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Lügen und Agieren: Potemkinsche Dörfer, das Kino und die Telepräsenz – Bemerkungen zu Checkpoint ´95


'Lev Manovich Lev Manovich

Welche neuen Möglichkeiten der Täuschung und der Aktion bieten uns die neuen Technologien?
Ausgehend von den Elementen von Checkpoint '95 soll im folgenden diese Frage behandelt werden.

1. LÜGEN
1.
Nehmen wir den Fahrer in Moskau. Er sitzt in einem stationären Auto. Statt der Welt hinter der Windschutzscheibe sieht er (oder sie) ein von einem fernen Ort übertragenes Bild. Dieses Bild täuscht den Fahrer, indem es die echte Umgebung außerhalb des Autos durch eine virtuelle Umgebung ersetzt. Das Bild ist also, kurz gesagt, eine Lüge. (Ich werde darauf noch zurückkommen.)

Welche Elemente erzeugen diese Täuschung? Ein Auto; ein Fenster, das eine Schein-Realität zeigt (mit anderen Worten: ein Fenster, das als Bildschirm dient): Rußland. Meine erste Assoziation mit diesen Elementen sind die Potemkinschen Dörfer. Laut geschichtlicher Überlieferung beschloß die russische Zarin Katharina die Große gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts, durch Rußland zu reisen, um selbst zu sehen, wie die Bauern lebten. Katharinas Erster Minister und Liebhaber, Potemkin, ordnete den Bau von speziellen Scheindörfern entlang von Katharinas Reiseroute an. Die Fassaden waren der Straße zugewandt; sie befanden sich jedoch in einer gewissen Entfernung von der Straße, um ihre Künstlichkeit zu verbergen. Da Katharina die Große ihre Kutsche nie verließ, kehrte sie von ihrer Reise in der Überzeugung zurück, daß alle Bauern in Glück und Wohlstand lebten.

Diese außergewöhnliche Begebenheit kann als Metapher für das Leben in der Sowjetunion gelten. Dort war die Erfahrung der Menschen zwischen der häßlichen Realität ihres Lebens und der glänzenden Fassade der offiziellen ideologischen Darstellung gespalten. Die Spaltung war jedoch nicht nur eine metaphorische, sondern auch eine buchstäbliche, vor allem in Moskau, der kommunistischen Musterstadt. Wenn hochrangige ausländische Gäste Moskau besuchten, dann wurden sie, wie Katharina, in Luxuslimousinen auf einigen ausgewählten Routen durch die Stadt geführt. Entlang dieser Straßen waren alte Gebäude frisch gestrichen, die Auslagen der Geschäfte waren mit Konsumgütern gefüllt, und es waren auch keine Betrunkenen zu sehen, denn diese waren schon am frühen Morgen von der Polizei entfernt worden. Die graue, schäbige, zerrüttete, amorphe sowjetische Realität wurde vor den Besuchern sorgfältig verborgen.

Mit dieser Verwandlung ausgewählter Straßenzüge in Scheinfassaden übernahmen die sowjetischen Herrscher die Technik des achtzehnten Jahrhunderts, falsche Wirklichkeiten vorzutäuschen. Das zwanzigste Jahrhundert brachte dafür jedoch eine viel effektivere Methode mit sich: das Kino. Indem es das Fenster einer Kutsche oder eines Autos durch einen Bildschirm ersetzte, auf den Bilder projiziert wurden, schuf das Kino neue Möglichkeiten der Täuschung.

Das herkömmliche Unterhaltungskino basiert darauf, daß der Zuseher belogen wird. Ein glänzendes Beispiel dafür ist die Konstruktion des filmischen Raumes. Traditionelles Unterhaltungskino versetzt uns in eine bestimmte Umgebung: einen Raum, ein Haus, eine Stadt, die zumeist nicht wirklich existieren. Was existiert, sind lediglich einige sorgfältig in einem Studio aufgebaute Teile. Aus diesen unzusammenhängenden Fragmenten synthetisiert der Film die Illusion einer zusammenhängenden Umgebung.

