SIMCIT
'Marc C. Taylor
Marc C. Taylor
NETZWERKBETRIEB Am 6. Oktober 1992 erschien in der "New York Times" ein Artikel mit dem Titel "Allwöchentliche internationale Lehrveranstaltung mittels Fernsehübertragung". Ein namentlich nicht genannter Reporter der "Times" schrieb aus Williamstown, Massachusetts, folgendes:"Sind sie bereit für den historischen Augenblick? Eines Tages können Sie Ihren Enkelkindern darüber berichten."
Wenige Sekunden nachdem Mark Taylor, Professor für Religion am hiesigen Williams College, diese Worte an zehn Studenten gerichtet hatte, stießen acht weitere Studenten der Universität Helsinki und Eso Saarinen, der Vorstand des Instituts für Philosophie der Universität Helsinki, zu der Gruppe. Die neun Finnen betraten den Hörsaal jedoch nicht durch die Tür, sondern auf zwei Fernsehschirmen.
Das epochemachende Ereignis war die Eröffnung eines "weltumspannenden Seminars", das von den Professoren Taylor und Saarinen unter Zuhilfenahme der Telekonferenz-Technologie abgehalten wurde.
Zwar gibt es im Hörsaal von Williamstown eine herkömmliche Tafel, die in anderen Vorlesungen auch verwendet wird. Wenn jedoch dieses Seminar jeden Mittwoch nachmittag – bzw. Mittwochabend in Finnland – für drei Stunden zusammentritt, bleibt die Tafel unbeachtet in der Ecke und scheint so veraltet wie ein Telephon mit Wählscheibe. Die in diesem Hörsaal verwendeten Lehrmittel sind Videokameras, Mikrophone, Femsehgeräte und die Glasfaserkabel, die die Video-und Tonsignale zwischen Helsinki und Williamstown übertragen …
Die Vorlesung mit dem Titel "Imagologies" befaßt sich mit modernen Formen der Kommunikation und ihren Auswirkungen auf die zeitgenössische Kultur … Seit sich Professor Taylor entschloß, die Auswirkungen der modernen Technik auf die Kultur zu untersuchen, hatte er wenig Interesse daran, dies sozusagen aus der Ferne zu tun. "Ich könnte diese Inhalte natürlich auch in Form eines konventionellen Kurses lehren," sagte er. "Aber ich wollte versuchen, Theorie und Praxis zu verbinden; das, was wir tun, kritisch zu betrachten, und das in der Praxis auszuführen, worüber wir nachdenken." Was sind die Folgen dieses weltumspannenden Hörsaals für die Universität? Wie wird das Netz, in das wir uns alle verfangen haben, das Lehren, das Schreiben und die Wissenschaft verändern? Wie wird eine weltumspannende Universität aufgebaut sein? Wie sieht sie aus, wie plant man sie? Wie wird das Datennetz die Theorie und Praxis der Architektur verändern? Obwohl ich die Folgen dessen, was wir in unseren Experimenten in Netzwerk-Pädagogik erreicht oder nicht erreicht haben, noch lange nicht wissenschaftlich aufgearbeitet habe, kann ich doch aufrichtig sagen, daß "Imagologies" zweifellos meine außergewöhnlichste pädagogische Erfahrung war. Dieser Kurs hat mich veranlaßt, viele der grundsätzlichen Annahmen, auf denen meine Lehrtätigkeit und mein Schreiben seit Jahren beruhen, neu zu überdenken.LERNEN VON TOKIO (*) Akihabara bei Nacht: Bewegung, endlose Bewegung, unaufhaltsame Bewegung. Bewegung, die von nirgendwo herzukommen und nirgendwo hinzuführen scheint. Vertikal, horizontal, seitlich. Auf der Straße, an den Hausmauern, in der Luft. Bewegung ohne ein Herz, ohne ein Zentrum – bzw. mit 10 oder 12 oder vielleicht noch mehr Zentren. Akihabara ist eine Stadt in der Stadt. Derselbe Puls schlägt gleichzeitig in Shinjuku, Ginza, Ueno, Shibuya, Roppongi und anderswo in Japan.
Obwohl nichts außer Kontrolle geraten ist, gibt es einen ständigen Aufruhr. Einen Aufruhr der Zeichen – hörbare und sichtbare Zeichen, die eine schwindelerregende, auf alle Sinne einhämmernde Kakophonie verursachen. Unverständliche Bilder und unlesbare Aufschriften blinken überall. Die leuchtend-grellen Neonfarben der elektrischen Aufschriften bilden einen scharfen Kontrast zu dem gedämpften Schwarzweiß der Autos und der Kleidung der Menge, die sich zu Füßen dieser Ikonen unserer Tage bewegt. Der Lärm wird zum ohrenbetäubenden Getöse, das einem ritualisierten Gemurmel gleicht.
