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TAI-TENDO


' Stichting Rainstick Stichting Rainstick

TAI-TENDO
Ein nettes auditives Kampfspiel für die ganze Familie

Tai-Tendo ist eine interaktive Klanginstallation in Form eines Spieles. Zwei Wagen mit Sitz, ein Monitor und eine "Klang-Kanone", die – gesteuert durch einen Joystick – Klänge und Töne abfeuert. Was anfänglich wie ein simples Kriegsspiel aussieht, entwickelt sich zu etwas ganz anderem. Nach einer Weile hat der Spieler das Gefühl, als sitze er auf einem Musikinstrument.

Der "Nintendo-Effekt", wie wir ihn nennen, verleitet den Spieler dazu, Neues auszuprobieren. So sagt ein Spieler vielleicht nach einer gewissen Zeit: "Jetzt habe ich herausgefunden, wie sich ein Baum anhört." Die Joystickbewegungen werden nämlich auf einem Monitor aufgezeichnet. So könnte ein Spieler versucht sein, einen Baum zu zeichnen und sich das Klangbild, das die Musikinstrumente im System schaffen, anzuhören. Tai-Tendo hat ganz eindeutig die Absicht, einen anderen Zugang zu Klang wiederzuerwecken, ähnlich dem Gefühl, das wir alle hatten, als wir als Dreijährige zum ersten Mal versuchten, Klavier zu spielen. Denn das Spiel kann auch von jemandem gespielt werden, der keinerlei musikalische Erfahrung hat, auch wenn jede einzelne Erfahrung hörbar gemacht werden kann.

Über den Joystick hat jeder Spieler die Möglichkeit die Art des Klanges (horizontal), seine Tonhöhe (vertikal) und seine Richtung (mit der Horizontale verbunden) zu steuern. Beim Abschießen des Klanges zeichnet der Monitor die momentane Position des Joysticks auf. So entstehen während des Spiels Zeichnungen und so kann man auf einen bestimmten Punkt zurückgehen, um Klänge zurückzuverfolgen. Etwas tückisch ist jedoch die Richtung des Tones. Bei horizontalen Bewegungen des Joysticks bewegt sich der Wagen nur nach links oder nach rechts. Der Spieler, der einen Ton zurückverfolgt, findet sich also nicht notwendigerweise in derselben Richtung wieder, wodurch das Spiel weniger vorhersehbar wird.

Drei Arten von Klängen und Tönen sind im System gespeichert:
  • Klänge von Musikinstrumenten kommen aus zwei elektronischen Klangmodulen. Die zwei Klangkanonen sind unterschiedlich instrumentiert, mit einem Satz westlicher und einem Satz östlicher Instrumente. Obwohl das Ergebnis vom Input des Spielers abhängt, wird er diesen nicht immer direkt als solchen wiedererkennen.


  • Fragmente berühmter Reden werden über Lautsprecher an der Decke übertragen, am Spielbeginn und am Spielende.


  • Als drittes wird ganz Leise Hintergrundmusik ("Once upon a time in the West") von der Decke herab gespielt und manchmal während des Spiels oder in den Spielpausen zu hören sein.
Diese Hintergrundmusik (und die Reden) bauen ein räumliches Bewußtsein auf und kritisieren zur selben Zeit den "Kampf um den Raum", mit der Möglichkeit, uns wie Hintergrundmusik in Liften oder Supermärkten in das Spiel hinein- oder aus ihm herauszuziehen.

Einer der Spieler ist nur virtuell präsent und spielt das Spiel aus der Ferne via Internet. Jeder, der die notwendige Software auf seinen Computer heruntertädt, kann sich in das Spiel einloggen. Der physische Spielort besteht aus den zwei Wagen, einer davon wird vom Spieler im Netz gesteuert und bewegt. Die Midi-Befehle werden über das Netz gesendet. Die Software des abwesenden Spielers führt dieselben Berechnungen durch wie die Recheneinheit am physischen Spielort. Sie zeigt die letzte Position der Wagen und die Zeichnungen beider Spieler. Den Ton liefert ein Midi-Modul (Stereo; man selbst: rechts; der andere: links). Damit soll der Mangel an Umfeldinformation für den Fernspieler ausgeglichen werden, weshalb auch eine interne Stimme Informationen gibt.

Normalerweise profitieren zwei Musiker von der körperlichen Anwesenheit des anderen. Das, so weiß man, beeinflußt die Qualität des Spieles – zwischen den beiden besteht eine Verbindung im Unbewußten. Was könnte das in diesem Fall bedeuten,wenn aufgrund der Abwesenheit eines der Spieler eine solche Meta-Verbindung nicht zustande kommt? Das ist eine der möglichen Fragen, die Tai-Tendo aufwerfen könnte. In welchem Raum müssen wir sein, um einander zu lieben oder zu bekriegen?

