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Ars Electronica 1995
Festival-Website 1995
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Festival 1979-2007
 

 

Checkpoint 95




Stadtwerkstatt TV in Zusammenarbeit mit/in cooperation with Paper Tiger TV, New York, Association of New Screen Technologies, Moskau

Live TV mit Telepräsenz

Drei gleichzeitig stattfindende TV-Sendungen aus den Studios Stadtwerkstatt-TV, Nibelungenbrücke, Linz
Studio RTR. Moskau
BMCC Media Center, New York City
verbunden mit Multimedia Satellitenlink Moskau-Linz-New York
ausgestrahlt in Europa, Asien und Nordamerika
via 3Sat, Kanal 2 des Russischen Staatsfernsehens, Deep Dish Satellite TV Network und Manhattan Cable

Dienstag, 20 Juni 1995, 22:30 bis 24.00 CET

MULTI-MEDIA IN NETZWERKEN …
Das Multimediateam der Stadtwerkstatt greift den Entwicklungen voraus. Im Zuge der kontinuierlichen Auseinandersetzung um netzwerkfähige Multimediaschnittstellen arbeiten wir an der Entwicklung eines Systems für mögliche Telepräsenzanwendungen.

Multimedia macht es möglich, virtuelle Gegenstände in der Computerschnittstelle nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören und zu bewegen. Gesten, Blickkontakt und die Sprache erlauben uns, in natürlicher Weise zu kommunizieren, so wie sie über Millionen von Jahren entstanden ist, aber die elektronischen Medien haben bisher nur sehr schlechte Analoge dieser Wechselwirkungen geliefert. Nun entwickeln wir die Fähigkeit, einerseits das Subtile am Drama in der Exposition zu verwenden, andererseits die Flexibilität, Gruppen-Interaktionen zu entwickeln.

Es ist ein Mythos, daß die diskutierten Systeme wie der Information Super Highway beim heutigen Stand on-line multimediale Konferenzen zulassen. Versuchen Sie einmal in Echtzeit im Multi-media-Netzwerk ein Projekt mit Telepräsenz zu verwirklichen. Sie werden schnell feststellen: Der Highway funktioniert noch nicht. Deswegen greifen wir auf das einzig funktionierende und bestehende multi-media-Telekommunikationsnetzwerk zu: Fernsehen. Wesentliche Aufgabe für den Kommunikationsfluß dabei ist es, die auftretende Protokoll- und Schnittstellenproblematik zu lösen. Der Künstler als Kommunikator.
UNSERE TELEPRÄSENZANWENDUNG: DAS PARALLEL-RAUM-DISPLAY:
Bei handelsüblichen Virtual Reality Versuchen werden meistens Head-Mounted Displays als Schnittstelle zu großen Rechneranlagen verwendet, um den im Rechner erstellten virtuellen Raum wahrzunehmen. Dabei entstehen für uns zwei Probleme. Virtuelle Räume benötigen enorme Rechnerkapazitäten, die für uns nicht zugänglich sind. Außerdem ist der Benutzer durch das Head-Mounted Display von seiner realen Umgebung abgeschnitten.

Aus dieser Problematik heraus beschreiten wir folgenden Weg: Wir kombinieren ein Head Mounted Display, um einen stereo-skopischen Effekt zu erzielen, mit zwei Helmkameras. Diese Kameras sind so angebracht, daß sie den durch die vor den Augen befindlichen Monitoren verstellten Blick auf elektronische Weise freigeben. So kann der Träger durch die Kameras sich selbst in seiner realen Umgebung wahrnehmen (er kann seine Hände und Füße betrachten, die Apparaturen, die vor ihm stehen und diese bedienen – ohne Datahandschuh). Nun stellen wir den Kandidaten in ein herkömmliches Blueboxambiente. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, in altbewährter Chromakeytechnik ein externes Videosignal mit dem Kamerabild zu überlagern. Dieses Videosignal kann, beispielsweise über ISDN- oder sonstige Datenleitungen, von einem beliebigen anderen Ort live übertragen in unser System eingespielt werden. An diesem beliebigen Ort ist die das Videosignal erzeugende Kamera auf einem Modellauto installiert. Dieses Modellauto wiederum wird über eine herkömmliche Telefonleitung von unserem Kandidaten ferngesteuert. Er ist somit telepräsent. Die Kombination von Kamera und fernsteuerbarem Modellauto ist nun gleich einer realen 3-D Maus. Unser Kandidat kann sich in diesem beliebigen Ort bewegen und in diesem Raum, zum Beispiel durch das Verschieben von Gegenständen, real agieren.
CHECKPOINT 95
Es war im Oktober 94 als Tatiana Didenko von "Russian State Television and Radio Broadcast Company" und Marty Lucas von "Paper Tiger TV", New York, Linz besuchten und im hiesigen Landesmuseum russiche Videokunst und amerikanische unabhängige Fernseharbeit präsentierten. Kathy Rae Huffman, Amerikanerin, die als "freelance curator of contemporary media arts" tätig ist, äußerte den Wunsch doch gemeinsam ein Muttimedianetzprojekt zur Ars Electronica zu realisieren. So saß Stadtwerkstatt TV mit den beiden Amerikanern und der Kollegin aus Rußland im Cafe Landgraf am Brückenkopf in Linz/Urfahr, zusammen. Die nationale Herkunft unserer Partner gab uns Anlaß, an die Geschichte des Ortes zu erinnern. Standen sich hier nicht vor fünfzig Jahren Russen und Amerikaner, nur durch die Nibelungenbrücke getrennt, zehn Jahre lang gegenüber.

Damals, nach Ende des zweiten Weltkrieges, wurde Linz geteilte Stadt. Südlich der Donau war die amerikanische und nördlich, in Urfahr, die russische Besatzungszone. Auf der Brücke wurden Checkpoints errichtet, und die Passanten mußten an den Kontrollpunkten amerikanischen und russischen Soldaten ihre Ausweise vorweisen. Ein konkreter Anhaltspunkt des Kalten Krieges: Den Soldaten war es nicht gestattet, sich in die jeweils andere Zone zu begeben.

Die Nibelungenbrücke in Linz gibt uns nicht nur Anlaß, sondern ist auch Metapher für dieses Projekt. Sie überbrückt die Donau, welche hier eine natürliche Grenze zwischen dem Norden und dem Süden bildet. Während des römischen Reiches trennte der Fluß Römer und Barbaren, Namensgeber der Brücke sind die dereinst stromabwärts ziehenden Nibelungen. Deren Sage ist eine der wenigen überlieferten europäischen Mythen aus der Zeit der Völkerwanderung.

