdem neue Technologien wie Digitalisierung, künstliche Intelligenz, künstliches Leben und die Kommunikationsrevolution in unser Leben eingebrochen sind.
Es bleibt Aufgabe jedes Künstlers, auf seine individuelle Art die ewigen Fragen neu zu stellen und daraus die nötigen Lehren zu ziehen.


(1)
Eine Gruppe von Künstlern, die 1993 von Mario Costa (Professor für Ästhetikgeschichte, Universität Salerno [Italien]) und Fred Forest gegründet wurde. zurück

(2)
Vgl. beispielsweise "Opus International", Nr. 94, Paris 1984; F. Forest: Dissertation, Sorbonne, Paris 1985; "Plus ou moins zéro, manifest de l'Esthétique de la Communication", Nr. 43, Brüssel 1985; Art Press: "Dossier de l'Esthétique de la Communication", Nr. 122, Paris 1988. zurück

(3)
Mario Costa. "Le Sublime Technologique". Edisud, Neapel 1990. Vgl. auch "Dossier Art et technique contemporains", Quaderni, Nr. 21, Herbst 1993, Institut für Politikwissenschaften, Sorbonne, Paris. zurück

(4)
Fred Forest: "Pour qui sonne le glas ou les imposture de l'art contemporain", in: "Dossier Art et techniques contemporains", Quaderni Nr. 21, Herbst 1993, Institut für Politikwissenschaften, Sorbonne, Paris. zurück