Die Entwicklung der für diese Synthese notwendigen Technologien fällt zeitlich mit dem Wandel von einem sogenannten "primitiven" zu einem "klassischen" Filmstil des amerikanischen Kinos zwischen 1907 und 1917 zusammen. Vor dieser Zeit waren der Zuschauerraum und der Platz der Leinwand klar voneinander getrennt gewesen, ähnlich wie im Theater oder im Vaudeville. Die Zuschauer konnten sich miteinander unterhalten, jederzeit kommen und gehen und eine psychologische Distanz von der filmischen Diegese bewahren. Folglich war auch das Darstellungssystem in den frühen Filmen ein präsentatives: Die Schauspieler wandten sich direkt dem Publikum zu, und der Stil war rein frontal. (1) Auch die Szenengestaltung unterstrich die Frontalität.

Im Gegensatz dazu versetzt das klassische Hollywood-Kino jeden Zuschauer direkt in den Raum der Handlung. Der Zuschauer wird aufgefordert, sich mit den handelnden Figuren zu identifizieren und die Geschichte aus ihrer Sicht zu erleben. Folglich dient der Raum auch nicht mehr als theaterartiger Hintergrund. Statt dessen sieht der Zuschauer dank neuer Kompositionsprinzipien, Inszenierung, Szenenaufbau, Tiefenschärfeaufnahmen, Beleuchtung und Kamerabewegung jede Szene aus der jeweils optimalen Perspektive. Er ist in einer Umgebung "anwesend", die es nicht wirklich gibt. Eine Schein-Umgebung. (Meistens verbirgt das Hollywood-Kino die Künstlichkeit des von ihm geschaffenen Raumes sorgfältig, doch es gibt eine Ausnahme: die Hintergrundprojektion. Üblicherweise sitzen die Schauspieler dabei in einem stationären Auto, wie in Checkpoint '95, und ein Film der vorbeiziehenden Landschaft wird auf eine Leinwand hinter den Autofenstern projiziert. Die Künstlichkeit dieser Aufnahmen steht in auffälligem Kontrast zum bruchlosen Stil des Hollywood-Kinos im allgemeinen.)

Die Schaffung eines zusammenhängenden Raumes aus getrennten Bruchstücken ist nur ein Beispiel dafür, wie das Unterhaltungskino den Zuschauer betrügt. Ganz allgemein betrachtet, besteht ein Film aus mehreren getrennten Bildsequenzen. Diese Sequenzen können von verschiedenen physischen Orten stammen. Zwei aufeinanderfolgende Szenen in scheinbar ein und demselben Raum können von zwei Stellen innerhalb eines Studios stammen. Sie können aber auch von verschiedenen Orten in Moskau und Linz, oder in Linz und New York stammen. Der Zuschauer wird es nie erfahren.

Dies ist einer der wesentlichsten Vorteile des Kinos gegenüber älteren Illusionstechniken, seien es nun die Potemkinschen Dörfer des achtzehnten oder die Panoramas und Dioramas des neunzehnten Jahrhunderts. Bevor es das Kino gab, war die Illusion auf die Errichtung eines scheinbaren Raumes innerhalb des realen, für den Betrachter sichtbaren Raumes beschränkt. Beispiele hierfür sind Theaterkulissen und militärische Attrappen. Im neunzehnten Jahrhundert stellten die Panoramas, die dem Betrachter den vollen 360-Grad-Blickwinkel boten und so den Schein-Raum vergrößerten, bereits eine gewisse Verfeinerung dieser Techniken dar. Louis-Jacques Daguerre führte eine weitere Neuerung ein: In seinem Londoner Diorama konnten sich die Besucher von einer Szene zur nächsten bewegen. Paul Johnson beschrieb das Diorama als "Amphitheater, das 200 Besuchern Platz bot und sich über einen 73-Grad-Bogen erstreckte, von einem 'Bild' zum nächsten. Jedes Bild wurde durch ein 260 m2 großes Fenster betrachtet.“ (2) Doch Potemkin hatte diese Technik schon im 18. Jahrhundert an ihre Grenzen geführt: Er schuf eine gigantische Fassade – ein hunderte Meilen langes Diorama – an dem die Betrachterin (Katharina die Große) entlangfuhr. Im Kino bleibt der Zuschauer stationär: Was sich bewegt, ist der Film selbst.

Wenn also die früheren Illusionstechniken durch die Materialität des Körpers des Betrachters beschränkt waren, der an einem bestimmten Punkt von Raum und Zeit existiert, so überwindet der Film diese räumlichen und zeitlichen Grenzen. Er erreicht dies dadurch, daß er das unmittelbare menschliche Sehen durch aufgezeichnete Bilder ersetzt und diese Bilder zusammenschneidet. Durch den Schnitt schaffen Bilder, die an verschiedenen geographischen Plätzen oder zu verschiedenen Zeiten aufgenommen worden sein könnten, die Illusion einer Einheit von Raum und Zeit.