Jetzt, mit dem Ende des Kalten Krieges, nachdem die Blöcke gefallen sind und die Grenzen sich geöffnet haben, vernetzen neue Technologien die Welt mehr und mehr, Grenzen fallen, neue tun sich auf.
DER BAU DER NEUEN BRÜCKE – SUPER-DATA-HIGHWAY-INFORMATION-BRIDGE
Durch Bild-, Ton- und Datenleitungen sind die Städte Moskau-Linz-New York in jede Richtung verbunden. Das Signal wird via Satellit von Linz nach Moskau beziehungsweise nach New York geleitet und dort in die TV-Studios eingespielt. Das Signal wird bearbeitet und wieder nach Linz zurück geschickt. Das in Linz installierte Fernsehstudio bekommt eine Art Serverfunktion, die New York und Moskau miteinander verbindet. In Linz werden die Signale aus Moskau und New York nach erneuter Bearbeitung, koordiniert und sendefähig aufbereitet und via 3sat dem europäischen Fernsehpublikum zugänglich gemacht.

Gleichzeitig werden in den TV-Studios New York und Moskau eigene Live-Sendungen gestaltet, die in New York im Manhattan Neighbourhood Network auf Manhattan Cable, nordamerikaweit über Deep Dish Satellite TV Network und in Rußland vom Kanal 2 des Russischen Staats Fernsehens ausgestrahlt werden.

Diese Datenbrücke gekoppelt mit der Telepräsenzanwendung, dem Parallel-Raum-Display, ermöglicht den Benutzern in Moskau und New York mittels ferngesteuerter Kameravehikel (Modellautos) auf der Nibelungenbrücke in Linz real präsent zu sein.

Das Publikum zu Hause an den Bildschirmen hat die Möglichkeit, sich über Telefon auf konventionelle Art und Weise in die jeweilige Sendung einzubringen.
SENDEABLAUF
Live-Telekommunikation mit Telepräsenz. Eine Versuchanordnung im Multimedianetzwerk. Durch verschiedene Arten von Zugriffsberechtigungen/möglichkeiten wird eine Konferenz zum Thema "Mythos Information" abgehalten. Checkpoint '95.

Teil 1: Die Begegnung
Russen und Amerikaner sind telepräsent von ihren Studios in Moskau und New York real auf dem neutralen Boden der Nibelungenbrücke in Linz, Österreich. Sie begegnen einander und lösen die Geschichte des Kalten Krieges auf.
Treffen auf der Brücke
Ehemalige Soldaten, Veteranen aus der russischen und amerikanischen Besatzungszone, die hier auf der Brücke standen, werden als erste "Autofahrer" die historische Gelegenheit haben, sich jetzt, Jahre nach Ende der Besatzungszeit, wieder auf die Brücke zu begeben. Sie werden von Moskau und New York aus auf der Linzer Brücke fahren, um sich auf der Brückenmitte zu begegnen. Dieser Fahrt wollen wir mit historischen Bild- und Tondokumenten unterlegen und Zeitzeugen zu Wort kommen lassen, um die Zeit nach dem Krieg, den Beginn des Kalten Krieges, in Erinnerung zu rufen. Eine Zeitreise von 45 bis heute.

Teil 2: Die Telekonferenz
Die Brücken sind geschlagen. Die erfolgte Begegnung auf der Nibetungenbrücke gibt Anlaß, sich miteinander mit der Zeit nach dem Kalten Krieg, dem Informationszeitalter, auseinanderzusetzen. Vom Telekonferenzstudio in Linz aus wird die Konferenz zwischen Moskau und New York geleitet und neutral vermittelt. Die innenarchitektonische Gestaltung unseres Telekonferenzstudios (ein runder Tisch als Blue Box ausgeführt) gibt uns nun die Möglichkeit, daß sich für den Fernsehzuseher zu Hause nicht nur die in Linz versammelten Personen um den Tisch reihen, sondern auch die in den Studios Moskau und New York.
Gemeinsame Entdeckungsreise:
In diesem Programmblock verbinden wir unser Telepräsenzsystem mit den Darstellungsmöglichkeiten der bildenden Kunst, um die eher sprachlich orientierte Abhandlung unserer Konferenzinhalte mit einer sinnlichen, poetischen und visuellen Ebene anzureichern. Speziell zu den Themen der Konferenz gestaltete Rauminstallationen in Linz werden zum Parcours, in den die Kameraautos (mit neuen Fahrern – Telenauten) aus New York und Moskau eindringen können.

Teil 3: Auflösen der Grenzen
Alle Konferenzteilnehmer der Orte Linz, Moskau und New York sitzen für den Fernsehzuseher an einem Tisch, am blauen Tisch in Linz, zusammen. Die Moderation der Konferenz wird an die Telenauten übergeben, die von ihren Cockpits in New York und Moskau aus die beiden Kamerafahrzeuge am blauen Tisch in Linz steuern. Telepräsent können sie nun auch physisch gestaltend den Ablauf der Konferenz bestimmen. Mit ihren subjektiven Blicken können sie sowohl am blauen Tisch als auch in ihren Studios in New York direkt jeden gewünschten Konferenzteilnehmer ansprechen. Mit Fortdauer der Konferenz kommt es zur Verdichtung und Überlagerung von Bildern und Tönen aus allen 3 Studios bis zur völligen Aufhebung der räumlichen Trennungen. Die Aufhebung der Grenzen von realen und virtuellen Räumen bringt uns an die Grenzen der Machbarkeit, die einzige unüberwindbare Grenze.
MYTHOS INFORMATION – WILLKOMMEN IN DEN NETZWELTEN
Was macht die Menschen so wissensbegierig? Was eröffnen die neuen Technologien an Wissenstransfer und -austausch? Werden diese Technologien öffentlich zugänglicher werden und bleiben? Information als Holschuld. Wer sich Wissen nicht selber holt, ist selber schuld. Ein Boom nach Wissen multipliziert die Netze. Wissen als Stückwerk im Netz. Der Mythos der Netzwerke ist auch ein Mythos über die Konsumierbarkeit von Information.

Entweder man stellt die falsche Frage und kommt nicht zur Information oder man wird überschüttet mit Material, das man wieder nicht sondieren kann.

Was aber war Information und Wissensweitergabe von einst?
Die Mythologie selbst war ein allgemeines Gut an Information, welches für alle weitergegeben wurde. Dabei handeltete es sich um eine Geschichte, die der Regelung des Zusammenlebens, als Erklärungsversuch des Lebens und zur Schulung und Entwicklung diente. Der Mythos selbst impliziert schon die Weitergabe von Information. Er war kein Eigentum und gehörte jedem.