Peter Jongelie, Ed Bezem
STICHTING RAINSTICK
Stichting Rainstick ist eine Gruppe, die sich vorwiegend mit räumlichem Klang beschäftigt. Die Arbeit an diesem Projekt begann vor zwei Jahren, nachdem die Beteiligung an anderen Kunstprojekten zur gemeinsamen Erkenntnis geführt hatte, daß nur eine unabhängigere Behandlung des Themas Raum dieses auch vorantreiben könne. Rainstick hieß das Musikinstrument, das die Idee für ein erstes Projekt lieferte und der Gruppe auch ihren Namen gab. Das Instrument ist ein gutes Beispiel für eine winzige und doch komplexe Welt räumlicher Klanginformationen. Das Projekt ist noch nicht abgeschlossen und dient als Forschungsmodell.

Die verschiedenen Forschungsaspekte werden nun in interaktiven Kunstprojektenoder Plastiken dargestellt, die dem Besucher die Möglichkeit bieten, weiter zu forschen. Neue Computerentwicklungen lassen sich auf den verschiedensten Gebieten beobachten. Sie können unseren Horizont erweitern, noch bevor wir an bereits bestehende Grenzen gestoßen sind. "Raum" ist eines der Themen, die zur Neuinterpretation einladen. Der wachsende Mangel an (physischem und geistigem) Raum mag Ursache sein für die aktuelle Suche nach neuen Gebieten.

Auch die Musik entzieht sich dieser Entwicklung nicht. Viele zeitgenössische Komponisten beziehen den Raum in ihre Werke ein, was an und für sich nichts Neues ist. Schon in gregorianischen Wechselgesängen oder in den Werken von Gabrieli und Berlioz begegnen wir dem bewußten Einsatz von Raum. Komponisten wie Stockhausen und Boulez liefern uns moderne Beispiele. Erstaunlich jedoch ist, daß "Raum" in der zeitgenössischen Musik äußerst wörtlich eingesetzt und interpretiert wird. Obwohl viele sich mit "Musik im Raum" beschäftigen, bleibt doch die Frage unbeantwortet, ob das Publikum den Absichten des Komponisten auch folgen kann. Der wörtliche Umgang mit Raum in der Musik er scheint umso bemerkenswerter, vergleicht man ihn mit der Entwicklung des virtuellen Raumes, in Computernetzen wie dem Internet etwa. Hier wird das "Raum-Problem" ganz anders angegangen, mit einem Ansatz, der der Musikwelt fremd ist und deshalb verdient, genauer untersucht zu werden. Die Kombination beider Räume, des realen und des virtuellen, stellt den Menschen vor Kontraste und Parallelen. Diese können sich für die nachfolgende Umsetzung in der Musik als äußerst wichtig erweisen.

Neue Einsichten können wir nur gewinnen, wenn wir den angebotenen modernen Technologien aufmerksam gegenüber stehen. Das heißt auch, daß wir sie zu unserem täglichen Leben in Beziehung setzen müssen.

Interaktivität könnte ein Lösungsansatz sein, weil die Menschen so in die aktuellen technischen Entwicklungen einbezogen werden. Bietet man Personen mit wenig Erfahrung oder Interesse die Möglichkeit, mit den neuen Technologien zu spielen, kann vielleicht ihre Haltung gegenüber dem als gefährlich empfundenen technologischen Wandel ebenso geändert werden wie der Umgang des Künstlers mit dem Material.

Der Erfahrungsaustausch führt zu neuen Ideen, von denen sowohl der Schaffende als auch das Publikum profitieren können. Wird es dem Publikum ermöglicht, sich gemeinsam mit dem Künstler zu entwickeln, kann sich ein gesunder Pfad zur spirituellen Bereicherung auftun, der dem Verständnismangel entgegenwirkt. Dem Musikpublikum wird nach wie vor ein Produkt vorgesetzt, an dem es nicht teilhaben konnte: andere Disziplinen zeigen jedoch, daß ein Bedürfnis nach eben dieser Teilhabe besteht. Stichting Rainstick will den Dialog mit der Öffentlichkeit durch interaktive Klangplastiken herstellen. In den entstehenden "Räumen" kann der Besucher eigenständig nach Hörerfahrungen suchen. Die Installation lädt ihn ein, sich bewußt mit Technologien der Klangmaniputation und Interaktion und den möglichen Auswirkungen auf die Musik auseinanderzusetzen. Das hier präsentierte Tai-Tendo ist ein Beispiel dafür, wie man sich dem Gedankenaustausch über das "Raum-Problem" nähern kann.