Akihabara, einer der wichtigsten Geschäftsbezirke Tokios, hat die größte Konzentration von Elektro- und Elektronikgeschäften auf der ganzen Weit: Die Straße ist ein einziger Freiluft-Laden, ein hektischer Basar. Innen und Außen gehen ineinander über und schaffen Oberflächen, die keine Tiefe haben und doch nicht oberflächlich sind. Wände werden zu Bildschirmen, die den Blick auf andere Bildschirme freigeben. Hunderte, vielleicht Tausende winziger Geschäfte und großer Warenhäuser bieten eine unbegreifliche Fülle der neuesten technischen Geräte und Konsumgüter feil. Alles scheint in schneller Bewegung zu sein, nichts stillzustehen. Unerbittlich von Bildern bombardiert, wird alles solange in das Spiel der Aufschriften und Leuchtreklamen einbezogen, bis jede Substanz unerträglich hell wird. Wo immer ich mich hinwende, sehe ich mein Bild auf flache Bildschirme projiziert. Versteckte Kameras zeigen mir Blickwinkel, die ich niemals vorher gesehen habe. Das ist die Gesellschaft des außer Rand und Band geratenen Spektakels. Wenn Japan "das Reich der Aufschriften und Leuchtreklamen" ist, dann scheinen es Aufschriften und Bilder zu sein, die nichts als sich selbst widerspiegeln. Wenn man Las Vegas mit Akihabara vergleicht, scheint es wie eine Kleinstadt aus einer früheren Epoche. Akihabara ist die Zukunft, die schon beinahe in unserer Mitte ist. Wir müssen die Lektionen lernen, die es uns lehrt.DER DATENRAUM Die Luft ist angefüllt mit Informationen, die frei und unsichtbar umherschweben, bis sie in Bilder verwandelt und auf Oberflächen um uns, über uns und unter uns projiziert werden. Diese Medienlandschaft ist Tokio. 1991 veranstaltete Arato Isozaki im Victoria and Albert Museum in London eine Ausstellung, die er ursprünglich "Simulationen" betitelt hatte, später aber in "Visions of Japan" umbenannte.
In einem der Räume schuf Toyo Ito eine Traumlandschaft, die so etwas wie eine halluzinatorische Wiedergeburt der Wahrnehmung inszenierte. Anstelle des normalen Bodens gab es einen schwebenden Fußboden von 10 x 28 Metern aus undurchsichtigen Acrylplatten, umgeben von einer elektronisch gesteuerten, fünf Meter hohen Flüssigkristall-Medienwand mit einem von der Decke herabhängenden lichtdurchlässigen Schleier. Jede Oberfläche erfüllte die Funktion eines Bildschirms, auf den 44 Projektoren ständig wechselnde Bilder von Tokio warfen. Synthesizer-Musik aus 16-Kanal-Lautsprechern erfüllte den Raum. Während ich mich durch den Datenraum dieser simulierten Stadt bewegte, wurde ich selbst zu einem Bildschirm, auf dem sich die Bilder unaufhörlich abwechselten. Je länger ich mich dort aufhielt, umso weniger sicher war ich, ob nun die Ausstellung eine Simulation Tokios war oder Tokio eine Simulation der Ausstellung.
Die Stadt der Zukunft, die mit Riesenschritten auf uns zukommt, ist eine simulierte Stadt. Diese simulierte Stadt, "Simcit", reflektiert und verkörpert eine Revolution, die so radikal und grundlegend ist wie die psychosozialen Veränderungen, die im Europa des 15. Jahrhunderts durch die Erfindung der Druckerpresse ausgelöst wurde. Die Technik des Buchdrucks eröffnete den typogrophischen Raum, der nun von der elektronischen Computer-Datenfernverarbeitung wieder geschlossen wird. Welche Folgen hat diese Revolution für den Raum, in dem wir leben und arbeiten, für die Städte und die Architektur der Zukunft?LEBEN IM NETZ Der Raum der simulierten Stadt ist weder Newtonisch noch Euklidisch, noch handelt es sich dabei wirklich um den Einsteinschen Raum. Statt dessen ist er das, was man inzwischen als Cyberspace bezeichnet. Cyberspace, so erklärt der Romancier William Gibson, ist "eine gemeinsame, auf Übereinkunft basierende Halluzination, die tägliche Erfahrung von Milliarden legitimer Benutzer aller Nationen, von Kindern, die man mathematische Begriffe lehrt … Eine graphische Darstellung von Daten, die aus den Datenbanken aller Computer im menschlichen System abstrahiert wird. Unfaßbare Komplexität, im Nicht Raum des Geistigen angesiedelte Linien aus Licht, Cluster und Konstellationen von Daten."
Bis zu einem gewissen Grad bewohnen wir schon heute den Cyberspace und sind von ihm in Besitz genommen. Die Welt, in der wir leben, wird rapide zu einem immer komplexeren, weltumspannenden und durch hochentwickelte elektronische telegraphisch-telephonisch-televisuelle Systeme geschaffenen und in Gang gehaltenen Netzwerk. Es ist unklar, ob dieses Netzwerk eine elektronische Prothese unseres Organismus ist oder ob unser Verstand und unser Körper eine psychophysische Prothese des immateriellen Netzwerks sind, in dem wir uns befinden. Es ist jedoch offensichtlich, daß der Cyberspace eine durch und durch simulierte Umgebung schafft. lm Gegensatz zu einer Darstellung, bei der ein Signifikant sich immer auf ein definierbares Signifikat bezieht, generiert die Simulation einen nichtreferentiellen Raum, in dem jedes Bild das Bild eines anderen Bildes ist und jedes Zeichen das Zeichen eines anderen Zeichens. Im Cyberspace ist das Reale hyperreal und die Realität wird virtuell. Anders ausgedrückt, da das Reale imaginär wird, wird das imaginäre Bild real. Infolge dieses Umwandlungsprozesses bleibt nichts, wie es ist. Selbst unsere Erfahrungen werden im Cyberspace verändert. Auf der fundamentalsten Ebene werden die Strukturen des Gefühls, der Wahrnehmung und der Konzeption auf eine Weise verändert, die auch die Voraussetzungen für jedes kulturelle Schaffen verändern.
Während der Cyberspace das Ergebnis komplexer technologischer Innovationen ist, müssen wir uns der Beziehung zwischen diesem neuen Medium der Erfahrung und bestimmten ästhetischen und künstlerischen Tendenzen der Moderne bewußt werden.
