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Villa


'Steffen Wernery Steffen Wernery

AUDIOREALITY – DER RAUM IST SIMULIERT – DIE MENSCHEN SIND ECHT
AudioLand International

Cyberspace muß nicht immer kompliziert sein. Es geht auch ohne Modem und Computer, ohne Datenhelm und Grabberhandschuh. AudioReality ist Cyberspace nur für die Ohren. Für jedermann bundesweit erreichbar mit einem gewöhnlichen Tastentelefon.

Technologie-Faszination hin und her. Unsere Vision war es nicht, Menschen mit Maschinen sprechen zu lassen. Wir wollten Menschen miteinander sprechen lassen – von einer ausgeklügelten neuen Technologie unterstützt. AudioReality ist so etwas wie ein "Windows fürs Telefon" – ein neuer Standard für die Orientierung in komplexen Systemen über das Medium Telefon. Die Telefontastatur wird wie ein Steuerknüppel (Maus) dazu verwendet, bestimmte Orte (Fenster) aufzusuchen. Kein langes Hangeln durch Menüs, sondern einfaches "Bewegen" in einem virtuellen dreidimensionalen Raum. So wie man es gewohnt ist. Die Simulation orientiert sich so nah wie möglich an der Realität. Ist der Fahrstuhl gerade nicht da, muß man eben warten, bis er kommt. Steht man dann drin und jemand anders drückt den Knopf, dann fährt man natürlich mit.

Die Saat ist aufgegangen. Bei den "Villanauten", so nennen sich die Besucher unseres virtuellen Hauses, hat das System schon lange Zeit Kultstatus. Gut die Hälfte der Stammgäste sind Frauen. Nicht zuletzt wegen des bewußt untechnischen und ziemlich schrillen Ambientes. Überhaupt vergißt man bei der lockeren und intuitiven Systemgestaltung sehr schnell, daß man ja eigentlich Zuhause am Telefon sitzt. Das ist natürlich gewollt, denn das "Abtauchen" in eine andere Realität macht gerade den besonderen Reiz dieses Mediums aus.

Es wäre nicht weiter aufregend, einen Computer anzurufen, nur weil da auch eine ganze Menge anderer Leute anrufen. Sowas gab es ja auch schon vorher. Der Thrill von AudioReality entsteht durch etwas ganz anderes, neues. Es ist die lebendige Selbstmoderation des Systems: Die Anrufer sind nicht auf irgendeiner Telefonleitung sich selbst überlassen, sondern werden einander automatisch vorgestellt, bewegen sich gemeinsam in einem virtuellen Raum, hören sich gegenseitig kommen und gehen, können sich "hintenrum" Botschaften zusenden oder öffentlich miteinander reden.

Stammgäste können sich ihren eigenen Mikrokosmos innerhalb des Systems schaffen. Sie richten sich einen Schreibtisch ein, auf dem sie auch während ihrer Abwesenheit Mitteilungen empfangen können. Mit viel Fantasie und Ehrgeiz wird die eigene akustische Visitenkarte gestaltet, für den Fall, daß sich ein Neuling erst einmal unverbindlich informieren will. In den öffentlichen Foren werden Liebesgeständnisse, Nonsens und Tratsch übereinander verbreitet, denn die meisten Villanauten kennen sich bereits nach wenigen Tagen persönlich. Die Villa-"Szene" ist schon eine richtige kleine Subkultur im und um das System geworden. Man kann ohne Bedenken behaupten: Die Villa lebt!

Über den enthusiastischen Sturm auf dieses neue Medium waren wir zunächst verwundert. Die Gründe liegen jedoch ganz klar auf der Hand. Unser modernes Leben bietet nicht gerade ein gutes Umfeld für zwanglose Begegnungen. Dort, wo solche Begegnungen möglich wären, sind sie schon allzu genau vorgezeichnet. Die Villa füllt da eine ziemlich große Lücke zwischen privater Abgeschiedenheit und kontaktfreudiger Geselligkeit. Hier kann man auch spät in der Nacht noch reinschauen und sich unteres Volk mischen, auch wenn man schon im Bett liegt. Wer keine Lust mehr hat, legt einfach auf.

Das Bedürfnis, das durch die Villa abgedeckt wird, scheint ein ziemlich grundlegendes zu sein, denn bei den stundenlangen Aufenthaltszeiten der Besucher mußten wir uns bereits selbst als Verbraucherschützer betätigen und ein tägliches Zeitlimit einführen. Kein Wunder also, daß die Bude ausgerechnet immer kurz nach Mitternacht aus den Nähten platzt, wenn das Limit automatisch zurückgesetzt wird.

Inzwischen gibt es auch einen günstigeren Zugang zum System. Stammgäste können direkt bei Audioland ein Minutenkonto einrichten, einen beliebigen Betrag einzahlen und dann über eine normale Hamburger Telefonnummer die erworbene Zeit nutzen.

Die Villa ist inzwischen nicht mehr die weltweit einzige AudioReality. Wir haben ihr nämlich eine große Schwester hinter den Mond gehängt – die Raumstation Starbase 49. Ein riesiger Stahlkoloß mit zwölf Decks und einem großen Hangar, in dem Piloten mit ihren eigenen Raumschiffen landen können. Der Clou: Jeder kann sein Raumschiff mit eigenen charakteristischen Geräuschen selbst gestalten. Damit wird das ohnehin schon zu 100% interaktive Medium noch ein Stück interaktiver: Die User programmieren bei uns schon mit.

Villa und Starbase werden von der Hamburger Firma Audioland betrieben.
Audioland entwickelte die Spezialsoftware selbst.