Schnitt, oder Montage, ist die wichtigste Methode des 20. Jahrhunderts zur Erzeugung von Scheinwirklichkeiten. In der Filmtheorie wird zwischen vielen verschiedenen Montagetypen unterschieden; ich werde zur Darstellung der Archäologie der Technologien der Täuschung aber hauptsächlich zwischen zwei grundlegenden Methoden unterscheiden. Die erste ist die Einzelbildmontage: Getrennte Wirklichkeiten werden zu möglichen Teilen eines einzigen Bildes. (Ein Beispiel dafür ist die Hintergrundprojektion.) Die zweite Methode ist das Gegenteil der ersten: getrennte Wirklichkeiten werden zu zeitlich aufeinanderfolgenden Momenten. Diese zweite Technik der zeitlichen Montage ist die bei weitem häufigere; sie ist meistens auch gemeint, wenn man von Filmmontage spricht. In einem Unterhaltungsfilm erfüllt die zeitliche Montage eine Reihe von Aufgaben. Wie bereits erwähnt, schafft sie ein Gefühl der Präsenz in einem virtuellen Raum. Sie wird auch verwendet, um die Bedeutung einzelner Aufnahmen zu verändern (denken wir nur an den Kuleschow-Effekt), oder besser gesagt, um aus unzusammenhängenden Versatzstücken vorfilmischer Realität Bedeutung zu erzeugen.

Die Anwendung der zeitlichen Montage geht jedoch über die Konstruktion einer künstlerischen Fiktion hinaus. Die Montage wird – durch ihre Verwendung in Propagandafilmen, Dokumentationen, Nachrichtensendungen, Werbung etc. – auch eine der wichtigsten Methoden der ideologischen Manipulation.

Der Pionier dieser ideologischen Montage ist Dziga Vertov. Im Jahr 1923 analysierte Vertov, wie er Episoden seiner Nachrichtenschau "Kino-Pravda" (Kino-Wahrheit) aus Aufnahmen zusammenstellte, die zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten entstanden waren. Hier ein Beispiel seiner Montagetechnik: "die Leichen der Volkshelden werden in ihre Gräber hinabgesenkt (aufgenommen 1918 in Astrachan); Gräber werden mit Erde bedeckt (Kronstadt 1921); Salutschüsse (Petrograd 1920); zum ewigen Gedenken, die Menschen nehmen ihre Hüte ab (Moskau 1922)". Und ein anderes Beispiel: "Montage der Begrüßung des Genossen Lenin durch die Massen und Montage der Begrüßung des Genossen Lenin durch die Maschinen, aufgenommen zu verschiedenen Zeiten". (3) Wie auch Vertov in seiner Theorie bereits erkannte, kann der Film durch die Montage seine Zeichenhaftigkeit überwinden, indem er dem Zuschauer Objekte präsentiert, die in Wirklichkeit nie existierten.

2.
Abseits des Kinos wurde die Einzelbildmontage zu einer Standardtechnik der modernen Fotographie und des modernen Design (Fotomontagen von Alexander Rodtschenko, El Lissitzky, Hannah Hoch, John Heartfield und zahllosen anderen, weniger bekannten Designern des zwanzigsten Jahrhunderts). Im Bereich der bewegten Bilder dominiert jedoch die zeitliche Montage. Die zeitliche Montage ist das wichtigste Mittel, dessen sich das Kino zur Schaffung von Scheinwirklichkeiten bedient.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kommt es zu einer allmählichen Verschiebung von der filmischen zur elektronischen Bildaufzeichnung. Dabei entsteht auch eine neue Technik: das Keying (auch: Chromakey-Technik). Keying ist heute eine der grundlegenden Methoden in der Video- und Fernsehproduktion: es besteht in der Kombination von zwei verschiedenen Bildquellen. Jeder beliebige einfärbige Teil eines Video-Bildes kann ausgeschnitten und von einer anderen Quelle ersetzt werden. Von besonderer Bedeutung ist, daß diese Quelle eine an irgendeinem Ort aufgestellte Live-Videokamera, ein voraufgezeichnetes Band oder eine Computergraphik sein kann. Die Möglichkeiten der Schaffung von Scheinrealität werden dadurch erneut vervielfacht.

