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Crossings


'Stacey Spiegel Stacey Spiegel

Der moderne Künstler setzt sich eingehend mit seinen moralischen Verpflichtungen gegenüber der gesamten Gesellschaft auseinander, zu der er sich selbst zählt. In diesem Sinne läßt sich Lessings Aussage, daß das Theater eine Institution der Moral sei, auf alle kreativen Handlungen anwenden, ungeachtet der ursprünglichen Motive und der verwendeten Medien. Daher ist jedes Kunstwerk das Ergebnis jener Kräfte, die in den sozialen und wirtschaftlichen Strukturen sowie im Menschen selbst zum Ausdruck kommen. Oft scheint es so, als gäbe es in der Kunst keine klare soziale Ideologie, aber der Künstler ist kein Propagandist, sondern mehr als jeder andere ein Seismograph seiner Zeit und deren Richtung: Der Künstler verleiht dem Wesen der Zeit bewußt oder unbewußt Ausdruck. Er ist zwar durch die Tatsache, daß die soziale und ethische Existenz prädeterminiert ist, eingeschränkt, doch ist der kreative Künstler frei in der Wahl seiner Ausdrucksmittel.

Moholy-Nagy "Vision in Motion" 1947
Seit Jahrtausenden versucht die Menschheit die Welt zu entschlüsseln. Sei es durch eine biblische Sichtweise oder einen mikrobiologischen Scan, man ist noch immer versucht, den Sinn und Aufbau der Gesellschaft durch Beobachtungen der Natur zu bestimmen. Im 17. Jahrhundert verwendete der Maler Vermeer eine Camera obscura, um die reale, dreidimensionale Landschaft in ein zweidimensionales Abbild zu pressen. Wahrscheinlich war seine Absicht, festzustellen, ob es stimmte, daß man durch die Mechanisierung der Natur ihren Sinn erfassen konnte und daß dieser Sinn über das Abbild hinaus seine Gültigkeit nicht verlor.

Bei Crossings handelt es sich um eine ähnlich gelagerte Erforschung von Ausdrucksmöglichkeiten. Auf der Grundlage einer analogen Welt eindimensionaler Daten versuchen wir eine simulierte, digitale, dreidimensionale Landschaft zu schaffen. Diese weist einen so hohen Grad an Abbildrealismus auf, daß man versucht ist, in diese Landschaft einzutreten. Tatsächlich haben wir die Darstellungsmöglichkeiten voll ausgeschöpft. Mit Hilfe elektronischer Medien läuft unser Diskurs zur Gänze im Cyberspace ab, einem visuellen Gegenstück zu der uns vertrauten dreidimensionalen Welt.

Mit Crossings wollten wir herausfinden, ob es Möglichkeiten für dreidimensionale Interaktivität bei der Steuerung von Informationen im World Wide Web gibt. Das Konzept von Crossings beruht auf einer künstlichen Landschaft, durch die ein Hochgeschwindigkeitszug fährt. Diese Zugverbindung stellt die Veränderungen in der Kommunikationstechnologie dar. Die europäische Kultur, ebenso wie die nordamerikanische, befindet sich in einer Übergangsphase. Lokale, regionale und nationale Identitäten werden durch die Zugangsgeschwindigkeit komprimiert und neu definiert. Das Crossings-Projekt basiert auf der Annahme, daß in bezug auf die soziokulturellen Auswirkungen eine solche Hochgeschwindigkeitsverbindung quer durch Europa die elektronischen Pfade der vernetzten Kommunikation versinnbildlicht. Wir glauben, daß Eingriffe in virtuelle Landschaften, genauso wie in der realen Welt, vorrangig dazu beitragen können, die kulturelle Identität und Informationen zu erforschen.

Crossings ist das virtuelle Modell einer Berglandschaft von 15 km Länge. Wir haben uns für dieses Gebiet entschieden wegen seiner sozialen und politischen Bedeutung als Grenzgebiet, in dem eine Hochgeschwindigkeitsverbindung zwischen Paris und Berlin errichtet werden sollte. Die physische Landschaft wird in ein hypermediales Netz übergeführt, wo man sich in einem interaktiven dreidimensionalen Raum bewegen kann. Über das WWW kann man entweder mit dieser Landschaft in Interaktion treten, oder das Projekt mit eigener Symbotik anreichern. Dies können konzeptuelle, historische, geologische, ökologische und metaphysische Reaktionen auf den Kontext und Ort sein.

Der Teilnehmer kann, wenn er sich durch dieses Modell bewegt, die "nächste Generation" der Interaktivität kennenlernen, die man bis dato nur aus Büchern kannte. Wenn man in diesem Zug fährt, erlebt man die künstlerischen Eingriffe als "Signalanlagen". Nachdem man den Zug verlassen hat, wandert man durch die Landschaft, untersucht die Symbolebenen der Umwelt und entdeckt psychologische, emotionale und intellektuelle Räume.

Genau wie der Spiegel, durch den Alice ging, hat jede Form, der man in der Landschaft begegnet, die Möglichkeit, den Teilnehmer zu einer anderen Realität zu führen. Mit dieser hypermedialen Verbindung kann der Beobachter Ton-. Bild- und Textdaten, aber auch gespeicherte Animationen und Videos im Äther des WWW abrufen. Dadurch kann man über Crossings durch mehrere Informationsebenen und durch den Cyberspace steuern.

Crossings ist per definitionem eine mit großem Engagement durchgeführte Untersuchung der Mechanisierung der Natur. Das Environment trägt den Stempel unseres postindustriellen Zeitalters und bestätigt einmal mehr, daß wir heute die Grenzen geographischer Bereiche überschreiten müssen, um in einer neuen, gesellschaftlich paradigmatischen Situation Untersuchungen anzustellen und Sinngehalt zu finden.

Dieses Projekt feiert nicht den neuesten Stand der Technik und beschäftigt sich auch nicht mit der Akzeptanz der Werte, die der Virtualität innewohnen. Es intendiert vielmehr, einen Beitrag zur Erfahrung des Informationsraums zu liefern, indem es einen sachlichen Dialog um das dynamische Potential dreidimensionaler Interaktivität im World Wide Web initiiert.

Das Konzept stammt von dem Künstler Stacey Spiegel und wurde in die Tat umgesetzt, während er als artist in residence beim Zentrum für Kunst und Medientechnotogie in Karlsruhe tätig war. Für die Durchführung zeichnet der Künstler gemeinsam mit Rodney Hoinkes, Leiter der Abteilung für Designanwendungen am Zentrum für Landschaftsforschung, Universität Toronto, verantwortlich.

Die Software für die Interaktion mit dem Netz wurde als CLRMosaic bekannt: das Landschaftsmodell wurde mit der Software PotyTRIM erstellt. CLRMosaic und PolyTRIM im Labor des Zentrums für Landschaftsforschung an der Universität Toronto wurden unter der Leitung von John Danahy entwickelt. Die Software läuft derzeit auf SGI-Maschinen.

Zum Zeitpunkt, als dieser Beitrag verfaßt wurde, hatten die folgenden Personen durch Landschaftseingriffe zum Projekt beigetragen: Stacey Spiegel, Rodney Hoinkes, John Consolati, Chris Ziegler, Eckart Lange, Edward Kim, John Featherstone, David Schleindl, Michael Forte, David Mizrahi, Caroline Westort.