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Digital City
Über den Aufbau einer virtuellen Öffentlichkeit

'Geert Lovink Geert Lovink

WAS IST EINE 'DIGITALE STADT'?
Digitale Städte oder 'Freenets' sind frei zugängliche, kostenlose Informationssysteme innerhalb des Internets. Es handelt sich dabei um eine lokale Sammlung 'virtueller Gemeinschaften' (Rheingold), wobei das gemeinsame Interesse die geografische Lage und die Muttersprache ist. Seit Januar 1994 gibt es in Amsterdam eine solche Digitale Stadt. Sie wurde von "De Balie" gegründet, einem Zentrum für Politik, Theater und Kultur, sowie der "Hacktic"-Gruppe (Computerhacker, die den 'XS4all' Internetserver betreiben). Das Ziel war anfänglich, ein Experiment durchzuführen, welches das Verhältnis zwischen den Bürgern und dem Bereich der Politik im elektronischen Zeitalter untersucht. Anlaß waren die Wahlen des Gemeinderats. Bald ging die Entwicklung dahin, die Diskussion über die Planung der "Datenautobahn" in Holland voranzubringen. Für viele war "dds" die erste Bekanntschaft mit dem Internet. Das System brach aufgrund des großen Zuspruchs bald zusammen. Mittlerweile hat dds Amsterdam 20.000 "Bewohner" und bis zu 4000 log-ins pro Tag. Seit Oktober 1994 läuft das System über das World Wide Web, und die Bewohner haben die Möglichkeit, eigene Homepages zu gestalten. Die Version 3.0 (Juni 1995) legt noch mehr Wert auf die individuelle Positionierung der einzelnen Benutzer, um das wachsende System weiter zu differenzieren. Im folgenden Text werden eine Anzahl von Alternativen und Dilemmas dargestellt, um so, ohne Einführung, gleich einen Eindruck davon zu geben, welche Fragen sich bei der Planung öffentlicher Netzsysteme ergeben.
KEIN ELEKTRONISCHES KAUFHAUS, SONDERN PUBLIC DOMAIN
Die Digitale Stadt ist kein in sich geschlossenes Einkaufszentrum oder Ladenpassage. Sie ist ein öffentlicher Raum, der zwar Zugang zu kommerziellen Systemen oder Diensten ermöglicht, selbst jedoch keine Waren aufnötigt oder Mautgebühren an den Zugangspforten erhebt. So wie es nichts kostet, auf der Straße zu laufen, muß auch der Zugang zur Digitalen Stadt frei sein. Es herrscht das Recht der freien Meinungsäußerung. Man kann sich über die 'Straße' in ein anderes System einloggen, in dem man für Information bezahlen muß, aber der öffentliche Raum im Netz hat damit nichts zu tun. Wenn dieser grundlegende Unterschied zwischen öffentlichem Raum und Privatheit nicht gemacht werden kann, gibt es keine Existenzberechtigung mehr für eine Digitale Stadt und sie wird ein Computernetzwerk wie alle anderen. Eine Digitale Stadt kann zwar 'Verkaufsraum' vermieten, darf aber nicht darauf reduziert werden. Kommerzielle Systeme dagegen werden sich von Natur aus nicht mit dem Problem befassen, ob sie ein 'Außen' haben. Sie werden höchstens Werbung für andere machen, indem sie ihnen die Möglichkeit geben, eine Anzeige zu plazieren.

Laut Joost Flint, zusammen mit Marleen Stikker einer der Koordinatoren,ist die digitale Stadt sowohl eine Antwort auf die drohende Kommerzialisierung des Netzes, als auch ein Trendsetter. 'dds' schafft keinen Markt. In dieser Hinsicht sind wir Hippietouristen, die ein fernes Land kennenlernen. Ich hoffe, daß die Digitale Stadt ein Raum für nicht-kommerzielle Information bleibt, mit Gratiszugang und Möglichkeiten, die man in kommerziellen Systemen nicht hat. Es ist angenehm für Menschen zu wissen, daß sie nicht 'gemonitort' werden. Jeder Schritt, den man in einem anderen Internetsystem tut, wird registriert. Die Information wird an eine Direkt-Marketing-Agentur verkauft. Privacy wird ab einem bestimmten Zeitpunkt ein Thema werden."
DIE DIGITALE STADT IST EINE MITAPHER
Rob van der Haar ist einer der Designer des Interface für die Digitale Stadt 3.0. In einem Vortrag mit dem Thema -Die Stadt als Metapher- führt er aus: "Warum sollte man einer elektronischen Umgebung den Namen 'Digitale Stadt' geben? Zunächst einmal, weil er als Metapher dienen kann, er erklärt unbekannte Dinge anhand von bekannten. Das Verhalten der elektronischen Stadt wird daher mehr oder weniger an das Bild (mentales Modell) anschließen müssen, das die Zielgruppe von einer wirklichen Stadt hat. Das bedeutet nicht automatisch, daß eine Digitale Stadt eine exakte Kopie einer wirklichen Stadt werden muß. Im Gegenteil, Phantasiestädte wie Disneyland und symbolische Städte wie 'The Legible City' des Künstlers Jeffrey Shaw sprechen die Phantasie viel mehr an. In manchen Punkten darf eine Digitale Stadt durchaus vom Erwartungsmuster des Benutzers abweichen, gerade Überraschungen und Entdeckungen laden ein, die Stadt öfter zu besuchen."