Als in den siebziger Jahren das elektronische Keying eine Standardtechnik des Fernsehens wurde, begann man die Einzelbildmontage nicht nur bei Standbildern, sondern auch bei längeren Sequenzen regelmäßig zu verwenden. Hintergrundprojektionen und andere Spezialeinstellungen, die im klassischen Film bis dahin nur marginale Bedeutung hatten, wurden nun zur Norm: der Fernsehmeteorologe vor einer Wetterkarte, der Nachrichtensprecher vor dem Bericht über ein spezielles Ereignis, der Sänger vor einer Animations-Sequenz in einem Musikvideo.

Ein durch Keying geschaffenes Bild zeigt eine hybride Realität, die aus zwei verschiedenen Räumen besteht. Im Fernsehen werden diese beiden Räume thematisch, nicht jedoch visuell verknüpft. Oft sieht man beispielsweise eine Nachrichtensprecherin, die im Studio sitzt, während hinter ihr, in einem Bildausschnitt, ein Bericht über ein bestimmtes Ereignis zu sehen ist. Wo die klassische Kino-Montage die Illusion eines zusammenhängenden Raumes erzeugt und ihr eigenes Wirken verbirgt, dort konfrontiert die elektronische Montage den Zuseher offen mit der scheinbaren Kollision verschiedener Räume.

Was wird passieren,wenn diese zwei Räume nahtlos miteinander verschmelzen? Dieser Vorgang bildet die Ausgangsbasis des bemerkenswerten Videos "Steps" (Schritte) von Zbignew Rybczynski aus dem Jahr 1987. "Steps" wurde auf Videoband gedreht und verwendet die Technik des Keying sowie verschiedenes Filmmaterial; unbewußt verweist das Video auch auf die Virtual Reality. Dabei verbindet Rybczynski drei Generationen von Illusionstechnologien: die analoge, die abstrakte und die digitale. Er erinnert uns auch daran, daß es die sowjetischen Filmemacher der zwanziger Jahre waren, die als erste das volle Potential der Montage erkannten, das auch heute noch durch elektronische und digitale Medien erforscht und erweitert wird.

In dem Video wird eine Gruppe amerikanischer Touristen in ein hochmodernes Videostudio eingeladen, um an einer Art von Virtual-Reality-/Zeitmaschinen-Experiment teilzunehmen. Die Gruppe wird vor einem Blue Screen aufgestellt. Im nächsten Moment finden sich die Touristen buchstäblich in der berühmten "Stiegenszene" in Odessa aus Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin" wieder. Rybczynski schneidet mittels Keying gekonnt die Aufnahmen der Menschen im Studio in die Szenen aus "Panzerkreuzer Potemkin" und erzeugt so einen einzigen, zusammenhängenden Raum. Gleichzeitig unterstreicht er die Künstlichkeit dieses Raumes durch den Kontrast zwischen den farbigen Videoaufnahmen der Touristen und dem körnigen Schwarz-Weiß von Eisensteins Originalaufnahmen. Die Touristen spazieren die Stiege auf und ab, machen Bilder von den angreifenden Soldaten oder spielen mit einem Baby in einem Kinderwagen. Allmählich beginnen diese zwei Wirklichkeiten zu interagieren und sich zu vermischen: Einige Touristen werden von Soldaten aus Eisensteins Sequenz angeschossen und stürzen auf die Stufen; ein Tourist läßt einen Apfel fallen, der von einem Soldaten aufgehoben wird.

Die Stiegenszene von Odessa, eines der berühmtesten Beispiele filmischer Montage, wird hier nur zu einem von mehreren Elementen in Rybczynskis ironischem "Remix". Die Originalszenen, die bereits von Eisenstein bearbeitet wurden, werden nun neu mit den Videoaufnahmen der Touristen zusammengeschnitten, wobei sowohl zeitliche Montage als auch Einzelbildmontage verwendet werden, letztere mittels Video-Keying. "Filmstil" und "Videostil", Farb- und Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die "Gegenwärtigkeit" des Videos und das "Immer-Schon" des Films stehen nebeneinander.

In "Steps" löst Eisensteins Sequenz eine Reihe von solchen Kontrastierungen, Überlagerungen, Mischungen und Neuabmischungen aus, aber Rybczynski behandelt sie nicht nur als einzelnes Element seiner eigenen Montage, sondern auch als einzigartigen. physisch existierenden Raum. Mit anderen Worten, die Stiegensequenz in Odessa wird als einheitliche Szene interpretiert, die an einem realen Ort existiert, der wie jede andere Sehenswürdigkeit auch besucht werden kann.