Der Mythos der Nibelungen ist eine der wenigen überlieferten europäische Erzählungen. Was erzählt uns diese Geschichte: Es geht um den Schatz, die magisch materialisierte Idee von Zufriedenheit, Glück und Macht. Ging es bei den Nibelungen um eine riesige Menge Gold, so gilt heute Wissen und Information als der begehrenswertester Schatz der Menschheit. Willkommen in den Netzwelten.
"NIBELUNGEN – NEWBELUNGEN – NEW BELONGINGS"
1. "Schätze" (mythologischer Aspekt des Konzepts)

A. Vorzeit: Der Nibelungenmythos
  1. Der Schatz ist ein Haufen von Gold-"belongings", gesammelt in der ganzen Welt, aufbewahrt an einem geheimen Ort. Die riesige Menge Gold ist eine magisch materialisierte Idee von "Zufriedenheit", "Glück" und "Macht".
    Dieser von Zwerg Alberich verzauberte magische Überfluß verwandelt sich aber in unheilvollen Reichtum, welcher jedem Besitzer des Nibelungenschatzes Unglück bringt.


  2. Was bedeutet nun, die Verzauberung des Nibelungenschatzes zu lösen?
    Die Gold-"belongings", zuvor sinngemäß verwendet, wurden von ihrem gewohnten Ort enfernt und mit Gewalt zu einem riesigen, nutzlosen Berg gehäuft. Jedes einzelne "belonging" lebt nicht mehr sein eigenes Leben, sondern ist gefangen.
    Die Verzauberung des Schatzes aufzuheben heißt nun, den riesigen Haufen in der ganzen Weit zu verstreuen und jedes einzelne "belonging" an seinen historischen Platz zurückzubringen, um jedem davon die Gelegenheit zu geben, wieder von Menschen gebraucht zu werden.
    Und diese "belongings" werden die "New Belongings" werden.
B. Vergangenheit: 1945
  1. Einer der größten Schätze der Menschheit sind Einigkeit und Gemeinschaft, welche sich jedoch als eines der größten Desaster des 20. Jahrhunderts herausstellten: es kam zur Herausformung und darauffolgenden Auseinandersetzungen zwischen zwei der größten Nationen. Der sogenannte "Schatz" (große Quantität an Menschen und Land) verwandelte sich in Gewalt, unterdrückte die Menschen, nahm ihnen das Recht auf die Freiheit, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen
    Als Folge des gewaltsamen Vereinens von Nationen (Verzaubern des Schatzes) entstand eine gewaltsame Separation von historischen Gemeinschaften. – So wurde die Nibelungenbrücke zum Checkpoint, die Menschen trennend und ihre speziellen Rechte auf Einheit überwachend.


  2. Was heißt nun, den Bann, der über dem "Schatz" der Einheit liegt, zu brechen?
    Das heißt: Rückgabe der Freiheit und der Rechte auf freie Entscheidungen an ihre Ursprünge, nämlich an jede einzelne Person. Denn nur eine wohlwollende, freiwillige Union kann der wahre "Schatz" sein.
C. Gegenwart: 1995
  1. Der drittgrößte Schatz der Menschheit – Wissen – bringt den Menschen auch Unglück: die ungeheure Menge an Informationen beraubt sie des Verständnisses der Bedeutung eines einzigen speziellen Teils einer Information, beraubt sie der Möglichkeit, intelligent zu handeln. Der Sammler von Informationen wird gegen seinen Willen zu deren Wächter und Sklaven; er kann nicht aufhören, anzuhäufen (wie Gold wird Information durch Information angezogen).


  2. Was heißt es nun, den Zauber, der auf dem Schatz des Wissens liegt, aufzulösen ?
    Das heißt, Wissen an seine Ursprünge zurückzugeben – an jeden einzelnen Menschen. Das bedeutet, nicht nur ein globales System von Verbreitung und Gebrauch von Information zu errichten. Es ist notwendig, die Essenz persönlichen Wissens der vergemeinschaftlichten, gesichtslosen Information zurückzuerstatten sowie den Menschen die Möglichkeit darauf basierender persönlicher Handlungen wiederzugeben.
2. Zwischenspiel "verzauberter (mit Bannspruch belegter) Mythos"
  1. Der Mythos über die Nibelungen, ebenso wie sein Inhalt der verwunschene Schatz – stellt sich in der Geschichte der Menschheit als verzaubert heraus. Er bringt jenem Menschen Unglück, der sich als sein einziger und ausschließlicher Besitzer betrachtet, so zum Beispiel jenem, der seine einzig gültige Interpretation anstrebt, die "Wahrheit des Mythos". Totalitäres Denken, ein Verständnis, das keine Vielfalt in der Interpretation zuläßt. Homogenität und Gleichmachung der Mythos-Metapher-Metamorphose verwandeln ihn in eine LEHRE.


  2. Was heißt nun, den Mythos und die Nibelungen-Mythologie als Ganzes zu "entzaubern"?
    Es bedeutet, keinen Anspruch auf exklusives und einzig gültiges Verstehen des Inhalts zu erheben, sondern vom gesamten Spektrum ganz und gar unterschiedlicher aber gleichwertig zulässiger Interpretationen auszugehen. Dann wird der Mythos eine QUELLE PERSÖNLICHER AUSLEGUNG.
3. "Grenzen" (kulturell-topologischer Aspekt des Konzepts)

Jede Brücke ist ein Versuch. Grenzen zu überschreiten, sich selbst auf der anderen Seite wiederzufinden, wo alles vollkommen anders ist als "zu Hause".
Jede Grenze reizt und provoziert zu Überschreitung.

A. Vorzeit: Zivilisation und Wildnis
Zur Zeit des Römischen Reiches war die Donau die einzige Grenze zwischen der Zivilisation und den Barbaren, der Wildnis, der Kulturlosigkeit. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurden solche Grenzen als antagonistische Fronten zwischen "ja" und "nein", zwischen "Kultur" und deren Nichtvorhandensein, zwischen "Zivilisation" und "Wildnis" verstanden. Auf diese Weise betrachteten wir verschiedene kulturelle Mythen und Zivitisationsmodelle als einander gänzlich fremd und unfähig, einander zu durchdringen, sich gegenseitig wahrzunehmen, zu verstehen, zu akzeptieren.

B. Vergangenheit: Nachbarn und Feinde
Jahrhunderte vergingen. Grenzen wurden nicht nur zum Gegenstand ständigen Interesses, sondern auch zum permanenten Platz "globaler Perestroika": sie wurden von Ort zu Ort weitergetragen, gleich den "belongings". Menschen lernten mit Feinden zu sprechen, und hier kam das Wichtigste zum Vorschein: Gemeinschaften auf beiden Seiten der Grenze waren nun in der Lage, irgendwie miteinander zu interagieren.
Und dann fand man heraus, daß es mehr Grenzen gibt, aber jetzt waren sie durchlässiger.

