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Ars Electronica 1995
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Granular Synthesis
Modell 5.5

'Kurt Hentschläger Kurt Hentschläger

1 GRANULAR SYNTHESIS ist ein 1992 gestartetes work in progress, dessen Operationsfeld im Konstitutionszusammenhang von Komplexität und Zeit mit einer produktionsästhetischen Semantik reflektiert wird.

1.1 "Es ist der Begriff der Energieorganisation in der Zeit, der für mich der Schlüssel für alle Veränderung im Leben ist" sagt der amerikanische Medien-Kunst-Pionier Woody Vasulka 1974 in einem Gespräch. Aktuelle Modellbildungen sind auf Ereignisse in einem Organismus orientiert, wo sich Prozesse nicht um einen physikalischen Energiebegriff organisieren, sondern um Informationen. Wenn wir von der klassischen Begriffsdefinition abgehen, sind Energie und Information heute Synonyme.

1.1.1 Information ist bekanntlich nur eine Quantität, der erst in der Entkodierung eine Bedeutung zukommt. Information ist auch ein Maß für die Komplexität der von der Wahrnehmung angebotenen Formen. Komplexität und Information der Struktur einer Nachricht sind Synonyme. Komplexität ist gegeben,wenn eine zusammenhängende Menge von Elementen "auf Grund immanenter Beschränkung der Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element jederzeit mit jedem anderen verknüpft sein kann". Zusammenhang von Komplexität und Setektion kommt nur in der Zeit zustande.

2 Ausgangsmaterial für GRANULAR SYNTHESIS sind AV-Aufzeichnungen: Sequenzen von Bild- und Klangstoff. (Motiv: Kopfansichten einer lautproduzierenden Performerin.) Nach der Methode der "korrelierten Variationen" (S. Mills), die Grundlage aller experimentellen Ästhetik ist, werden aus dem Datenmaterial sogenannte "grains" (Augenblicksspektren) extrahiert und in zeitliche Zellen abgepackt. Die ästhetisch-experimentellen Modifikationen zwecks Zerstörung von bekannten Wahrnehmungsquantitäten in der Zeit erfolgen mit dem Verfahren: der partiellen Begrenzung (Filterung. etc.); der Inversion: der Transposition von Nachrichten im Kontrapunkt zwischen semantischer und ästhetischer Information einerseits und der Korrespondenz zwischen visuellen und auditiven Nachrichten andererseits; der systematischen und selektiven Erhöhung der Dynamik von auditiven und visuellen Wahrnehmungsschwellen. Die abgepackten Zellen werden in mehreren parallelen autonomen Ebenen nach bestimmten Parametern organisiert. In der Präsentationsform einer zeitlich begrenzten Aufführung wird so "ein audiovisueller Flow" erzeugt, der mit einem online-gefahrenen rhythmischen Gitter in Beziehung gesetzt wird, verschiedenen Aggregationsniveaus, die sich wechselseitig bedingen, gleichzeitig abläuft.

2.1 In einer 1942 abgegebenen Erklärung zur Diskussion über die Aufhebung der Grenze zwischen mimetischen und nicht-mimetischen Klängen, erinnert John Cage "an ihre eher expressiven als darstellenden Eigenschaften …" (ders.: For More New Sounds.) Mit diesem Ansatz verwirklicht er 1952 die Arbeit "Imaginary Landscape No. 5" und "William Mix". Letzteres ist eine dichte Anhäufung von kleinsten Klangfragmenten aus ganz verschiedenen Quellen und ist für ein Tonband geschrieben, das mit einer Geschwindigkeit von 38 cm pro Sekunde läuft.
Der Begriff des "optischen Tonbands" taucht schon in den 60er Jahren, der Frühzeit der Video-Kunst, auf und bezeichnet ein Videotape, das musikalisch strukturiert ist. Bill Viola, der acht Jahre später als Name June Paik in der Videoszene auftaucht, betont in Interviews, daß er sich heute nicht mehr als Videokünstler bezeichnet wissen will. Er versteht sich als Künstler, dessen Werkzeug das Video ist.