3.
Die nächste Generation von Technologien zur Schaffung von Scheinwirklichkeiten sind die digitalen Medien. Digitale Medien stellen keine konzeptuell neuen Techniken dar, sondern erweitern nur die Möglichkeiten der Verbindung von zwei verschiedenen Bildquellen innerhalb einer Aufnahme. Anstatt die Bilder zweier Video-Quellen durch Keying zu verbinden, können wir nun eine unbegrenzte Zahl von Bildschichten zusammenstellen. Eine Aufnahme kann aus dutzenden, sogar hunderten Schichten bestehen, die von verschiedenen Quellen stammen: Material, das an einem echten Schauplatz gedreht wurde, computergenerierte Szenen oder Schauspieler, digitale Matte Paintings, Archivmaterial etc. Die meisten neueren Hollywood-Filme, nicht nur "Jurassic Park" oder "Terminator 2", enthalten solche Aufnahmen.

Historisch gesehen kann ein digital erzeugtes Bild, ebenso wie ein durch elektronisches Keying entstandenes Bild als Weiterentwicklung der Einzelbildmontage betrachtet werden. Während aber das elektronische Keying unzusammenhängende Räume erzeugt, die an die avantgardistischen Collagen der zwanziger Jahre von Rodtschenko oder Moholy-Nagy erinnern, läßt die Digitalbildtechnik an die im 19. Jahrhundert von Henry Peach Robinson oder Oscar G. Reijlander geprägte Technik der Erzeugung übergangsloser "combination prints" denken. Was sich im neunzehnten Jahrhundert auf Standbilder beschränkte, ist nun aber auch für die "laufenden Bilder" möglich. Ein bewegter "Kombinationsdruck" des neunzehnten Jahrhunderts: Dies ist der gegenwärtige Stand der Technik zur Erzeugung optischer Täuschungen.
II. AGIEREN
1.
Bisher habe ich mich mit den geschichtlichen Zusammenhängen einiger jener Techniken der Täuschung befaßt, an die Checkpoint '95 erinnert: Scheinarchitektur, Montage, Video Keying. Nun möchte ich mich der zweiten Achse zuwenden, entlang derer die Geschichte optischer Darstellungen verläuft: der Aktion.

Lassen Sie mich dafür zuerst auf Checkpoint '95 zurückkommen. Ein kleines Modellauto, auf dem eine Fernsehkamera befestigt ist, fährt über die Nibelungenbrücke. Das von der Kamera aufgenommene Bild wird gleichzeitig nach Linz, New York und Moskau übertragen. Der Fahrer, der in einem stationären Auto in einer dieser Städte sitzt, trägt ein Head-Mounted Display. Dieses erlaubt ihm (oder ihr), gleichzeitig die eigenen Hände am Lenkrad und das vom Modellauto übertragene Bild zu sehen und so das Modellauto fernzusteuern. Kurz gesagt, der Fahrer wird "telepräsent".

Wenn wir die Welt an sich betrachten, dann bedeutet der Begriff "Telepräsenz" Präsenz über eine Entfernung hinweg. Aber Präsenz wo? Brenda Laurel definiert Telepräsenz als "ein Medium, das dem Benutzer erlaubt, seinen Körper in eine andere Umwelt mitzunehmen … Man kann einen gewissen Grundbestand seiner Sinne in eine andere Umgebung mitnehmen. Diese Umgebung kann sowohl eine vom Computer erzeugte, eine von einer Kamera aufgenommene oder auch eine Kombination dieser beiden Möglichkeiten sein." (4) In dieser Definition umfaßt Telepräsenz zwei verschiedene Situationen: "Anwesenheit" in einer synthetischen, computergenerierten Umwelt (das, was meistens mit "virtual reality" gemeint ist) und "Anwesenheit" an einem realen, entfernten physischen Ort mittels eines Live übertragenen Videobildes. Auch Scott Fisher, der an der Entwicklung der "Ames Virtual Environment Workstation" der NASA beteiligt war, unterscheidet nicht zwischen der "Anwesenheit" in einer computergenerierten Umgebung und jener an einem realen, entfernten physischen Ort. In seiner Darstellung des Ames-Systems schreibt er: "Virtuelle Umwelten im Ames-System werden durch computergenerierte 3D-Bilder erzeugt, ODER werden durch vom Benutzer gesteuerte, stereoskopische Videokamera-Konfigurationen über Remote Sensing wahrgenommen". (5) Fisher benutzt "virtuelle Umwelten" als generellen Begriff und beschränkt "Telepräsenz" auf die zweite Situation: die "Anwesenheit" an einem entfernten realen Ort. (6) Ich übernehme hier seinen Gebrauch.