C. Gegenwart: Zunahme der Grenzen
Heute sind wir dabei, unzählige Grenzen in der Welt wahrzunehmen: ethnische Grenzen, berufliche Grenzen, Gruppengrenzen, Grenzen zwischen den Geschlechtern, Altersgrenzen. usw.
Diese Situation ist ein potentieller Konflikt. Wie kann er jeden Tag aufs neue gelöst werden? Warum überschreite ich die Grenze und betrete ein anderes Territorium? Möchte ich neue Qualitäten in mir selbst schaffen, oder möchte ich mir auf diese Weise anderer Menschen Eigentum aneignen? Und was heißt Eigen-tum? Und was ist "meines"?
Es gibt unzählige Grenzen, aber sie werden dennoch nicht unendlich.

4. "Wirklichkeiten und Illusionen"
(wahrnehmungs- und werteverändernder Aspekt des Konzepts)

Hier-und-Dort Realitäten.
Der Name der Nibelungen (Nibelunge, Niflunger) steht in Verbindung mit Nebel (dt.: "Nebel"), Finsternis, der "anderen" Welt (altskand.: niflheim "die Welt der Dunkelheit", "die andere Welt"). Dies bedeutet, daß die Schätze der Nibelungen nur jenseits einer weiteren Grenze liegen, an einem anderen Ort, dort. Und hier ist nur ihr Schatten, ihre Erscheinung, ihre Projektion, ihre Illusion. Dort bringen sie Zufriedenheit, Macht und Glück, und hier ist es nichts anderes als ein Haufen von Gold.

Welche der beiden Realitäten ist verzaubert? Und welche ist wirklicher?
Was ist das Gute an wiederkehrenden technogenen Illusionen?

Gut ist, daß im Moment ihrer Erscheinung viele vorangehende und bereits gewohnte Illusionen deutlicher werden. Das eröffnet Möglichkeiten, sich von der ganzen Reihe von Illusionen zu entfernen.

Deshalb bedeutet, jedermanns Existenz zu entzaubern, alte sozio-kulturellen Realitäten als alte Illusionen zu sehen. Das Projekt "Nibelungen – NewBelungen – New Belongings" ist dem gewidmet: mit Hilfe der neuen Medien den Weg zurück anzutreten – in Richtung unserer grundlegenden virtuellen Realität. "Hinaufgehen in einem Treppenhaus, das hinunterführt." Das ist die Interpretation für das 20. Jahrhunderts von der Formel des Hermes Trismegistos: "Was oben ist, ist unten".

Anatoly Prokhorov

TV IM KALTEN KRIEG – WAS DIE VERGANGENHEIT UNS FÜR DIE ZUKUNFT LEHRT
Vor nur 50 Jahren stellte das Radio (Transistorradios oder Walkman gab es damals noch nicht) das gesamte Spektrum der Massenmedien dar, es gab kein Farbfernsehen, keine Superdatenautobahnen zur Hochgeschwindigkeitsübertragung von Bildern. Bilder zu den Tagesnachrichten wurden entweder gefilmt und Wochen später in den Kinos gezeigt, oder fotografiert und in den Tageszeitungen und Monatszeitschriften abgedruckt. Während der Besatzung Österreichs durch die Alliierten gab es in dem kleinen Pufferland zwischen dem Osten und dem Westen praktisch keine Weiterentwicklung des Fernsehens. Das Land wurde damals von den 4 Militärmächten kontrolliert, und jede einzelne von ihnen hatte ihre eigene Rundfunkstruktur und eigene Rundfunkstationen. Und da in den Zonen die jeweiligen Truppen (Franzosen, Amerikaner, Russen und Briten) stationiert waren, wurde das Fernsehen als Instrument zur Verbreitung von Propaganda und Information eingesetzt.

Obwohl der Alliierte Rat mehrmals ersucht worden war, man möge doch das Rundfunk- und Telekommunikationssystem an Österreich zurückgeben, wurde erst 1953 die Erlaubnis gegeben, UKW-Übertragungseinrichtungen in Österreich zu testen. Mit dem Abzug der Alliierten mußte die Kontrolle über das Rundfunkwesen schlußendlich doch an die österreichische Regierung zurückgegeben werden. Am 27. Juli 1955 sendete das Funkhaus in Wien zum letzten Mal die "Russische Stunde", die Propagandasendung der Sowjettruppen, gleichzeitig beendet "Radio Rot-Weiß-Rot" seine Sendetätigkeit in Wien und Salzburg. (1)

Österreichs derzeitiges Rundfunk- und Telekommunikationssystem stellt eines der letzten verbleibenden Monopole auf dem Gebiet der Telekommunikation in Europa dar. Das Rundfunk- und Telekommunikationssystem ist staatlich und wird auch vom Staat überwacht und verwaltet. Privates oder kommerzielles Fernsehen ist in Österreich gesetzlich nicht erlaubt, und es gibt auch kein von Privatpersonen zu gestaltendes Kabelfernsehen. Wie die Besucher der Ars Electronica seit 1986 allerdings bestätigen können, fördert der ORF innovative und experimentelle Fernsehproduktionen durch Künstler, wo es nur geht, insbesondere bei internationalen Festspielen und Veranstaltungen.

Als Amerika im Jahr 1941 in den Krieg eintrat, stellte dies eine Zwangspause für den Fortschritt der amerikanischen Fernsehindustrie dar. Die meisten Sendungen wurden eingestellt, da das Kriegsrecht viele Sendungen mit Verbot belegte und die Errichtung neuer Sendestationen untersagte, um Material zu sparen. Als im Jahr 1945 der 2. Weltkrieg für beendet erklärt wurde, waren weltweit nur etwa 6000 Fernsehgeräte im Einsatz. (2) Der Verkauf von Fernsehgeräten ließ allein im Jahr 1947 die Anzahl dieser neuen, die amerikanischen Wohnzimmer dominierenden Geräte auf das Doppelte ansteigen. Die Verkaufszahlen für Fernsehgeräte erreichten in den darauffolgenden 40 Jahren schwindelerregende Höhen. Im Jahr 1945 gab es weder in Österreich noch den USA oder der Sowjetunion nationales oder internationales Fernsehen. Kabel- oder Satellitenübertragung war noch eine Sache der Zukunft.

Das kommerzielle Fernsehen nutzte die Nachkriegsmentalität der Amerikaner und prägte nicht zuletzt auch ihre Angst vor dem Kommunismus und Rußland. So veröffentlichen die Herausgeber von "Counterattack" (drei frühere FBI-Agenten) im Jahre 1959 die Publikation "Red Channels: The Report of Communist Influence in Radio and Television". Darin wurden 151 Personen aus dem Unterhaltungssektor aufgelistet, die angeblich mit dem Kommunismus sympathisierten. (3) Dieser gedruckte Report war die erste von vielen darauffolgenden schwarzen Listen,welche durch CBS eingeführt wurden und die Namen von Schauspielern enthielten, die sich weigerten, einen Loyalitätseid auf die Vereinigten Staaten von Amerika abzulegen. Dies führte 1954 auch zu den McCarthy-Hearings zum Thema Kommunismus in der US-Army. (4) Die erste amerikaweite Live-Fernsehübertragung zeigte die New Yorker Brooklyn Bridge und die San Francisco Bay Bridge nebeneinander, eine Collage also. Eine weitere Live-Sendung übertrug direkt aus Nevada den 17. Atombombentest, der die unglaubliche Kraft der Bombe demonstrieren sollte, wobei die Entfernung der Kameraleute und Nachrichtenreporter vom Ort des Geschehens lächerliche 40 Meilen betrug. Diese Sendung blieb in erster Linie aufgrund der Kritik an Senator Joe McCarthy in Erinnerung, die dazu führte, daß die breite Masse die hysterische Anti-Kommunismus-Bewegung im Amerika der 50er Jahre wieder mit etwas mehr Abstand und Vernunft sah.