Ein Teil des Erfolgs der Digitalen Stadt ist sicher ihrem Namen zu verdanken. Die Stadtmetapher fördert nicht nur die Wiedererkennbarkeit, es ist vor altem eine produktive Formel, welche sowohl die Phantasie der Macher als auch der Benutzer reizt. Die 'Stadt' zieht Ideen an und provoziert dazu, wilde Pläne zu schmieden. Diese Metapher erlaubt sowohl die Arbeit an einem strikten, übersichtlichen Plan, in dem Funktionalität und Benutzerfreundlichkeit dominieren, als auch an einem Labyrinth von Gassen und kleinen Straßen, in denen sich dunkle, illegale, abenteuerliche Dinge abspielen. Eine Stadt kann so reich (und so arm) sein wie das Leben. Ausschlußmechanismen können aufgrund der zielbewußten Komplexität der Struktur nicht effektiv durchgeführt werden. Die Unübersichtlichkeit schützt die Bewohner gegen die destruktiven Seiten der Transparenz und der Allgegenwärtigkeit. In der Computerterminologie bedeutet das, daß der kühle, kalte High-Tech durch menschliche Exzesse und nichtvorgesehene Abweichungen gemildert wird. Neben dem Rathaus müssen auch der Sexshop und der Kaffeeshop ihre Annehmlichkeiten anbieten können. Man kann in die Schule gehen, aber auch schwänzen. Die Digitale Stadt muß nicht per se sauber und gesund zu sein. Es muß auch anonyme Plätze geben. Das System wird ständig umgebaut, mit lästigen Baustellen und aufgebrochenen Straßen. In der Literaturkritik ist die Metapher ein vertrautes Problem. Es ist an der Literaturwissenschaft, dieses Wissen in den Cyberspace zu verpflanzen und den Metaphergebrauch innerhalb von Systemen wie Die Digitale Stadt einer kritischen Untersuchung zu unterziehen. Die Stadtmetapher erscheint im Cyberspace zu einem Zeitpunkt, in dem es mit der Stadt Amsterdam als Verwaltungseinheit endgültig vorbei ist und die Stadt sich in der Region ("ROA") auflöst. Selbst in der reaktionären Vorstellung des Stadtstaates sehen wir, daß die Stadt sich als eine verdichtete Infrastruktur redefiniert, zu der auch die weit entfernten Außenbezirke, Flughäfen, Industriegebiete, "edge cities", Autobahnen, Handelszentren und Randgemeinden gerechnet werden. Die frühere Stadt dagegen hatte eine deutliche Grenze (und Identität). Die Digitale Stadt kann nun als zurückgekehrte Metapher einen gewissen Schutz gegen die hochauflösende Fähigkeit der neuen Technologien bieten. Sie hat neben utopischen auch nostalgische Züge. Sie will den vergangenen Glanz der Stadt wieder zum Leben erwecken, nicht indem man gebaute Umgebung mit postmodernen Fassaden versieht oder die Bewachung verstärkt, sondern indem man die Künstlichkeit konsequent ausbaut: digitaler Konstruktivismus.
DIE DIGITALE STADT IST EINE FORM DES ÖFFENTLICHEN RAUMS
Der Amsterdamer Philosoph Rene Boomkens beschäftigt sich seit Jahren mit dem 'Verschwinden des öffentlichen Raums'. "Die Mediatisierung hatte einen anderen Gebrauch von Raum zur Folge, mit Baudrillards Wohnung als Enveloppe als extremes Beispiel. Ein loser Raum zwischen zwei Punkten, in dem von Bewegung keine Rede ist. Der Raum wird kahler und leerer, während der Bildschirm alte Funktionen von Raum verschluckt. Die Metapher vom Menschen als Fortsatz des Steckers geht schon auf den Anfang dieses Jahrhunderts zurück. Man begegnet ihr bei Georg Simmel und Walter Benjamin. Dem belgischen Philosophen Bart Verschaffel zufolge begann der virtuelle Raum mit der Erfindung des Briefkastens. Er ist das erste Objekt im Raum, bei dem die Form eigentlich keine Rolle mehr spielt. Der Schlitz des Briefkastens ist die prähistorische Variante des Steckers.