2.1.1 Das Kunstsystem ist ein soziales System. Es ist also ein Teilsystem der Gesellschaft; d.h. zugleich: es besteht bei aller System-Autonomie ein transitives Verhältnis zu anderen sozialen Systemen. Als solches ist es an die gesamtgesellschaftlichen basalen Temporalstrukturen gekoppelt: einerseits fallen seine Elemente (Handlungen. Ereignisse) der Irreversibilität der Zeit an, andererseits aber der Geltung jener Strukturen, die die Zeit reversibel festhalten. Bei letzterem können zeitorientierte Erörterungen über kognitive Erwartungsstrukturen von psychischen Systemen anschließen. Das Kunstsystem ist ein nicht-lineares, dynamisches, ein temporalisiertes System, das schnell und heiß sein muß, in Wahrung seiner Autopoiesis kompatible Strukturen zu lernen imstande ist, und Semantiken reflexiver Produktion aufweist (die Reproduktion seiner ereignishaften Elemente), die den Tempoanforderungen genügen müssen.

3 GRANULAR SYNTHESIS von Hentschläger/Langheinrich steht für Abhängigkeit von einem anspruchsvollen internen Arrangement, das zugleich erhöhte Abhängigkeit von Umweltinformationen erforderlich macht: eine Konsequenz evolutionärer Entwicklung.

F.E. Rakuschan

FRANKENSTEINTECHNODRUG
Was Granular Synthesis zur Diskussion stellen, ist die (Re-) Konstruktion von Subjektivität im medialen Raum. Ihre Arbeit erinnert frappant an den Frankenstein-Mythos, dem im jüngster Zeit wieder cineastische Wiederbelebungsversuche das Wort reden. Im Unterschied zu Frankensteins Bemühungen, mit allen nur erdenklichen technischen Mitteln einen leibhaftigen Menschen zusammenzubauen, d.h. Natur zu rationalisieren und Rationalität wieder in Natur zu transformieren, subtrahieren Granular Synthesis mittels ihrer Technik der granularen Synthese das Erscheinungsbild des menschlichen Körpers von seiner Körperlichkeit. Die Grammatik ihrer Arbeit ist einfach zu beschreiben: Die Bewegungen und Töne eines menschlichen Gesichts Kopfdrehung nach links und rechts, Kopfbeugen nach vorne und zurück bei gleichzeitigem Schreien, Augen öffnen, Augenschließen, Mundöffnen, Mundschließen, etc. – werden mit Video aufgezeichnet und in der Folge in einzelne Frames zerlegt, die dann am Computer wieder zu Ton- und Bildkollagen zusammenmontiert werden, d.h. sie verwandeln Frankensteins Praxis in eine blutlose Chirurgie auf dem Screen. Das physische Element, an dem sie allein interessiert sind, ist die ästhetische Oberfläche des körperlichen Ausdrucks. Das Modell hat keine Geschichte, keine Biografie. Es bleibt sein bloßes Antlitz, aufgeheizt im Rhythmus der Reproduktion und Repetition. Was damit zur Diskussion gestellt wird, ist eine aktuelle Figur der Entfremdung, eine konstruierte Entgleisung des Persönlichen: Die Abkoppelung der Ausdruckskapazität von der Erlebnisfähigkeit und einem zugrundeliegenden Erfahrungsquantum. Während die Fratzen von Francis Bacon ihre Expressivität von Spuren des Leidens und Verzweifelns ableiten, entbehrt die über das menschliche Maß hinaus gesteigerte Ausdrucksintensität im "Modell 5" jeglicher Kausalität. Das Energiequantum, das die rotierenden Fratzen mit ihren hervorquellenden Augen und staccatohaftem Geschrei erzeugen, läßt dennoch das ersehnte Erlebnis von Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit spürbar werden, obgleich es rein auf der Oberfläche einer technophilen Grammatik basiert. Vergleichbar Technokonzerten und drogenunterstützen Erfahrungslevels erzeugen Granular Synthesis mit ihren Performances eine Pathosformel für Erlebnisfähigkeit und Selbsterfahrung jenseits realpolitischer Szenarien. Wo die Idee von Subjektivität und Individualität in unserer Gesellschaft zunehmend schwieriger zu begründen und zu erfahren wird, wird die Herstellbarkeit und Intensivierung des ästhetischen Ausdrucks für eine Form subjektiven Erlebens zum befreienden Ventil. Die Authentizität des Effekts kommentiert die Echtheit des Verlangens nach individueller Erfahrung. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß es sich dabei nur um eine verallgemeinerbare Form des Alter Ego handelt, die kollektiv im Technobeat genossen und vermittelt wird.