Zehn Jahre später in Amerika bzw. zwanzig Jahre in Rußland hatte die Zeit genug Abstand zu den Schrecken des zweiten Weltkrieges geschaffen, um ihnen sogar mit Humor und Menschlichkeit zu begegnen. Serien wie etwa "Hogan's Heroes" (clevere Amerikaner überlisten ihre tolpatschigen Bewacher in einem deutschen Gefangenenlager) verzeichneten in den 60ern große Publikumserfolge, und in den 70ern war die russische Sendung "Vier Panzerfahrer und ein Hund" die beliebteste Moskauer TV-Serie. Das Fernsehen tat sein Bestes, die Ängste, die die Zeit des Kalten Krieges prägten, immer wieder zu stärken. Die Geschichte des Koreakrieges in den 50er wurde dagegen in der Comedy-Serie M.A.S.H. aus den 60ern behandelt, wodurch Spannungen abgebaut und Erinnerungen verarbeitet wurden. Der Vietnamkrieg veränderte den Ton und das Tempo der militärischen Realität, und Live-Nachrichtensendungen schockierten die Amerikaner derart, daß sie schließlich die politische Unterstützung dafür aufs Energischste ablehnten. Die 90er brachten sowohl in Amerika als auch in Europa eine neue TV- und Kriegsrealität – den Golfkrieg. Durch den Golfkrieg, den CNN in unsere Wohnzimmer brachte, wurde die Welt in die Methodik der Unterschlagung von Informationsmaterial, die eindeutige Zensur und die analytische Verwendung von High-Tech-Waffen eingeführt. Amerikanischen Staatsbürgern blieb nur mehr die Flucht zu der von Deep Dish TV angebotenen, alternativen Satellitensendung "Gulf War Series". (5)

Der Fall des kommunistischen Ostblocks in Europa wurde auf der ganzen Welt übertragen, und der Versuch, die Kontrolle über das Fernsehen zu erlangen war nicht selten Ausgangspunkt der blutigen Revolutionen in Osteuropa (die mit dem Fall der Berliner Mauer und den darauffolgenden Wiedervereinigungsfeiern begannen). Der Kampf um Demokratie im Osten war auch eine Revolution zur Erlangung der Kontrolle über das Fernsehen, und die Kämpfe rund um die Besetzung von Fernsehstationen spielten bei den Machtkämpfen in Rußland, Rumänien, Lettland, der Tschechoslowakei und anderen Oststaaten eine nicht unbedeutende Rolle. Mit dem Verlust der Kontrolle über die Fernsehsender verloren die Kommunistische Partei und ihre Apparatschiks auch die absolute Kontrolle über die Kommunikation mit den Bürgern und der ganzen Welt. Eine besonders gewagte russische Fernsehsendung der ersten Tage der Glasnost-Ära war"Das fünfte Rad" in St. Petersburg (damals noch Leningrad, neben "600 Sekunden" und "Öffentliche Meinung" eine der drei Sendungen, die die neue Freiheit der Medien testete, indem sie nicht-parteitreue Aussagen über politische und kulturelle Themen zuließen. (6)

Kathy Rae Huffman

STADTWERKSTATT – TV, LINZ
Als Künstler mit dem Medium TV nicht nur Kunst im Fernesehen zu präsentieren, sondern mit dem Medium selbst live und experimentell zu arbeiten war vorrangiges Ziel. Die Rahmenbedingungen dazu waren jedoch in Österreich nicht vorhanden. Langjährige kulturpolitische Arbeit war erforderlich. Ars Electronica machte es trotz anfänglichen Zögerns letztendlich möglich, daß nun bereits über die Jahre hinweg innerhalb des Festivals mit dem Medium Fernsehen künstlerisch & experimentell gearbeitet werden kann.

1987 erfolgte der erste Versuch der Stadtwerkstatt, den Zugang zum Medium Fernsehen für ihr künstlerisches Anliegen zu öffnen. Im Rahmen der Ars Electronica sollte das Pilotprojekt mit dem Titel "Starterkabel -Brucknerkanal" eine Woche lang im lokalen Kabelnetz Linz-Wels-Steyr täglich in der sendefreien Zeit von FS 2 live auf Sendung gehen. Trotz hochrangiger Interventionen sowie positiver Absichtserklärungen seitens der Postdirektion scheiterte das Vorhaben aufgrund verfassungsrechtlicher Bestimmungen. Lediglich dem ORF war das Veranstalten von Rundfunk gestattet.

Was damals dennoch realisiert wurde, war ein Konzert für Baumaschinen der Tiefgaragenbaustelle am Hauptptatz, welches von 4 Kameras aufgezeichnet, live gemischt und auf eine Großbildleinwand übertragen wurde.

Im Zuge der Erhebungen über die medienrechtliche Situation in Österreich konnte ein legaler Weg, Fernsehen selbst zu machen, gefunden werden. Bei den österreichischen Filmtagen in Wels, dem damals größten Filmfestival in Österreich, machte Stadtwerkstatt im Hotel Greif auf der hausinternen TV-Anlage rund um die Uhr Programm. Die Kamera wurde nie abgeschaltet. Dies war vor allem deshalb möglich, weil den Hotels aufgrund des geschlossenen Zuseherkreises rechtlich gestattet ist, Rundfunk zu veranstalten. Das Hotel erwies sich als taugliches Modell für ein Fernsehen, in dem Macher und Zuseher interaktiv zusammenwirken konnten. Es gab die Privatsphäre der Hotelzimmer und öffentliche Plätze im Haus. Gäste beteiligten sich entweder über die Zimmertelefone oder besuchten das Studio und lieferten Beiträge.

1989 wurde erneut ein Vorstoß gestartet. Der Veranstalter von Ars Electronica drohte, falls nicht anders möglich, während des Festivals Künstler illegal senden zu lassen. Unter Nachdruck der öffentlichen Meinung gelang es in Verhandlungen mit dem ORF, auf 3sat live in Sendung zu gehen. Nicht im österreichischen Programm und erst nach Mitternacht.