Die öffentlichen Terminals bilden die Schnittstellen zwischen den wirklichen und virtuellen Städten, die Interfaces zwischen den zwei Vorstellungen von 'cyberspace' und 'öffentlichem Raum'. Seit dem Start der Digitalen Stadt bildeten die öffentlichen Terminals einen essentiellen Bestandteil des Experiments. Auch Menschen ohne Computer sollten Zugang zum System erhalten. Die Digitale Stadt sollte sichtbar werden, fühlbar im materiellen Raum anwesend sein. Die Terminals hatten denn auch ein wohldurchdachtes Design. Die Digitale Stadt kennenzulernen wurde attraktiv gemacht. Andernorts hat man einen Schritt weiter gemacht und 'Cybercafés' eröffnet,wo eine ganze Reihe von Terminals beisammen stehen, und wo man Hilfe bei der Benutzung des Net erhält. Joost Flint sieht jedoch keinen Zusammenhang zwischen den Veränderungen in den öffentlichen Räumen und der Einrichtung digitaler Städte. "Wenn Menschen sich in den virtuellen Raum begeben, weil es auf der Straße nicht mehr sicher ist, muß man meiner Meinung nach sofort mit der Digitalen Stadt aufhören. Lokale Behörden betrachten solche Systeme üblicherweise als eine Möglichkeit, Information zu verbreiten und die Bürger an der Verwaltung zu beteiligen. Für sie ist es ein Kanal und sie sehen keinen Zusammenhang mit dem öffentlichen Raum."
IST DIE DIGITALE STADT EIN MEDIUM ODER EIN FORUM?
Die Digitale Stadt möchte (ebenso wie das politisch-kulturelle Zentrum "De Balie" und "XS4all") selbst keinen inhaltlichen Standpunkt einnehmen, sondern die öffentliche Debatte stimulieren und organisieren. Sie möchte keine Partei wählen, sondern die Spieler in einer gesellschaftlichen Angelegenheit an einen Tisch bringen. In bezug auf die Gestaltung (oder 'Kunst') der Debatte ist schon viel Erfahrung gesammelt worden, und dieses Wissen sehen wir in der Digitalen Stadt zurückkehren. Durch die Betonung der Plattformfunktion wurde verhindert, daß das System vornehmlich selbst Information generiert. Was getan wurde, war, die verschiedensten Informationsströme in Richtung 'dds' in Gang zu bringen, Information, die meist schon in digitaler Form existierte und manchmal sogar schon in einem Netzwerk vorlag.

Die Digitale Stadt ist von den Verbindungen her global, was die Sprache angeht national und was seine Ausgangsinformation betrifft lokal. In der ersten Phase dominierten letztendlich die globalen Möglichkeiten. Joost Flint: "Die Digitale Stadt hat eine lokale Funktion, aber ich glaube nicht, daß diese am Anfang von geringerer Wichtigkeit war. Alle stimmen darin überein, daß die Kommunikation mit Politikern in den ersten Monaten fehlgeschlagen ist. Aber das fand niemand schlimm. Das Experiment war durch die Tatsache legitimiert, daß lokale Wahlen stattfanden. Die Kluft zwischen Bürgern und lokaler Verwaltung war das einzige Argument, das dazu führte, daß Gelder bereitgestellt wurden. Wenn wir gesagt hätten, daß es gut wäre, wenn jeder das Internet kennenlernt, wären wir jetzt noch am Diskutieren. Noch vor einem Jahr wollte der Staat keine Information auf dem Internet zur Verfügung stellen und seine Post nicht damit versenden. Das hat sich geändert.

Sowohl lokale, nationale als auch internationale Rundfunkorganisationen haben Dokumentarsendungen über 'dds' gemacht. In diesem Sinn ist die Digitale Stadt ein "Katalysator für eine umfassende Aufklärung über die Möglichkeiten der Datenkommunikation gewesen." Ohne die ganze Publicity wäre die Digitale Stadt nicht ein solcher Erfolg geworden. Noch stets ist die Präsentation des Projekts in anderen Medien eine wichtige Aufgabe. Aber ist die Digitale Stadt nicht auch selbst ein Medium, das über sich selbst berichten kann, ohne Fernsehen oder Radio? Die Datennetzwerke sind Bestandteile der Medien im weitesten Sinne des Wortes. Als neues Medium sind sie über technische und ideologische Schaltungen an die alten Medien gekoppelt. Wir finden das Radio wieder in Form des Internet Talk Radio. Video und Fernsehen in den Quick Time Movies, das 'Gutenberg Projekt' kümmert sich um die Digitalisierung von Büchern, Zeitungen bringen ihre Ausgaben ins Netz. Gemälde werden gescannt und im World Wide Web veröffentlicht, eine Vielheit von digitalisierten Fotos macht die Runde. Das ist, was Friedrich Kittler das 'Medienverbundsystem' nennt.