Sowohl die Massenmedien als auch die Kritiker haben den Gedanken der Telepräsenz zugunsten der virtuellen Realität in den Hintergrund gerückt. Über die Fotoaufnahmen des Ames-Systems ist beispielsweise oft berichtet worden, um die Vorstellung der Flucht aus dem physischen Raum in eine vom Computer erzeugte Welt zu illustrieren.

Der Umstand, daß ein Head-Mounted Display auch das fernübertragene Bild eines entfernten realen Ortes zeigen kann, wurde kaum jemals erwähnt.
Trotzdem ist die Telepräsenz, vom Standpunkt der Geschichte von Illusions- und Aktionstechnologien betrachtet, bei weitem radikaler als die Virtuat Reality oder Computersimulationen im allgemeinen. Worin unterscheiden sich nun diese beiden Konzepte?

Wie auch frühere Methoden der Schaffung von Scheinwirklichkeit gibt die virtuelle Realität dem Subjekt die Illusion, sich in einer simulierten Welt zu befinden. Die virtuelle Realität geht jedoch noch darüber hinaus und erlaubt dem Menschen, diese Welt aktiv zu beeinflussen. Mit anderen Worten, er erhält Kontrolle über eine Scheinwirklichkeit. Ein Architekt kann beispielsweise ein architektonisches Modell modifizieren, ein Chemiker verschiedene Molekularstrukturen testen, ein Panzerfahrer auf ein Panzermodell schießen etc. Was dabei aber verändert wird, sind immer nur die Daten im Speicher eines Computers! Die Macht des Benutzers jeglicher Computersimulation erstreckt sich über eine Welt, die lediglich in einem Computer existiert.

Telepräsenz erlaubt es dem Benutzer hingegen, nicht nur die Simulation, sondern die Realität selbst zu beeinflussen. Sie gibt ihm die Möglichkeit, die physische Realität über ihre Abbildung in Echtzeit zu steuern. Der Körper eines Teleagenten wird in Echtzeit an einen anderen Ort versetzt, wo er nach den Anweisungen des Subjekts agieren kann, um beispielsweise eine Raumstation zu reparieren, Unterwasser-Ausgrabungen vorzunehmen oder ein Modellauto über die Nibelungenbrücke zu lenken.

Das Wesen der Telepräsenz besteht daher darin, daß sie Anti-Präsenz ist. Ich muß nicht physisch an einem bestimmten Ort anwesend sein, um die Realität dieses Ortes zu beeinflussen. Ein besserer Ausdruck wäre daher Teleaktion, Agieren über eine Entfernung hinweg. In Echtzeit.

Katharina der Großen wurden bemalte Fassaden als echte Dörfer vorgegaukelt. Heute können wir (wie der Golfkrieg zeigte) Raketen, die mit Fernsehkameras ausgestattet sind, über tausende Meilen hinweg so genau lenken, daß wir den Unterschied zwischen dem Ziel und einer Attrappe feststellen können. Wir können die Flugbahn der Rakete über das von der Kamera übermittelte Bild steuern und sie genau auf das Ziel ausrichten. Und mittels desselben Bildes sprengen wir dann das Ziel in die Luft. Man muß nur den Computer-Cursor auf die richtige Stelle des Bildes plazieren und auf einen Knopf drücken.

2.
Wie neu ist diese Nutzung der Bilder? Entsteht sie aus der Telepräsenz?

Da wir gewohnt sind, die Geschichte der optischen Darstellungen im Westen vom Standpunkt der Illusion zu betrachten, könnte man annehmen, daß die Verwendung von Bildern als Auslöser von Aktion eine völlig neue Erscheinung darstellt. Der französische Philosoph und Soziologe Bruno Latour meint jedoch, daß bestimmte Arten von Bilder immer schon als Instrumente der Kontrolle und der Macht gedient haben,wobei Macht als die Fähigkeit definiert wird, Mittel über Raum und Zeit zu mobilisieren und zu nutzen. (7)