Das Thema war damals "Interaktive Kunst". Spielautomaten sind die interaktiven Kunstmaschinen schlechthin. STWST-TV installierte im Foyer des Brucknerhauses eine Spielhalle, wo das Publikum auf den Automaten in Echtzeit die Sendung "produzierte".

1990: Unter den nach wie vor unveränderten Bedingungen, kein eigenes Fernsehprogramm in Österreich machen zu können, sah sich Stadtwerkstatt-TV gezwungen, nach Amerika zu gehen, wo eine Einladung des Art-Centers Hallwalls dazu verhalf, im lokalen Kabelnetz in Buffalo/New York auf dem TCI Public Access Channel 32 ohne weiteres live an 6 Abenden zu senden. Vom Dach des Universitätsgebäudes, in dem Stadtwerkstatt-TV ein eigenes Studio mit zusammengestoppeltem und angemietetem technischen Equipment aufbaute, wurde das TV-Signal mittels Infrarot zu dem auf Sichtkontakt befindlichen Sender vom Kabelbetreiber TCI übertragen.

1991 inszeniert die Stadtwerkstatt mit "Niemand ist sich seiner sicher" ein dreiteiliges Fernseh-Livespektakel zum Thema "Out of Control" der Ars Electronica. Ort des Geschehens, ein Freizeitgebiet unter einer Brücke der Linzer Stadtautobahn. Die Abhandlung entwickelt sich live vor Aug' und Ohr des Fernsehzusehers.

1992 lautete das Thema der Ars Electronica "Die Welt von Innen – Endo und Nano". Stadtwerkstatt-TV begab sich in den Teilchendschungel der Wahrscheinlichkeit. Im Studio waren eine Vielzahl von Handlungen samt Unmengen an Fernsehequipment, alles auf wenige Quadratmeter konzentriert.

Seither arbeitet Stadtwerkstatt TV an der Entwicklung des Telepräsenzsystems P.R.D und an der Aufarbeitung des vorhanden Materials über Fernsehen in Künstlerhand: Stadtwerkstatt TV 87 -94.
PAPER TIGER TV, NEW YORK
Bei Paper Tiger handelt es sich um ein Kollektiv von Medienkünstlern und Videoproduzenten, die in New York City Fernsehen machen. Die Gruppe wurde 1981 gegründet, bald nachdem frei zugängliches Kabel-TV in Manhattan eingeführt worden war. Die halbstündige, einmal wöchentlich stattfindende Sendung von Paper Tiger bietet eine kritische Betrachtung dessen, was die Massenmedien hervorbringen. Diese Sendungen stellen eine ständige Auseinandersetzung mit der Massen-Informationskultur dar, und basieren auf folgenden einfachen Überlegungen:
  • Die Macht der Massenkultur basiert auf dem Vertrauen der Öffentlichkeit


  • Diese Legitimität existiert nur auf dem Papier


  • Die Untersuchung der körperschaftlichen Struktur der Medien und eine kritische Analyse der Inhalte ist eine Möglichkeit, den Mythos um die Informationsindustrie aufzuheben


  • Die Schaffung eines kritischen Bewußtseins gegenüber der Kommunikationsindustrie ist ein erster wichtiger Schritt in Richtung einer demokratischen Verwaltung der Informationsquellen.
Öffentlich zugängliche Fernsehkanäle, welche für nichtkommerzielle Zwecke konzipiert wurden, sichern Paper Tiger ein Stammpublikum von Channelhoppern und eingefleischten Fans. Paper Tiger hat bis dato über 250 Sendungen produziert. Diese Sendungen widmen sich der Aufdeckung der wirtschaftlichen und stilistischen Elemente im kommerziellen Fernsehen, in Zeitungen, in Zeitschriften und seit kurzem auf der Datenautobahn. Sendungen von Paper Tiger sind anders:
Menschen mit eigener Meinung sprechen mit ihrer eigenen Stimme und in ihrem eigenen Sprechrhythmus, ohne dabei durch Geräusche, Make-up oder die Frage eines Inteviewers eingeengt zu werden, und bringen so ihre Kritik vor laufender Kamera an.
Dieses rohe Äußere, ein Markenzeichen von Paper Tiger TV, umfaßt sowohl Szenenumbauten, als auch Toneffekte, Bilder der Crew als auch andere technische Eigenheiten. Diese "Fehler" machen das Fernsehen menschlich, und zeigen den Zusehern, daß Menschen mit völlig verschiedenen Talenten und völlig verschiedenen wirtschaftlichen Ausgangssituationen (vielleicht sogar sie selbst) sehenswertes Fernsehen machen können. (7)
Angesichts dessen, daß die Gruppe mehr als hundert Produzenten umfaßt, sind die Paper-Tiger-Sendungen vom Stil her überraschend einheitlich.

In seiner 14jährigen Geschichte ist Paper Tiger Medienkünstlern und -aktivisten verschiedensten Alters und verschiedenster Herkunft, die alle daran arbeiteten, dem ungehinderten Vormarsch der körperschaftlich organisierten, kommerziellen Medien Einhalt zu gebieten, mit praktischer Erfahrung auf dem Gebiet der Produktion zur Seite gestanden. Als sich die ohnehin nur sehr spärlich vorhandenen Subventionen für Künstler nach und nach in nichts auflösten, produzierten die freiwilligen Mitarbeiter bei Paper Tiger weiterhin Fernsehsendungen, schufen Installationen, hielten Workshops und machten internationale Sendungen.

Im Jahr 1985 begann The Deep Dish Satellite TV Network, eine Schwesternorganisation von Paper Tiger, über Satellit zu senden. Deep Dish bietet den Zusehern von öffentlich zugänglichen Sendern für private Gestalter aus den verschiedensten Gegenden eine kritische Aufbereitung internationaler, nationaler und regionaler Themen. Gegenwärtig verbindet Deep Dish eine vielfältige Gruppe von gemeinschaftlich organisierten Produzenten mittels 400 öffentlich zugänglichen Kabelsendestationen in den ganzen USA in einem alternativen, vom kommerziellen Fernsehen völlig unabhängigen Netz.

Die Bedeutung eines alternativen Informationsnetzes wurde spätestens 1990 mit Beginn des Golfkrieges klar, als die Amerikaner sich in einer Medienwelt wiederfanden, die ihre Hauptaufgabe darin sah, für den Krieg zu "werben". Das "Gulf Crisis TV Project", eine Koproduktion von Paper Tiger und Deep Dish, veranschaulichte den Fernsehzusehern, daß man die Politik der USA im Zusammenhang mit dem Golfkrieg weltweit keineswegs guthieß. Die zehnteilige, aus halbstündigen Folgen bestehende Serie bot den Zusehern einen Rahmen für eine kritische Diskussion der kulturellen, historischen, militärischen und wirtschaftlichen Gründe, die zu jenem nicht unbedeutenden Krieg geführt hatten, an dem eine halbe Million Amerikaner beteiligt war. Die große Popularität von "The Gulf Crisis Project" zeigte nur zu deutlich, daß auch alternative Berichterstattung eine große Zusehermenge anziehen konnte.