In ihrer charakteristischesten und einflußreichsten Form beinhaltet die Moderne eine fortgesetzte Abstraktion bzw. Entmaterialisierung, die das voraussetzt, was Paul Virilio treffend als "Ästhetik des Verschwindens" beschreibt. Was in der modernen Ästhetik verschwindet, ist die Materialität des sogenannten Wirklichen. Genauer gesagt, die Wirklichkeit wird im wesentlichen immateriell bzw. es stellt sich heraus, daß sie immer schon immateriell gewesen ist. Wenn das Reale als ideal betrachtet wird, werden Sinnlichkeit und Materialität als oberflächliche Erscheinungen angesehen, die darunterliegende Muster, welche die Wahrheit und Realität definieren, verbergen. In verschiedenen Schulen der abstrakten und ungegenständlichen Malerei, sowie in der klassischen oder internationalen Moderne der Architektur wird das Reale mit der abstrakten Form oder formalen Struktur gleichgesetzt. Das Sichtbarmachen der wesentlichen Struktur in ästhetischer Form wird daher zur künstlerischen und architektonischen Aufgabe. In diesem "höheren" Realismus, der auf seiner Ungegenständlichkeit beharrt, stellt das entmaterialisierte Objekt tatsächlich eine Wirklichkeit dar, die surreal geworden ist. Wenngleich es den Künstlern, Architekten oder Kritikern gemeinhin nicht bewußt ist, wiederholt das moderne Programm der Abstraktion in einem anderen Register das Projekt des Hegelschen Idealismus. Während Hegel künstlerische Darstellungen in philiosophische Begriffe umsetzt, wandelt der abstrakte Künstler geistige Begriffe in künstlerische Darstellungen um. Weder für den Philosophen noch für den Künstler ist das Ziel der Abstraktion an sich abstrakt. Im Gegenteil, der für die Moderne charakteristische Idealismus will das Ideale und das Reale miteinander in Einklang bringen.
Im Zusammenhang mit dem philosophischen und künstlerischen Idealismus betrachtet, kann Cyberspace als die Erfüllung des alten Traums der Avantgarde gesehen werden, durch die Umwandlung von Kunst in Leben das Selbst und die Gesellschaft zu verändern. In der realisierten Utopie der Moderne wird das Leben zu einem Kunstwerk. Das oeuvre d'art, das nach Inkarnation strebt, wurde ursprünglich von Kant definiert und später von Hegel weiterentwickelt. In seiner "Kritik der Urteilskraft" definiert Kant die moderne Idee des Kunstwerks als schönes Ganzes, das eine organische Gesamtheit bildet, in die alle Teile harmonisch integriert sind. Hegels bekannt komplexes, spekulatives System ist tatsächlich die logische Ausarbeitung von Kants Kunstwerk. Die Hegelsche Idee ist eine organische Struktur, die scheinbar Gegensätzliches zu einer Synthese vereint.
Wenn die Gesellschaft nach dem Modell des Kunstwerks geformt ist, bildet sie eine anscheinend lebenswichtige Gesamtheit, in der Spannungen verringert, Gegensätze versöhnt und Konflikte überwunden werden. Stellt man diese soziopolitische Gemeinschaft in den Kontext der historischen und kulturellen Evolution, dann scheint sie zur Wiedererlangung einer seit langem verlorenen, ursprünglichen Harmonie zu führen.
Wie aber läßt sich dieses Ideal verwirklichen? Was sind die materiellen Voraussetzungen dafür? Welche technischen Entwicklungen sind nötig, um dieses Netzwerk zu schaffen? Seit den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts haben einige führende Künstler und Architekten darauf bestanden, daß die Elektrizität eine der primären Kräfte der globalen Integration ist. Für Marinetti ist die Elektrizität das Zaubermittel, das der Menschheit den Zugang zur Geschwindigkeit eröffnet, die es ihr ermöglicht, die Ketten von Zeit und Raum zu sprengen. In seinem berühmten, am 20. Februar 1909 in "Le Figaro" veröffentlichten Manifest erklärt Marinetti: "Wir stehen auf dem letzten Vorgebirge der Jahrhunderte! … Warum sollten wir rückwärts schauen, wenn es unser Wunsch ist, die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen zu öffnen. Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, weil wir die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit geschaffen haben." Die halluzinogene Wirkung der Geschwindigkeit transportiert uns aus der Welt von Zeit und Raum in die Allgegenwart des Absoluten. Es ist wichtig anzumerken, daß Marinetti in seiner Suche nach einer Ästhetik der Geschwindigkeit nicht allein war. Die kubistischen Experimente mit der Gleichzeitigkeit und die suprematistische Erforschung der vierten Dimension können auch als Suche nach der Erfahrung einer Allgegenwart aufgefaßt werden, die ein Absolutes ist. Wie Einstein einige Jahre vor diesen neuen künstlerischen Bestrebungen argumentiert hatte, verändert sich bei Erreichen der Lichtgeschwindigkeit die Zeit selbst. Marinetti war auch nicht der einzige, der glaubte, daß sein Traum von der Allgegenwart durch Elektrizität verwirklicht werden könnte. Für viele Künstler und Nichtkünstler des frühen 20. Jahrhunderts wurde der Eiffelturm, der 1889 für die Pariser Weltausstellung in Erinnerung an die Hundertjahrfeier der Französischen Revolution errichtet worden war, zum Symbol des Neuen Zeitalters.