Die Faszination der Arbeit von Granular Synthesis rührt damit nicht zuletzt von der steten Reproduzierbarkeit und Verfügbarkeit des Scheins rekonstruierter Subjektivität im medialen Raum her. Darin reicht unser Informationszeitalter zumindest aus der Perspektive unseres Begehrens in die Epoche des industriellen Zeitalters zurück. Ästhetisch vermittelt sich diese Nostalgie auf musikalischer Ebene, die ihre Wurzeln im harten Takt der industriellen Arbeitswelt und ihrer physischen Nähe zur lautstark hämmernden Maschine imaginieren läßt. Es wäre überlegenswert einmal der Frage nachzugehen, inwieweit unsere Empfänglichkeit für ästhetische Elemente aus dem industriellen Zeitalter wie sie sich akustisch und optisch im Techno als durchgestaltetem Mega-Fabrikserlebnis manifestieren – nicht als Ausdruck eines Ersatzes für unsere gegenwärtige Situation aus Arbeitslosigkeit und abhanden gekommenen Parametern für Subjektivität zu verstehen ist. Der ästhetische Rückgriff auf die Klangwelt einer Fabrik, die Aktualisierung von Frankensteins Mythos einer herstellbaren Persönlichkeit, gepaart mit Erlebnispartikeln des Stöhnens und Seufzens, suggeriert einen Erfahrungsraum des Persönlichen, der in unserer Realität nur mehr im medialen Raum zu existieren scheint.

Angesichts gegenwärtiger realpolitischer Inszenierungen einer rückeroberten Figur von Subjektivität und Persönlichkeit erscheint die offengelegte Fiktionalisierung, wie sie Granluar Synthesis leisten, als der ungefährlichere und zeitgenössischere Weg, mit dieser Frage umzugehen. Im Unterschied zur bisherigen Praxis, die Glaubwürdigkeit einer persönlichen Erfahrung über die Erzählung einer Geschichte herzustellen und damit jeglichen Ausdruck als Reaktion auf eine bestimmte Realität zu interpretieren, setzen die beiden Künstler auf die Indikation des Effekts. Expressivität ist damit nicht mehr die Konsequenz einer emotionalen Situation, sondern herzustellendes Surrogat für Identitätserfahrung.

Andreas Spiegl


Kurt Hentschläger: Videosample & Sequence Editing

Ulf Langheinrich: Videosample & Sequence Editing / Editional Sound Editing

Grand Prix of ARTEC 95 – Fourth International Biennale in Nagoya. Japan.

featuring Akemi Takeya

coproduced by HULL TIME BASED ARTS / Mike Stubbs. England
PYRAMEDIA / Vienna – Austria

management Modell 5: Ursula Hentschläger

sponsored by Arts Council of England / BMWFK / BMAA / Kulturabteilung Land NÖ / Kulturamt Stadt Linz / MEDATM – Fact is Fiction / DO – Kultur / Wien Kuttur / Yorkshire & Humberside Art Board / Fischer Film Linz-Wien

Gefördert im Auftrag des Bundesministers für Wissenschaft, Forschung und Kunst, Kuratorin Stella Rollig

special thanks to Bettina Bartsch-Herzog, Christine Bähler, Eva Grubinger, Rebecca Oliver, Mary Ryan, Mike Stubbs, Kurt Hennrich

Fotos: Klomfar & Sengmütter. Gerhard Klocker