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Festival 1979-2007
 

 

The File Room


'Antonio Muntadas Antonio Muntadas

Seit mehr als 20 Jahren verwirklicht der Spanier Antonio Muntadas bemerkenswert komplexe Installationen, deren Inhalt – die Analyse der kulturellen und politischen Machtinstitutionen – sich mit dem jeweiligen Präsentationsumfeld verändert. Dieser nomadenhafte Zug prägt Werk und Werdegang des Künstlers, doch innerhalb der für ihn charakteristischen strukturellen Muster verneint das Werk sofort seine eigene Wandlungsfähigkeit und manifestiert oder rekontextualisiert sich in der Form der behandelten Institution. Projekte, die für Museumsbesucher bestimmt sind, wie z.B. Between the Frames (1983–1993) sowie Arbeiten für öffentliche Räume werden auf das erwartete Publikum abgestimmt. Das permanente Erscheinungsbild der Installationen, deren architektonische Raffinesse ins Auge sticht und häufig Eleganz ausstrahlt, täuscht über die Informationsmasse hinweg, die sich in ihrem Inneren entwickelt. Weitere Bedeutungsebenen werden durch die Gestaltung dieser architektonischen Objekte enthüllt, denn sie wurden auf ihre semiotische Wirkung hin konzeptualisiert und nicht bloß als Rahmen für jene Begebenheiten, an denen sie Kritik üben. Muntadas’ jüngstes Projekt ist der File Room, der sich mit der reichhaltigen Geschichte der Zensur beschäftigt. Vor fünf Jahren begann der Künstler, sich mit Zensur auseinanderzusetzen und in seiner Vorstellung wurde sie zum Raum, der bürokratische Abschottungen suggeriert; düstere Kammern, die verbotenes Material beanspruchen. Ich bin überzeugt, daß Muntadas Arbeit eher einem postmodernen Impuls der Wiederverwertung und Neuherstellung entspringt als dem utopischen Drang nach Rettung und Bekräftigung. Die bedrückenden Wände aus schwarzen Aktenschubladen und die tiefhängenden Lampenhalterungen im File Room verleihen der unheimlichen Arena der Zensur materielle Gegenwart. Wie der Künstler selbst nimmt der Betrachter an einer bewußten politischen Darbietung teil, wenn er am Computerterminal nach Beispielen für Zensur sucht oder sich entschließt, seinen eigenen Fall zu archivieren.