Am Ende der ersten Dekade unseres Jahrhunderts war jedoch ein bedeutender Wandel im Eiffelturm und in seinem Bild eingetreten, der an die Veränderungen vom 18. zum 19. Jahrhundert erinnert und den Übergang vom mechanischen Zeitalter des industriellen Kapitalismus zum elektronischen Zeitalter des postindustriellen Kapitalismus vorwegnimmt. Im Jahre 1909, dem Jahr, in dem Marinettis Manifest "Le Futurism" erschien, wurde die erste regelmäßig betriebene Rundfunkanlage auf dem Eiffelturm installiert. Schon die Gemälde Robert Delaunays aus dieser Zeit stellen den Eiffelturm als Synekdoche für die Moderne dar – die Bedeutung seiner Elektrifizierung wird aber erst deutlich in dem 1917 entstandenen Gedicht" Eiffelturm" von Vincente Huidobro, das er Delaunay gewidmet hatte. (**)Eiffelturm Himmelsgitarre Deine drahtlose Telegraphie Zieht die Worte an Wie der Rosenstrauch die Bienen Und nächtens Hört die Seine auf zu fließen Teleskop oder Waldhorn Eiffelturm Ein Bienenkorb für Worte Oder ein Tintenfaß für Honig Auf dem Grund der Morgendämmerung Spinnt eine Spinne mit stählernen Füßen Ihr Netz aus Wolken Ein Vogel ruft In den Telegraphen-Drähten Es ist der Wind Der Wind aus Europa Der elektrische Wind Die Stahlkonstruktion am Fuß des Turmes erdet das Rundfunknetz mit seinen rund um die Welt ausgestrahlten Signalen. Für Visionäre beinhaltete der elektrische Wind aus Europa die Vision einer Einigung unseres Planeten.
Der durch diesen elektrischen Wind inspirierte Geist eines neuen Jahrtausends durchweht unser Jahrhundert. Von Marinettis Ästhetik der Geschwindigkeit und Huidobros Bewunderung für den Eiffelturm ist es ein überraschend kleiner Schritt zu Marshall McLuhans globalem Dorf und zu der von den wahren Adepten der fortgeschrittenen Elektronik verkündeten Cybertopie. Vor beinahe drei Jahrzehnten argumentierte McLuhan, daß "in dem nun auslaufenden mechanischen Zeitalter viele Handlungen ohne allzuviel Nachdenken ausgeführt werden konnten. Langsame Bewegungen garantierten, daß die jeweiligen Reaktionen ziemlich lange hinausgezögert wurden. Heute erfolgen Aktion und Reaktion fast gleichzeitig. Wir leben sozusagen mythisch und integral, aber wir denken nach wie vor in den alten, fragmentierten Raum- und Zeitmustern des vorelektrischen Zeitalters." Der Umschwung vom industriellen zum elektronischen Zeitalter wiederholt den Übergang von mechanischen zu organischen Metaphern der Vorstellung der Wirklichkeit und charakterisiert den Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. ln McLuhans Neoromantizismus und Neoidealismus ersetzt der Organizismus den Mechanismus und schafft so ein Bild eines harmonischen "New Age", in dem alle eins sind und eines alle.
Heute, mitten im elektrischen Zeitalter, ist der organische Mythos eine einfache und automatische Reaktion, die auf eine mathematische Formel zurückgeführt werden kann, ohne jeden Anflug einer phantasievollen Vorstellung, wie wir sie bei William Blake finden. Hätte Blake das elektrische Zeitalter erlebt, wäre er dessen Herausforderung nicht mit einer bloßen Wiederholung der elektrischen Form begegnet. Denn der Mythos ist die Vision eines sich normalerweise über einen langen Zeitraum erstreckenden, komplexen Prozesses in einem einzigen Augenblick. Der Mythos ist die Kontraktion oder Implosion eines Prozesses, und die hohe Geschwindigkeit der Elektrizität verleiht den gewöhnlichen industriellen oder sozialen Handlungen heute ihre mythische Dimension. Wir leben mythisch, aber wir denken weiterhin fragmentarisch, auf einzelnen Ebenen. McLuhan, der viele der Einsichten vorwegnahm, die gewöhniich Jean Baudrillard zugeschrieben werden, ist der Meinung, daß die für unsere Erfahrung im elektronischen Zeitalter charakteristische Implosion von der Geschwindigkeit herrührt. Wenn die Geschwindigkeit einen bestimmten Punkt erreicht, fallen Zeit und Raum in sich zusammen und Entfernungen scheinen sich aufzulösen. Die Herausgeber der in hohem Maße phantastischen und provokanten Zeitschrift "Mondo 2000" beschreiben eine Zukunft, die in vieler Hinsicht an McLuhans Vision erinnert. "Das Cybernetz ist ausgespannt. Wenn die Fusion tatsächlich erfolgt, werden wir rasch davon erfahren … . Wir sprechen von Totalen Möglichkeiten. Radikalen Angriffen auf die Grenzen der Biologie, Schwerkraft und Zeit. Das Ende des künstlich erzeugten Mangels. Die Morgenröte eines neuen Humanismus. Ein Highjacken der Technologie zum Zweck der persönlichen Ermächtigung, zu Spaß und Spiel. Um unsere Neuropeptide zu aktivieren und einen Zustand des Glücksgefühls zu unserem normalen wachen Bewußtseinszustand zu machen." Obwohl sich die Sprache dieser Visionen wesentlich vom ausgewogenen Diskurs des 18. Jahrhunderts unterscheidet, stellt die Cybertopie tatsächlich eine Verfeinerung des Traums der Aufklärung dar, der im Denken und Leben der Neuzeit eine so wichtige Rolle spielt. Im vorliegenden Zusammenhang sind vier zentrale Aspekte dieses Projekts wesentlich: Rationalisierung, Universalisierung, Homogenisierung und Synchronisierung. Für die Philosophen der Aufklärung ist die Vernunft, die den Menschen definiert, im wesentlichen universell. ln der umfassendsten Formulierung dieser aufgeklärten Anthropologie argumentierte Kant, daß die Vernunft so etwas wie ein homogenes Raster ist, das aus den Formen der Anschauung, d.h. Raum und Zeit, und aus den zwölf Kategorien des Verstandes besteht. Der historische Fortschritt wird nach dem Ausmaß gemessen, in dem dieses Raster die Grundlage für die individuelle und soziale Existenz wird. Die Entwicklung von der Kindheit und einem Primitivismus zur Reife und Modernität beinhaltet den Fortschritt von einem von den Idiosynkrasien und Zufälligkeiten der Sinnlichkeit dominierten Leben zu einem Leben, das von der Universalität und Beständigkeit der Vernunft beherrscht wird.