Während der letzten beiden Jahre waren das zentrale Thema von Paper Tiger-Produktionen die neuen elektronischen Medien, die Gefahren einer Cyberutopie der Großfirmen wurden aufgezeigt, und die Ansichten von Medienorganisatoren, Computerexperten und Befürwortern der Gemeinschaft, die alle daran arbeiten, sicherzustellen, daß die Datenautobahnen auch wirklich für alle Benutzer zugänglich und funktionell gestattet sind,wurden präsentiert.

Das Paper Tiger TV Network präsentiert "Das Brückenprojekt"
Mit der Schaffung eines virtuellen Netzes für diese Sendung hat sich Paper Tiger für die konventionelle, in den Vereinigten Staaten übliche Art der elektronischen Bildübertragung entschieden, das TV-Netz. Derzeit gibt es in den USA vier, fünf, sechs oder sieben (ABC, NBC, CBS, FOX, CNN, MTV usw.) kommerzielle Sender und ein öffentliches Netz.

Unser Anteil an Checkpoint '95 ist im Stil der amerikanischen Fernsehnetze gehalten. Indem wir den Platz "Der Netze" einnehmen, und damit den elektronischen öffentlichen Bereich abdecken, verhelfen wir uns selbst zu der Möglichkeit, die Struktur der Netze, die für die Massen senden, zu untersuchen und festzustellen, was diese Netze dem Zuseherpublikum versprechen und tatsächlich bieten. Checkpoint '95 ist nur ein weiterer Ausdruck des Bestrebens von Paper Tiger TV, auf die konventionelle Struktur des Fernsehens in den USA hinzuweisen, einer Struktur, wo die Werbung den Sendern Sendezeit abkauft.

Tiger im Netz
Die Nibelungenbrücke erscheint als idealer Ort, um eine Diskussion über Mythologie zu führen. Der derzeitige Mythos in bezug auf das Informationszeitalter sieht uns alle in einer Cyber-vernetzten Computer-Schnittstellen-Welt leben, die uns erst wirklich befreien wird. Paper Tiger fragt sich, wie dieser Mythos wohl Wirklichkeit werden wird.

Die derzeit bestehenden Informationssysteme werden bald kommerzialisiert werden. Die von Advanced Network and Services geleitete, nicht auf Gewinn ausgerichtete Internet-Grundstruktur wurde an America On-line verkauft. Bei dieser Grundstruktur handelt es sich um die administrativen Netzknoten, welche das Kommunikationsnetz, dessen Basis Universitäten und Forschungsinstitute bilden, verbinden (America On-Line kaufte das System für 35 Millionen Dollar). Wer wird die Kontrolle über diese Netze haben? Wird es noch Raum für "Freie Netze" auf Gemeinschaftsbasis und andere Arten des öffentlichen Zugriffs geben? Medienaktivisten und Sympathisanten standen bei dem Kampf um nichtkommerziellen Raum in dieser nationalen Informationsinfrastruktur auf verlorenem Posten. Und selbst wenn sich doch noch irgenwo ein wenig nicht-kommerzieller Raum abknapsen läßt, stellt sich noch immer das Problem, wo wir die Mittel und die fachliche Unterstützung finden, um diese Gelegenheit zu nutzen.

Das Netz der Wünsche
In diesem neuen Zeitalter der Medien bekommt das Klischee, daß Information Wissen bedeutet, eine neue Bedeutung. Für uns Amerikaner bedeutet Wissen, zu wissen,was man kaufen soll, denn wie heißt es so schön: "Der aufgeklärte Konsument ist der bessere Kunde". Die augenscheinlichste Eigenschaft der mediatisierten Kultur ist die zunehmende Bequemlichkeit des Geistes.

Wenn wir uns von einem Informationsaustauschsystem auf Textbasis weg begeben, bewegen wir uns in Richtung eines Systems auf Bildbasis. Es ist nur mehr eine Frage der Zeit, bis der Computer uns mit den gleichen Bildern überhäuft, wie wir sie jetzt bereits im Fernsehen sehen, Bilder vom Konsum.

Paper Tigers Devise lautet: Hören Sie auf, lediglich ein passiver Konsument zu sein – werden Sie aktiver Produzent!

ASSOCIATION OF NEW SCREEN TECHNOLOGIES, MOSKAU
Der Verband wurde gemäß der Entscheidung des Sekretariats der Gewerkschaft der Filmschaffenden Rußlands am 14. Februar 1994 gegründet.

Die konstituierende Sitzung des ANST fand am 19. April 1994 im Zentralen Haus der Filmschaffenden statt.
Zum Vorstandsvorsitzenden des ANST wurde der Filmproduzent Andrej Kontschalowskij gewählt, und der Kulturphilosoph Anatoli Prochorow wurde zum Präsidenten des Verbandes gewählt.

1. Was ist die New Screen Technologies Association?
Der Grundgedanke des Verbandes war es, die Arbeit von Fachleuten aus der Technik, den Humanwissenschaften und der Kunst an der Entwicklung von New Screen Technologies (NST), d.h. computergestütztes Kino (Graphik, Animation, Spezialeffekte), interaktives Kino und Fernsehen, Videokunst, muttimediale Produkte, Telekommunikation usw. zu koordinieren.
Die Association of New Screen Technologies ist eine selbständige, unabhängige, öffentliche Vereinigung von Kunstschaffenden, die sich mit der Entwicklung, Produktion und Realisierung von künstlerischen und soziokulturellen audiovisuellen Projekten aus dem NST-Bereich auseinandersetzen.
Der Verband sieht den Bereich der New Screen Technologies als Teil der audiovisuellen Kunst und Industrie, und betrachtet ihn deshalb als dem traditionellen Film gleichwertig.

2. Womit beschäftigt sich der Verband?
  • Computergestütztes Kino

  • Interaktive Arbeiten

  • Videokunst und alternatives Fernsehen

  • Telekommunikation
3. Zur Entstehungsgeschichte des Verbandes (Kurzfassung)
Während der letzten drei Jahre vor der Gründung des Verbandes arbeitete eine Gruppe von Enthusiasten – Fachleute aus den Bereichen Humanwissenschaft, Kino, Informatik und Technologie – daran, ihre kreativen Bemühungen im Bereich der NST zu koordinieren. So wurden beispielsweise Forschungs- und Entwicklungskonferenzen zu den Themen "Computeranimation – Möglichkeiten und Probleme" (1991), "Computerspiele als Kunst des reagierenden Bildschirms" (1992), "Computograph – von der Idee zum Bild" (1992), "Multimedien – Kultur als Medien, Medien als Kultur" (1993), "Moderne Technologien der Kommunikation (humanitäre Aspekte der Telekommunikation)" (1994) abgehalten.
Weiters wurde ein Forum von Fachleuten mit der Bezeichnung "Neue Kulturtechnologien" gegründet; diese Gruppe kommt in regelmäßigen Abständen zusammen.