Ein von Latour analysiertes Beispiel solcher Bild-Instrumente sind perspektivische Bilder. Die Perspektive erzeugt die präzise, wechselseitige Beziehung zwischen den Objekten und ihren Symbolen. Wir können von den Objekten zu den Symbolen (zweidimensionalen Repräsentationen) gehen: aber wir können auch von den Symbolen zu den dreidimensionalen Objekten gehen. Diese Wechselbeziehung erlaubt es uns nicht nur, die Realität darzustellen, sondern auch, sie zu steuern. Wir können beispielsweise die Sonne nicht direkt im Weltraum vermessen, aber wir brauchen nur ein kleines Lineal, um sie auf einem Foto abzumessen (das perspektivische Bild par excellence). (8) Und auch wenn wir um die Sonne fliegen könnten, wäre es praktischer für uns, wenn wir die Sonne erst anhand der Darstellungen erforschen, die wir von dieser Reise mitbringen – denn dann haben wir unbegrenzt Zeit, diese Bilder zu vermessen, zu analysieren und zu katalogisieren. Wir können Objekte von einem Platz zum anderen bewegen, indem wir einfach ihre Repräsentationen verschieben: "Man kann eine Kirche in Rom sehen und in London mit sich herumtragen, um sie dort zu rekonstruieren, oder man kann zurück nach Rom fahren, um das Bild zu modifizieren." Schließlich können wir auch nicht vorhandene Dinge darstellen und unsere räumliche Bewegung anhand von Repräsentationen planen: "Man kann die Insel Sachalin nicht riechen, hören oder berühren, aber man kann die Karte betrachten und bestimmen, von welcher Position aus man das Land sehen wird, wenn man die nächste Flotte sendet.“ (9) Alles in allem ist die Perspektive mehr als nur ein Zeichensystem, das die Realität reflektiert – sie macht die Manipulation der Realität durch die Manipulation ihrer Symbole möglich.

Die Perspektive ist nur eine Beispiel für Bild-Instrumente. Jede Repräsentation, die systematisch Merkmale der Realität einfängt, kann als Instrument verwendet werden. Tatsächlich fallen ja die meisten Darstellungsformen, die nicht zur Geschichte des Illusionismus gehören – Diagramme und Tabellen, Landkarten und Röntgenstrahlen, Infrarot- und Radaraufnahmen –, in die zweite Kategorie: jene der Repräsentationen als Aktionsinstrumente.

Wenn also Bilder schon immer benutzt wurden, um die Realität zu beeinflussen – bringt die Telepräsenz dann irgend etwas Neues? Eine Landkarte beispielsweise erlaubt bereits eine Art von Teleaktion: Sie kann benutzt werden, um die Zukunft vorherzusagen und damit zu ändern. Um nochmals Latour zu zitieren: "Man kann die Insel Sachalin nicht riechen, hören oder berühren, aber man kann die Karte betrachten und bestimmen, von welcher Position aus man das Land sehen wird,wenn man die nächste Flotte sendet."

Meiner Meinung nach bestehen hier zwei grundlegende Unterschiede. Da die Telepräsenz durch die Übertragung von Videobildern entsteht, findet die Konstruktion von Repräsentationen sofort statt. Die Herstellung von Perspektivzeichnungen oder Diagrammen, das Aufnehmen von Fotos oder das Drehen von Filmen braucht Zeit. Jetzt kann ich eine ferngesteuerte Videokamera benutzen, die Bilder in Echtzeit aufnimmt und diese Bilder ohne Verzögerung an mich zurücksendet. Dies ermöglicht mir, jegliche sichtbaren Veränderungen an einem entfernten Ort zu beobachten (Wetterbedingungen, Truppenbewegungen etc.) und meine Handlungen entsprechend anzupassen.

Der zweite Unterschied hängt direkt mit dem ersten zusammen. Die Möglichkeit, in Echtzeit visuelle Informationen über einen entfernten Ort zu erhalten, erlaubt es uns, die physische Realität dieses Ortes zu beeinflussen, und zwar ebenfalls in Echtzeit. Wenn Macht, laut Latour, auch die Fähigkeit miteinschließt, Mittel über eine Entfernung steuern zu können, dann gibt uns die Teleaktion eine neue, einzigartige Form der Macht: Echtzeit-Fernsteuerung. Ich kann ein Modellauto steuern, eine Raumstation reparieren, Unterwasserausgrabungen durchführen, einen Patienten operieren oder jemanden töten – alles aus der Entfernung.