Von einem – aber nur von einem – Standpunkt aus ist das von der Computer-Datenfernverarbeitungstechnologie gesponnene elektronische Netz die Verkörperung dieses universalen Rasters. Innerhalb des Netzes ist alles so miteinander verbunden, daß es eine geordnete Gesamtheit ergibt. Das Netzwerk zeigt eine unerbittliche Logik. Während frühere Formulierungen der Logik der Lebenswelt entweder dialektisch (wie bei Hegel und Marx) oder binär (bei Saussure und Lévi-Strauss) waren, ist die Logik des Netzwerks digital. Im globalen Computer-Telekommunikationsnetz ist das Wirkliche digitalisiert und das Digitale wirklich. Die Digitalisierung der Wirklichkeit ermöglicht es, mit Geschwindigkeiten zu kommunizieren, die Marinetti sich nicht hätte vorstellen können. Der entkörperlichte Geist bewegt sich mit Lichtgeschwindigkeit entlang den Kanälen des Glasfaser-Netzwerks. In dem Maße, in dem die Geschwindigkeit zunimmt, nimmt die Entfernung ab. Der Raum scheint in sich zusammenzufallen, in eine Gegenwärtigkeit, die nichts von der Vergangenheit oder Zukunft weiß. Wenn es je erreicht würde, wäre ein solches Genießen des Gegenwärtigen in der Gegenwart die Erfüllung des tiefsten und ältesten Traums der westlichen religiös-philosophischen Vorstellungskraft. Trotz gegenteiliger Beteuerungen ist es nicht klar, ob dieser Traum nun tatsächlich Wirklichkeit geworden ist. Nicht nur ist das Netz unvollständig und die elektronische Technologie nicht universell verfügbar. Selbst wenn man sich den Tag vorstellen könnte, an dem die ganze Welt verdrahtet wäre und jedermann Zugang zur Computer-Telekommunikationstechnik hätte, müßte man doch eingestehen, daß im Netz noch immer Löcher bleiben. Tatsächlich könnte es ohne Löcher kein Netz geben. Diese Löcher sind nicht Lücken, die es auszufüllen gilt, sondern nicht verminderbare Zwischenräume, die einen anderen Raum für die "Simcit" und ihre revolutionäre Architektur" implizieren.VOM RASTER ZUM NETZWERK Die Erkenntnis der potentiellen Bedeutung der elektronischen Technologie für die Theorie und Praxis der Architektur ist keine besonders neue Einsicht. Vor mehr als zwei Jahrzehnten unterschieden Robert Venturi und Denise Scott Brown die moderne von der nunmehr als postmodern bezeichneten Architektur durch den Gegensatz zwischen der "Kommunikationstechnologie des 20. Jahrhunderts" und der "industriellen Betrachtungsweise des 19. Jahrhunderts". Es ist üblich geworden, den Formalismus der klassischen modernen Architektur in Zusammenhang mit der Mechanisierung der industriellen Produktion zu sehen. Der Funktionalismus der Maschinenästhetik spiegelt eine Industriegesellschaft wider, die von den Prinzipien der Rationalität, Universalität, Homogenität und des Synchronismus beherrscht wird. Was seltener erkannt wird, ist die Tatsache, daß die früheste Form der mechanischen Produktion die Druckerpresse war. Die Ordnung des Druckvorganges und der gedruckten Seite führten letzten Endes zu einem Raster, dessen Spalten und Zwischenräume genauso gleichförmig waren wie die Stahlträger und Fenster einer vorgehängten Gebäudefassade. So betrachtet bleibt der Raum der Moderne typographisch.
Obwohl Venturi und Scott Brown die Bedeutung der modernen Kommunikationstechnologie betonen, erkennen sie nicht die weitreichenden Auswirkungen der bemerkenswerten Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Dieser Mangel war wahrscheinlich unvermeidlich, denn die Bedeutung der Computer-Telekommunikationstechnologie ist erst seit der Veröffentlichung von "Learning from Las Vegas" wirklich klar geworden. Es gibt jedoch ein grundsätzlicheres Problem mit Venturis und Scott Browns Beurteilung der Technolandschaft, das aus ihrer ständigen Verwechslung von Elektronik und Elektrizität herrührt. Was sie fasziniert, ist die Elektrizität von Las Vegas. Für eine Generation, die mit der asketischen Ästhetik der Moderne aufwuchs, waren die Vitalität und Farbigkeit des "Strips" von Las Vegas befreiend und belebend. Plötzlich wurde das Verbotene zum Erlaubten erklärt. Als Dekoration tauchten wieder Zeichen auf, deren Sinnlichkeit ihre Stärke und nicht ihre Schwäche war. Als das Hohe dem Niedrigen Platz machte, schienen sich die Grundfesten der Architektur selbst zu verschieben.
Heute ist man sich darüber einig, daß die postmoderne Architektur am Ende ihrer Entwicklung angekommen ist. Außerdem hat es sich in den letzten Jahren immer deutlicher gezeigt, daß die sogenannten Innovationen der letzten 25 Jahre nicht zu wirklich fundamentalen Veränderungen geführt haben. Die postmoderne Architektur ist in Wirklichkeit eine Ausweitung der ästhetischen Prinzipien und philosophischen Annahmen der Moderne. Im wesentlichen modernen Gebäuden dekorative Ornamente hinzuzufügen, bedeutet keine signifikante Veränderung. Die vorgebliche postmoderne Revolution ist so oberflächlich wie die grellen Ornamente, die sie zur Schau trägt. In einer Ironie, der aber keine kritische Bedeutung zukommt, endet die postmoderne Architektur in einer Parodie der utopischen Träume der Avantgarde. Wenn führende Architekten es als ihre Mission betrachten, Disneys "Magic Kingdom" zu planen, verliert sich die soziale und politische Verantwortung der Architektur. Um aus der Sackgasse der Postmoderne herauszukommen, ist es notwendig, unsere Aufmerksamkeit wieder der Kultur des virtuellen Abbilds zuzuwenden.