4. Zielsetzungen des Verbandes
  • Die Anerkennung der NST als Bereich der Kunst, Kultur und Industrie in Rußland;


  • Schaffung einer vereinten multiprofessionellen Gemeinschaft kreativ Tätiger im Bereich der NST, wobei die Mitglieder aus den Bereichen Informatik, Technologie, Humanwissenschaft und Kunst kommen sollten;


  • Schaffung der bestmöglichen Bedingungen für professionelle kreative Tätigkeit der NST-Fachleute;


  • Ausweitung und Vertiefung der internationalen Zusammenarbeit bei NST-Fachleuten;


  • Teilnahme an der Organisation eines Systems zur Ausbildung von NST-Fachleuten.
5. Die Pläne des Verbandes
Als erstes konkretes Projekt schlägt der Verband vor, eine Seminarreihe zu den Themen "Technologische Aspekte der modernen Kultur" und "Humanitäre Aspekte modernster Technologien" zu veranstalten, einige Veranstaltungen zum Thema durch das Fachleute-Forum "Neue Kulturtechnologien" zu organisieren, an Festivals, Ausstellungen, Foren und anderen öffentlichen Veranstaltungen zum Thema teilzunehmen, in der nationalen Presse und im Fernsehen für die NST zu werben sowie einmal monatlich eine Informationsblatt des Verbandes herauszugeben. Der Verband hat es sich zum Ziel gesetzt, mit verwandten Organisationen und Publikationen im Ausland Kontakt zu halten.

(1)
"Television in Austria 1955-1987" by Heidi Grundman quotes Viktor Ergert: 250 Jahre Rundfunk in Österreich". Volumes II (1975) and IV (1985) (Residenz Verlag, Salzburg) to examine the early Austrian television situation und the beginnings of ORF in Mignot, Dorine, editor. Revision: art Programmes of European TV Stations. The Stedelijk Museum, Amsterdam, 1987, pages 8-15. zurück

(2)
Fireman, Judy. ed. TV-Book. Workman Publishing Co., New York, 1977, pages 10-98. zurück

(3)
Sterling, Christopher H. and John M. Kitross, Stay Tuned: A concise History of American Broadcasting,. Wadsworth Publishing Co.,. Belmont Ca., 1978, page 307. zurück

(4)
1950 – the same year – the Zenith Corp. was allowed to test its experimental Phonevision System for 90 days in Chicago. zurück

(5)
"Resistance by Satellite" by Martin Lucas and Martha Wallner, in Dowmunt Tony, editor. Channels of Resistance: Global Television and Local Empowerment. British Film Institute and Channel 4 TV, London, 1993, pages 176-194. zurück

(6)
Smith, Hedrick, The Russians. Avon Books, New York, 1991, pages 49-173. zurück

(7)
Adrienne Jenik. "What is Paper Tiger Anyway?" ROAR! The Paper Tiger Television Guide to Media Activism, The Paper Tiger Television Collective. New York 1991 zurück


CHECKPOINT 95 CREDITS

erdacht und konzipiert von Stadtwerkstatt-TV Donke, Hauenschild, Lehner, Ritter
Internationale Initiative: Kathy Rae Huffman
Technische Leitung und Parallel Raum Display: Thomas Lehner
Produktionsleitung: Stadtwerkstatt-TV
Produktion Linz: Stadtwerkstatt-TV. Peter Donke. Brigitte Vasicek.
Redaktion: Georg Ritter. Gabriele Kepplinger
Produktion Moskau: ANST, Tatjana Didenko
Redaktion: Anatoly Prokhorov
Produktion New York: Paper Tiger TV. Karin Helmerson, Martin Lucas
Redaktion: Joseph Di Mattia

Team Linz
Bildregie: Thomas Lehner
Bildmischung: Elke Rittenschober
Schauspielleitung: Caspar v. Erffa
Kameraregie: Wolfgang Lehner
Computer Graphik: Peter Hauenschild, Herbert Schager
Sound & Music: Dee Dee Neidhard, Mark Vojka, Peter Postl
Technical Design: Thomas Lehner
Meßtechnik: Gerhard Blöchl
Techn. Betreuung PRD: Franz Xaver
Video- & Computer: Margarete Jahrmann, Max Moswitzer
Set Design: Georg Lindorfer
Licht Design: Wolfgang Lehner
Still Photography: Norbert Artner, Nigel Dickinson
Produktionsbegleitung: Joachim Eckö
PR Koordination: Peter Donke, Gerald Harringer
WWW Koordinator: Paul Fischnaller
Produktionsteam: Judith Vorbach, Andreas Ehrenberger, Andreas Kozmann, Horst Mayerhofer, Alfred Wögerbauer, Horst Spannlang, Dominique Bejvl, Juha Balou, und viele andere

Team New York
Paper Tiger Television Production Team: Mike Eisenmenger (WWW Coordinator). Mary Feaster, Jessica Glass, Javier Hernandez-Miyares, Linda Iannacone, Adrienne Jenik, Rick Jungers, Kym Maxwell, rachel melman, Freddy Molina, Carlos Satsedo, Roy Wilson, and friends.

Team Moscow
Associate producer: A. Schamazskiy
PR Coordinator: Tatyana Moguilevskaya
Supervising script: Sophia Sarovskaza
Photographer: Alexei Shulgin
Computer Graphics: Vladimir Koschkin & Co.
Video Graphics: Sergei Schutov & Co
Sound-Music: D. Ariupin & V. Saveliev
Videoclips-Doc Spots: A. Schamazskiz & T. Didenko
Technical Design: S. Antipov & 0. Kunin
Set Design: Vladimir Rzlioce
Lighting Design: A. Vartarnihn
WWW Coordinator: Eugene Peskin

Dank an
ORF Landesstudio OÖ, ORF-Kunststücke, 3sat, LIVA, Landesmuseum OÖ, The Media Center, Borough of Manhattan Community College, Deep Dish Satellite TV Network, Interactive Telecommunications Program, New York University, Manhattan Neighborhood Network, Whitney Museum of American Art.
Russian State Television and Radio Broadasting Company (RTR)
Pilot, Soros Center for Contemporary Art, Moskau
Kunstlabor, Leo Schatzl, DNS Studio, U.N.D. Fischer Film, Suter + Suter, Stadt Linz, Ars Electronica BG

CHECKPOINT '95 im Netz: Die Konferenz läuft
Beiträge zum Thema ab jetzt an & von The Whitney Museum of American Art Cybersponsor on the World Wide Web
http://www/echonyc.com/whitney/WMAA/wetcome.html
Ars Electronica Center http://www.ars.co.at/ars/