Welche Technologie ist für diese neue Macht verantwortlich? Da der Teleagent mit Hilfe eines Live-Videobildes agiert, könnte man zuerst denken, es sei die Video- oder, genauer gesagt, die Televisionstechnik, wenn man sich die ursprüngliche Bedeutung von Television im 19. Jahrhundert ins Gedächtnis ruft: Sehen über eine Entfernung. Erst seit den zwanziger Jahren, als Television (Fernsehen) mit der Ausstrahlung von Sendungen gleichgesetzt wurde, tritt diese Bedeutung in den Hintergrund. In den fünfzig Jahren davor aber (die Television nahm ungefähr 1870 ihren Anfang) waren die Fernsehpioniere hauptsächlich mit dem Problem der Übertragung aufeinanderfolgender Bilder von einem entfernten Ort zur Ermöglichung von "Fern-Sehen" beschäftigt.

Wenn Bilder in regelmäßigen Intervallen übertragen werden und diese Intervalle kurz genug sind, dann erhält der Betrachter genug Informationen über den entfernten Ort, um in Teleaktion zu treten. Moderne Fernsehbilder basieren auf der Abtastung der Realität mit einer Auflösung von einigen hundert Zeilen sechzig Mal pro Sekunde (frühe Televisionssysteme beruhten auf der langsamen mechanischen Abtastung und einer Auflösung von manchmal nicht mehr als dreißig Linien). Radarbilder basieren auf einer Abtastung der Realität, bei der alle paar Sekunden das Sichtbare auf einen einzigen Punkt konzentriert wird. Ein Radarbild enthält im Gegensatz zu einem Fernsehbild keine Hinweise auf Form, Struktur und Farbe – es hält nur die Position eines Objekts fest. Trotzdem ist diese Information völlig ausreichend für die elementarste Form von Teleaktion: die Zerstörung eines Objekts.

Die Technologie, die die Teleaktion ermöglicht, ist also die elektronische Übertragung von Signalen oder, in anderen Worten, die elektronische Telekommunikation. Elektrizität und Elektromagnetismus, jene Entdeckungen des neunzehnten Jahrhunderts, sind es, die die neue und beispiellose Beziehung zwischen Objekten und ihren Symbolen in der Teleaktion möglich machen. In der elektronischen Telekommunikation wird nicht nur den Prozeß der Verwandlung von Objekten in Symbole unmittelbar, sondern auch der umgekehrte Vorgang – die Manipulation der Objekte durch diese Symbole.

3.
Umberto Eco definierte ein Symbol einmal als etwas, das benutzt werden kann, um eine Lüge zu erzählen. Diese Definition ist eine korrekte Beschreibung einer Funktion visueller Repräsentationen – jener der Täuschung. Im Zeitalter der elektronischen Telekommunikation brauchen wir aber eine neue Definition: Ein Symbol ist etwas, das benutzt werden kann, um in Teleaktion zu treten.


(1)
Zum Präsentationssystem des frühen Kinos siehe:
Musser, Charles. The Emergence of Cinema: The American Screen to 1907. Berkeley: University of California Press. 1990. S. 3. zurück

(2)
Johnson, Paul. The Birth of the Modern: World Society 1815-1830. London: Orion House. 1992. S. 156. zurück

(3)
Vertov, Dziga. Kinoki. Perevorot. (Kinoki. Eine Revolution). LEF 3 (1923). S. 140. zurück

(4)
Laurel, Brenda. Zitiert nach Coyle. Rebecca: "The Genesis of Virtual Reality". in: Future Visions: New Technologies of the Screen (Hg.: Hayward, Philip und Wollen. Tana). London: British Film Institute. 1993.S.162. zurück

(5)
Fisher, Scott. "Visual Interface Environments". in: The Art of Human-Computer Interface Design (Hg.: Laurel. Brenda). Reading. Mass.: Addison-Wesley Publishing Company Inc.. 1990. S. 430. Hervorhebung von mir – LM. zurück

(6)
Fisher definiert Telepräsenz als "eine Technologie, mit der das Steuerpersonat ausreichende Sensor-Rückmeldung erhalten würde, um das Gefühl zu bekommen, daß es sich wirklich direkt an diesem entfernten Ort befindet und dort verschiedene Arbeiten ausführen kann" (ebd. S. 427). zurück

(7)
Latour. Bruno. "Visualization and Cognition: Thinking with Eyes and Hands", in: Knowledge and Society: Studies in the Sociology of Culture Past and Present 6.1986. S. 1-40. zurück

(8)
Latour. S. 22. zurück

(9)
Latour. S. 8. zurück