Obwohl die zeitgenössische elektronische Technologie Elektrizität benötigt, untergräbt das Netzwerk das Raster und kehrt viele der wichtigsten Charakteristika der Moderne und der Postmoderne in ihr Gegenteil um. Die durch die Ausweitung des elektronischen Umfelds verursachten Veränderungen sind sowohl offensichtlich als auch subtil. Es ist nicht zu leugnen, daß das Entstehen der modernen Stadt ohne die Entdeckung der Elektrizität unmöglich gewesen wäre. Vom Transportwesen und der Kommunikation bis zum Handel und der Industrie lieferte die Elektrizität die Energie für die Stadt. Urbanisation und Zentralisierung haben zu einer Konzentration von Menschen und Ressourcen geführt. In dem Maße, in dem diese Vorgänge andauern und sich sogar noch beschleunigen und dadurch den Platz knapper machen, schafft die Elektrizität die Möglichkeit, über und unter den Erdboden zu expandieren. Wird diese Konzentration jedoch weit genug getrieben, dann schlägt sie um und führt zu einer Implosion, die die Zentralisierungsbewegung in ihr Gegenteil verkehrt.
Während die Elektrizität eine Konzentration bewirkt, führt die Elektronik zu einer Streuung. Es ist eine ungeheure Simplifizierung, zu behaupten, daß das Netz bloß eine Vereinheitlichung, Homogenisierung und Synchronisierung bewirke, denn die Computer-Telekommunikationstechnologie bewirkt auch eine Partikularisierung und lndividualisierung, Differenzierung und Diachronisierung. Auf der augenfälligsten Ebene lassen Computer und Telekommunikation den zentralen Arbeitsplatz als überholt erscheinen. Einzelpersonen müssen nicht mehr physisch anwesend sein, um miteinander zu arbeiten. Wenn Büros, Wohnungen, Hotels, und selbst Autos, Züge und Flugzeuge mit Computerintelligenz ausgerüstet sind, führt das zu einer Dezentralisierung des Arbeitsplatzes. Nicht nur ersetzen Randstädte die urbanen Zentren; die durch die Elektronik verursachten räumlichen Dislokationen sind noch viel drastischer. Die traditionellen Gegensätze, die sowohl das tägliche Leben als auch die Praxis der Architektur strukturieren (wie z.B. außen/innen, öffentlich/privat, Arbeit/Wohnung, städtisch/vorstädtisch, Stadt/ Land), gelten nicht länger. Zusätzlich dazu ersetzen Kommunikationsleitungen die Transportbahnen (wie z.B. Straßen, Eisenbahnschienen und Flugverbindungen) und schaffen so eine Umwelt, in der die Bewegung des menschiichen Körpers durch die Bewegung der Informationen ersetzt wird.
Die durch das Netzwerk verursachte Dislokation ist nicht nur räumlicher, sondern auch zeitlicher Natur. Während die Industrialisierung eine Synchronisation erforderlich machte, die den Tagesablauf der Arbeiter ebenso streng reglementierte wie das Fließband, an dem sie arbeiteten, schafft die Computer-Telekommunikation die Möglichkeit unregelmäßiger Tagesabläufe und endlos abänderbarer Gleitzeit. So wie Arbeiter nicht mehr an demselben Ort zusammenkommen müssen, müssen sie auch nicht zur selben Zeit arbeiten. Die Desynchronisation der lokalen Zeitpläne schafft die Möglichkeit der Synchronisation internationaler Zeitpläne. Bei entsprechender Verdrahtung ist es heute möglich, gleichzeitig in New York, Paris und Tokio zu arbeiten, während man in den entlegenen Bergen von Massachusetts wohnt.
Die durch die Elektronik verursachte räumliche und zeitliche Streuung schafft einen grenzenlosen Nomadismus, der nicht unbedingt ein Zustand des Exils ist. Obwohl ein Nachhausekommen nicht mehr möglich scheint, ist die Heimatlosigkeit nicht unvermeidbar. Im Cyberspace schwebt der Wohnort so frei im Raum wie das Netzwerk, das seine Voraussetzung ist. In einem immaterialen Netz, dessen Reichweite unser Verstehen übersteigt, wird jede Tätigkeit zu einer Tätigkeit-aus-der-Entfernung. Durch die Schaffung der tatsächlichen Bedingungen einer gegenseitigen Verknüpfung, über die Philosophen bloß Spekulationen angestellt haben, amplifiziert das globale elektronische Netzwerk jeden Vorgang auf der Bühne der Weltgeschichte.
Die Bedeutung der Computer-Telekommunikations-Revolution für die Architektur ist unverkennbar. Die Stadt, wie wir sie kennen, könnte sehr wohl der Vergangenheit angehören. Dem industriellen Zeitalter angepaßte Wohnungen, Schulen, Büros und Fabriken sind im Informationszeitalter überholt. Wenn Gebäude heute funktionell sein sollen, müssen sie "intelligent" sein. Heute, da Feder und Papier dem computerunterstützten Design und virtuellen Räumen, deren Realität vollkommen simuliert ist, weichen, unterliegen die Methoden, Hilfsmittel und Techniken der architektonischen Planung einer tiefgreifenden Veränderung. Obwohl diese Entwicklungen äußerst wichtig sind, sind die bereits im Gange befindlichen Veränderungen noch tiefgreifender, als es den Anschein haben mag. Die Voraussetzungen für die Theorie und Praxis der Architektur wurden durch die elektronische Computer-Telekommunikationstechnologie unwiderruflich verändert.