Solche Verbindungen zwischen verschiedenen Datenströmen herzustellen scheint eine rein technische Angelegenheit. Aber hinter der Wahl der Daten versteckt sich eine solide redaktionelle Politik. Dennoch teilt das 'Handboek Digitale Steden' (Februar 1995), geschrieben im Auftrag des Wirtschaftsministeriums, nicht mit, daß es so etwas wie eine Redaktion gibt. Die Digitale Stadt will nämlich nicht die soundsovielste Zeitung sein … noch so eine Gruppe, die Sendungen betreut. Die Redaktion von Computersystemen ist ein noch nicht definiertes Gebiet. Sobald das Netzwerk nicht mehr weiter wächst und die Verbindungen gelegt sind, kehrt die Medieneigenschaft wieder zurück.

Joost Flint: "Für mich ist die Digitale Stadt kein Medium und hat auch keine Redaktion. Wohl hat es eine Betriebszeitung. Die Stadtmetapher ist manchmal verwirrend. Das System ist, wenn man so will, nicht demokratisch organisiert. Es ist ein Projekt, daß beinahe wie ein Betrieb geleitet wird. Die Gruppe, die ihn betreibt, bestimmt vor allem die Randbedingungen ('nicht höher bauen als 1 MB … '). Aber wir wollen nicht bestimmen, welche Information wohin geht. Einige Benutzer meinen, daß sie das letzte Wort haben müssen. Ich lese die Zeitung, aber mache dieser Zeitung nicht ihr Eigentum streitig. Ich gehe in die Bibliothek, aber fühle mich nicht wie ihr Besitzer. Es ist ärgerlich,wenn eine kleine Gruppe dir streitig macht, daß du die Verfügungsgewalt über eine Einrichtung hast, die gratis angeboten wird."

Die Digitale Stadt hat ein leeres Zentrum, um das virtuelle Gemeinschaften gruppiert sind. Aber 'dds' ist selbst keine Gruppe mit einem erkennbaren Stil. Bewohner können nicht gezwungen werden, miteinander zu diskutieren, und dann hofft man, daß sie etwas hinkriegen. Die virtuellen Gemeinschaften, die entstehen, werden sich dann auch sicher am Anfang im Schatten des Systems aufhalten. Kommunikation kann nicht von oben geplant werden, und auch ein attraktives Design bietet keine Garantie. Die Digitale Stadt wird immer Kinderkrankheiten haben. Das Netz ist ein 'instabiles Medium' (V-2) par excellence, das sich fortwährend erneuert. Die Benutzer werden sich daran gewöhnen und ihren Vorteil daraus ziehen. Das permanente Upgrading sorgt ebenfalls dafür, daß die Bewohner neugierig bleiben und ins System zurückkehren. Joost Flint vermutet, daß das Interface sich immer wieder verändern wird. "Es wird immer persönlicher werden. Vielleicht kann man bald angeben, wen man als Freund betrachtet, damit man Bekannte in der Stadt suchen kann. Oder daß man sehen kann, wo etwas los ist. Eine Stadt, die tagsüber anders ist als nachts. Die Nachfolger von Netscape werden es viel einfacher machen, bewegte Bilder sehen zu lassen. Vorläufig werden Internet und Digitale Stadt noch via Telefon reinkommen, bewegte Bilder und Möglichkeiten zum Senden sollen kommen."

Es sollte erwogen werden. ob Informations- und Kommunikationssysteme entworfen werden können, die eine völlig andere Richtung einschlagen und von jeder Metapher absehen. Wenn Cyberspace erwachsen werden will, wird er sich von irdischen und historischen Metaphern emanzipieren müssen und ein eigenes System von Regeln und Bräuchen entwickeln, das nicht mehr auf das 'wirkliche Leben' referiert. Kommentatoren der Digitalen Stadt finden die gebotenen Optionen vielfach banal und wenig phantasievoll. Sie finden es etwas zu einfach, die existierende Umgebung zu kopieren. Überdies ist die 'Stadt' etwas, das man besucht, nicht etwas, wo man 'wohnt'. Der offene Charakter einer Stadt bedeutet, daß man extra viel Mühe darauf verwenden muß, sich Zuhause zu fühlen und zu einer Diskussion oder einer anderen öffentlichen Aktivität beizutragen. Es ist nicht sicher, daß 'die Stadt' ohne weiteres zu einer bleibenden Identifikation führt, sicher nicht,wenn die 'Freenets' sich mehr und mehr zu einem virtuellen Schalter für Verwaltungsdienste wie Finanzamt, Rathaus und Polizei wandeln.

Übersetzung aus dem Niederländischen: Petra Ilyes