Für die Präsentation in Chicago wurde im ersten Stock des Cultural Center eine aus 138 schwarzen Aktenschränken mit 552 Schubladen bestehende Kammer errichtet. Die interaktive Komponente besteht aus 7 Farbcomputerbildschirmen, die in diversen Aktenschränken installiert und mit einer zentralen Station verbunden sind. An diesen Terminals hat man durch Anklicken Zugriff auf die nach Ort, Zeit, Medium und Zensurgründen geordneten Fälle. Im Zentrum des Raumes steht ein Tisch mit einem weiteren Computer, an dem die Besucher ihre eigenen Fälle eingeben können. Das Projekt wurde im Mai 1994 mit über 400 Einträgen zum Thema Zensur eröffnet, die einen Zeitraum von der Antike bis zur Gegenwart umfassen. Zum Stichwort Theater beispielsweise listet der File Room eine Reihe von Fällen auf, in denen klassische Stücke des Aristophanes aus Gründen der Obszönität oder wegen kriegsfeindlicher Themen zensiert wurden. Diese Fälle reichen vom 5. vorchristlichen Jahrhundert bis ins Athen des Jahres 1967. Ein weiteres Beispiel aus der Literatur sind die Satanischen Verse von Salman Rushdie. Jüngste Einträge aus dem Bereich der Populärkultur beinhalten etwa die Aufforderung des Talkshowmoderators Ed Sullivan an Jim Morrison von den Doors, eine Textzeile aus "Light my Fire" zu ändern, oder auch das Verbot von Steven Spielbergs Film "Schindlers Liste" in Jordanien. Im Bereich der persönlichen Erfahrungen findet sich der Versuch der öffentlichen Schulen von Chicago, Unterlagen zu konfiszieren, die die Coalition for Positive Sexuality an Mittelschüler verteilt hatte. Einträge können auch über das Internet erfolgen. Neue, weltweit über das Internet verstreute Text- und Bildarchive können im File Room über Hypertext-Verzweigungen abgerufen werden. Täglich klinken sich hunderte User aus der ganzen Welt ein. Ursprünglich Privates wird öffentlich, und die Menschen im Publikum werden zu Archivaren und Konsumenten einer immer größer werdenden Ansammlung von Quellenmaterial. Archive werden eröffnet, wenn Personengruppen (Familien, Städte usw.) Material gesammelt haben, das bestimmte Aktivitäten oder Ereignisse dokumentiert. Zwar sind archivarische Methoden der Aufzeichnung systematischer als das Schreiben eines Tagebuches oder das Verfassen von Reiseberichten, doch werden auch sie vom Wunsch getragen, Ereignisse herauszustreichen oder etwas für die Nachwelt aufzubewahren. Egal, ob es sich nun um persönliche oder um politische Archive handelt, sie alle haben ihre Wurzeln in der Antike und werden im Bewußtsein erstellt, daß jedes Ereignis aufzeichnungswürdig ist und verdient, daß sich die Zukunft damit auseinandersetzt. Aufzeichnungen haben Beweiskraft: in der Gegenwart gesammeltes Quellenmaterial für künftige Geschichtsforscher dient als Tatsachenbeweis für Vergangenes. Als Gegenstück zur Institution des Archivs hat die Zensur eine ebenso lange Geschichte, doch steht sie für Auslöschung und Streichung aus dem Gedächtnis. Das Bedürfnis nach Herrschaft über Sprache, Schrift und Schauspiel erscheint auf persönlicher und öffentlicher Ebene oft als Nebenaspekt autoritärer Regime oder religiöser Bewegungen und wird mit subjektiven oder objektiven Rechtfertigungen versehen. Das materielle Erscheinungsbild des File Room ist jedoch fest verwurzelt und objektiv: Bevor das Chicagoer Cultural Center zu einer Ausstellungsstätte wurde, war darin die Hauptabteilung der Stadtbibliothek untergebracht. Tatsächlich wurde das historische Gebäude 1897 vom Architekturbüro Shipley, Rutan & Coolidge als Bibliothek konzipiert. Muntadas hat sich für diesen Ort entschieden, weil die Funktion des Cultural Center irgendwo zwischen dem öffentlichen Raum einer Straße und dem spezialisierten Raum innerhalb eines Museums liegt. Da der File Room nach dem Prinzip eines Archivs organisiert ist, dient der Ort als zweifacher Resonanzkörper. In architektonischer Hinsicht deckt sich sein Grundprinzip und seine Geschichte mit dem Thema von Muntadas Projekt, zensiertes Material wieder in die Bibliothek einzugliedern. Weiters wird die Offenheit und der Flüchtigkeitscharakter des archivarischen Prozesses, der immer Wachstum bedeutet und niemals abgeschlossen ist, durch das städtische Umfeld und die Tatsache unterstrichen, daß es sich um ein offenes und frei zugängliches Gebäude handelt. Ein ähnliches Fehlen von Schranken und psychologische Unsicherheit kennzeichnen auch Zensur und Selbstzensur, da die Grenzen des Sagbaren und Nicht-Sagbaren immer umstritten sind, immer wieder neu definiert werden können, und sich potentiell ins Unendliche erstrecken. Ins Absurde gesteigert, kann der File Room in diesem Szenario niemals vollendet werden. Er gibt das Versprechen, unsichtbare Bilder sichtbar und zensierte Texte lesbar zu machen. Man hat vom File Room aus on-line Zugriff auf diverse Bücher. Der vollständige Text von Machiavellis "Der Fürst", Hawthornes "Der scharlachrote Buchstabe", Whitmans "Grashalme" und anderer, zu irgendeinem Zeitpunkt zensierter literarischer Werke kann direkt über Hypertext-Verzweigungen abgerufen werden. Muntadas oppositionelle Kritik steht in den meisten Fällen in Beziehung zu einer Institution oder Ideologie, oder richtet sich gegen diese. Wie viele seiner Gesellschaftsskulpturen hat Muntadas den File Room auf einer metaphorischen Ebene als archetypischen Raum mit einer Struktur initiiert, die kafkaeske Klaustrophobie heraufbeschwört, doch drängt er hier über die Grenzen der Wahrnehmung in eine vierte Dimension: den Raum und die Zeit des Internet, des sogenannten "information superhighway". Als dialektischer Balanceakt zwischen der Bezugnahme auf frühere Funktion und gegenwärtige High-tech-Nutzung existiert der File Room in einem zeitlich unklaren und begrifflich verschwommenen Rahmen, dem Rätsel der Zensur. Wer übt Macht aus, auf welche Subjekte bezieht sie sich, und wen will sie schützen? Unter Ablehnung bequemer rechts- oder linksextremer Positionen ortet Muntada sein Werk in den Grauzonen zwischen den Polen Populismus und Autoritarismus, Zensur und Selbstzensur. Intentionalität wird zum Problem, da seine künstlerischen Unterfangen komplexer und weniger schlüssig sind und seiner eigenen Position weniger selbstkritisch gegenüberstehen als die alleinige, einzige Autorität, die die Fallsammlung erstellt. Diese materiellen und intelektuellen Verlagerungen, die rückblickend fast vorbestimmt erscheinen, verschieben auch seine künstlerische Autorität. Muntadas Rolle ist eher die eines Herausgebers einer Anthologie, denn er leitet ein Team von Programmierern und Forschern, die das Mosaic-Programm gemeinsam entworfen haben und in Zusammenarbeit Archivforschung betreiben. Man hat auch das unangenehme Gefühl, daß das Projekt zu sehr von Offenheit, Willkür und Subjektivität bestimmt wird, da es unter wenigen bis gar keinen Auswahlkriterien erstellte gesonderte Einzelfälle als Bezugsrahmen wählt. Einsichten in das Problem der Ausbreitung der Zensur ortet Muntadas in einem Essay von Hans Magnus Enzensberger:

"Strukturelle Zensur arbeitet nicht mit absoluter Perfektion, nicht im Verhältnis 100/100. Normalerweise gehorcht sie den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Botschaften werden verwässert, verändert oder, je nach ihrem Unverträglichkeitsgrad, ausgelöscht … Während die auf die Produktion gerichtete Zensur den Kern der Kulturindustrie (Verlage, Fernsehen, Kino) säubert, entschlackt die Polizeizensur die Peripherie (Fanzines, Untergrundzeitungen). Die erste Art der Zensur erfolgt unbeachtet, die zweite umso lauter. Sie veranstaltet gerne Spektakel, sie will, daß die Leute darüber reden und ihre Akte von demonstrativer Wirkung sind.“ (1)

Das Paradoxon des File Room besteht darin, daß er wie sein Inhalt niemals kontrolliert oder vollendet werden kann. Potentiell könnten sich in ihm alle kulturellen und politischen Werke finden, die jemals verfasst wurden. Der File Room verändert sich gemäß der Bereitschaft des Users, beizutragen und einen Dialog oder eine Debatte über die Widersprüchlichkeiten der Zensur zu beginnen, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Auffallend ist, daß Muntadas von seiner üblichen dekonstruktivistischen Behandlung von Schauspiel und Massenmedien zur Offenlegung ihrer internen Mechanismen abkehrt, um einen globalen Bezugsrahmen für diese riesige Sammlung zu erstellen. Wahrscheinlich war unvermeidlich, daß einige Abonnenten von America Online bereits einen Eintrag über die Einschränkung ihrer Redefreiheit im Internet durch die Anbieter diverser Foren vorgenommen haben. Laut einem Abonnenten entfernt der Dienstleistungsersteller America Online Anschläge von einem Bulletin Board, wenn sie gegen die vage Auflage, nicht vulgär, beleidigend, oder pornographisch zu sein, verstoßen. Tatsächlich werden sogar Euphemismen aufgrund ihres Inhalts entfernt, obwohl America Online leugnet, einem speziellen elektronischen Moralkodex zu gehorchen. Letztendlich unterliegt der File Room gleichartigen Auflagen innerhalb seiner eigenen kulturellen Logik: Er kann nur vollendet werden, wenn jemand den Stecker herauszieht oder das Archiv zensiert.

Judith Russi Kirshner

Die Verfasserin dankt Sue Taylor, Paul Brenner und Antonio Muntadas für ihre Unterstützung und die vermittelten Einsichten.


(1)
Übersetzung eines Artikels aus L’Espresso. Originalwortlaut: 1977 in Pardon und L’Espresso unter dem Titel: "Lo dico, non lo dico, no, lo dico …") zurück

Production: Randolph Street Gallery, Chicago