Wie ich bereits erwähnt habe, findet sich die wesentliche Formulierung der modernen Auffassung von Raum und Zeit in Kants Analyse der Formen der Anschauung. Die Entfernung von zwei Jahrhunderten verdunkelt den radikalen Charakter von Kants Analyse. Kant fordert eine epistemologische Version der Kopernikanischen Revolution und argumentiert, daß Raum und Zeit nicht objektive Zustände auf der Welt sind, sondern subjektive Erlebniszustände. Subjektivität impliziert jedoch nicht Eigenständigkeit, denn, wie Kant behauptet, sind die Formen der Anschauung universell. Die Subjektivität der Strukturen der Anschauung und des Verstandes spiegelt die Struktur der Subjektivität wider. Für Kant ist die Struktur des Subjekts weder individuell noch zufällig, sondern universell und notwendig – so universell und notwendig wie das Raster, das seine graphische Darstellung ist. Rückblickend scheint es, daß Kants Position eine vorübergehende war, die unvermeidlich zu radikaleren Perspektiven führt. Sowohl objektiv als auch subjektiv betrachtet, sind Raum und Zeit nicht natürlich, gegeben oder universell. Sie sind im Gegenteil kulturelle Produkte, die in verschiedenen soziohistorischen Kontexten verschieden konfiguriert sind. Im späten 20. Jahrhundert verändert das Computer-Telekommunikationsnetzwerk die Strukturen von Raum und Zeit ganz wesentlich. Grenzenlos durchlässig und vollkommen wiederholbar erstreckt sich das Netz räumlich und zeitlich, ohne jedoch raumgebunden oder zeitgebunden zu sein. Sein Ort ist irgendwo, was weder überall noch nirgends ist, und seine Zeit ist irgendwann, was weder vergänglich noch ewig ist. Während die Raum-Zeit des Rasters eine Darstellung des typographischen Raums des Buches ist, ist die Raum-Zeit des Netzwerks die Wiedereinschreibung der räumlichen Anordnung des Hypertexts.
Ein Hypertext ist kein geschlossenes Werk, sondern ein offenes Gewebe von heterogenen Spuren und Assoziationen, die einem ständigen Überarbeitungs- und Ergänzungsprozeß unterliegen. Die Struktur eines Hypertextes ist nicht fixiert, sondern ändert sich ständig und ist immer in Bewegung. Das Zusammenspiel von Oberfläche und Tiefe weicht einem ständigen Wechsel von Oberflächen, der ganz und gar nicht oberflächlich ist. Verzweigungsmöglichkeiten multiplizieren sich, Menüs reproduzieren sich, Fenster öffnen sich auf andere Fenster in einer lateralen Anordnung, die zerstreut und nicht integriert. Die Hierarchie löst sich auf in einem Gewebe, in dem oben und unten, hinauf und hinunter alle Bedeutung verlieren. Alles und überall ist die Mitte. Ein Hypertext ist kein organisches Ganzes, sondern eine Textur, deren Bedeutung instabil ist und deren Grenzen sich ständig verändern. Es gibt keinen klar definierten, vorherbestimmten Weg durch die sich vervielfachenden Schichten eines Hypertextes. Obwohl das Netzwerk gemeinsam benützt wird, ist der Weg, den jeder Einzelne verfolgt, unterschiedlich. Daher ist kein Hypertext das Produkt eines einzelnen Autors, der sein kreativer Ursprung oder heldenhafter Architekt ist. Im Gegenteil, im Netzwerk des Hypertextes ist jede Urheberschaft eine gemeinsame Urheberschaft und jede Produktion eine Koproduktion. Jeder Autor ist ein Leser, und alles Lesen ist Schreiben. Obwohl der Hypertext manchmal auf Papier gedruckt ist, ist sein Medium im wesentlichen elektronisch. Weder universell noch individuell, weder allgemein noch besonders, weder feststehend noch fluktuierend, weder strukturell noch amorph, weder begründet noch grundlos, weder Original noch Kopie, zeigt und evoziert der hypertextuelle Raum eine alternative Architektur.
Um über die Moderne und ihre heimliche Fortdauer in der Postmoderne hinauszugehen, muß die Architektur ihre Buchergebenheit aufgeben und es wagen, hypertextuell zu werden. Ein hypertextuelles Bauen wäre nicht mehr länger eine Architektur im strengen Sinn des Wortes, sondern würde zu einer "Elektrotektur" werden, deren Umrisse nur undeutlich sichtbar sind. Im Gegensatz zu sogenannten Revolutionen der Vergangenheit, in denen eine Alternative durch ihr Gegenteil ersetzt wurde, verlangt die Elektrotektur eine Neufassung der Begriffe, die die Theorie und Praxis der Architektur bestimmen. Um diese Abstraktionen etwas konkreter zu machen, ist es vielleicht hilfreich, zwei spezielle Institutionen neu zu überdenken: die Universität und das Museum.
Kehren wir für einen Augenblick zu meinem globalen Hörsaal zurück. Eines Nachmittags sandte mir eine Studentin per E-Mail eine Nachricht mit der Frage, ob ich an dem Abend zu einer Party kommen könnte. Williams College ist eine Universität, wo es angeblich auch außerhalb der Hörsäle eine Menge Kontakte zwischen Lehrkörper und Studenten gibt. Also antwortete ich, indem ich (dummerweise) fragte, wann und wo sie stattfinden würde. Ihre Antwort: "Am Netz natürlich. Jederzeit, wenn es Ihnen paßt." Dann teilte sie mir Einzelheiten darüber mit, wie ich mich für ein MUSE (Multi-User Simulated Environment) "anmelden" konnte, in das sie sehr involviert war. MUSEn sind so etwas wie interaktive Fiktionen, die in Echtzeit im Cyberspace ausgelebt werden. Die Teilnehmer an diesen sogenannten Spielen konstruieren komplizierte Persönlichkeiten – manchmal eine, manchmal viele –, die mit anderen Personen interagieren. Man hat keine Ahnung, wer oder wo die anderen Teilnehmer sind. lch möchte nochmals betonen, daß all das in Echtzeit geschieht. Es ist, als ob die Teilnehmer im selben Raum miteinander sprächen. Mit Hilfe einer Vielzahl von komplexen Kodierungssystemen können verschiedene Arten von Gesprächskombinationen geschaffen werden. So können z.B. zwei Menschen miteinander sprechen, ohne daß jemand anderer im selben Raum ihnen zuhört. Oder jemand kann im Zimmer sein, ohne von irgendjemandem gesehen zu werden. Da alles in Echtzeit geschieht, erfolgt der Austausch auf dem Bildschirm der Datenstation unglaublich rasch. Es war klar, daß meine Studentin sich mit vielen anderen Teilnehmern angefreundet hatte und einige sehr intensive und sogar seltsame Erfahrungen im Netz erlebt hatte. Eine der faszinierendsten Tatsachen für mich war, daß viele der Teilnehmer komplexe Strukturen konstruiert hatten, in denen sie lebten und ihren Geschäften nachgingen. Diese Strukturen waren natürlich verbale Konstruktionen, die nicht visuell dargestellt wurden. Phantasievolle Wohnungen, Schulen, Büros und Städte waren der Schauplatz der Handlung. Dieser simulierte Schauplatz veränderte sich ständig auf eine Weise, die ihn interessanter und komplexer machte. Ich fand die Versuchung, die Architektur des MUSE zu visualisieren, unwiderstehlich. Nachdem ich sie visualisiert hatte, begann ich die Welt, die ich betreten hatte, zu verändern. Ich möchte betonen, betreten. Um an einem MUSE teilzunehmen, ist es notwendig, den Bildschirm der Datenstation zu passieren und die tele-elektronische Welt zu betreten. Befindet man sich einmal innerhalb dieser Welt, wird es möglich, einen Raum zu durchstreifen, den man nie vorher erfahren hat. An diesem Punkt hört der Computer auf, ein Werkzeug für Designzwecke zu sein und wird zu einer Umgebung, die geformt und immer wieder umgeformt werden kann. Wenn der Raum, in dem wir künftig leben werden, zumindest teilweise der Cyberspace ist, dann müssen wir anfangen, uns über die Architektur dieses Raumes Gedanken zu machen. Wie kann der Cyberspace aussehen? Wie sollte der Cyberspace aussehen?
Mit diesen Fragen wenden wir uns nun unserem zweiten Beispiel zu – dem Museum. Die Elektronik wird Veränderungen in der Gestalt der Museen mit sich bringen, die wir erst noch begreifen müssen. Wenn das Telewriting das gedruckte Wort zu etwas macht, das weder das traditionelle Sprechen noch das Schreiben ist, wird die Elektronik die Museen auf eine Weise verändern, die bisher nur wenige Menschen verstehen. Diese Veränderungen sind vielfach und komplex. Erstens wird das Museum des 21. Jahrhunderts wie alle anderen Institutionen international sein. Wenn die Welt verdrahtet ist, ist das Lokale nicht länger bloß lokal. Zweitens werden die ausgestellten Objekte radikalen Veränderungen unterliegen. In der Kultur der virtuellen Bilder wird es nicht länger notwendig sein, das tatsächliche Objekt auszutauschen. Reproduktionen werden "besser" sein als das wirkliche Objekt – gleichgültig, ob es sich dabei um ein archäologisches Artefakt, eine Skulptur oder ein Gemälde handelt. Es ist möglich, sich ein Museum im Cyberspace vorzustellen, in dem Objekte aus der ganzen Welt ausgestellt sind. Außerdem wird es das Museum der Zukunft dem Betrachter erlauben, in die Rolle eines Kurators zu schlüpfen, ebenso wie es das Telewriting dem Leser erlaubt, zum Autor zu werden. Stellen Sie sich ein Museum mit einem unerschöpflichen Bildarchiv und zahlreichen Pfaden vor, die einen Weg durch das Archiv erlauben. Jeder könnte dann unter irgendeinem interessant erscheinenden Gesichtspunkt bzw. für irgendeinen relevanten Anlaß eine Ausstellung zusammenstellen.
Seit über einem Jahrhundert ist das Modell des Museums die Enzyklopädie. Angesichts der Vergeblichkeit des Aufklärungsprojekts der Enzyklopädie wird das Museum der Zukunft hypertextuell sein.
Das neue Museum wird Cybermuseum heißen. Es ist nicht schwierig, sich den Widerstand gegen diese neue lnstitution vorzustellen. Kritiker werden das Verschwinden der Kunstobjekte beklagen und insistieren, daß die Reproduktion dem echten Werk nicht gerecht werden kann. Beim Vorbringen dieser Kritik werden alle Ressourcen der Metaphysik des Gegenwärtigen beschworen werden, um dem originalen Kunstwerk wieder seine einzigartige Aura zu verleihen. Doch der Kampf um die Bewahrung des enzyklopädischen Museums ist vergeblich, weil seine Zeit vorüber ist. Die Museen müssen entweder das Zeitalter der elektronischen Wiedergabe betreten oder zugrunde gehen. Wie könnte das Cybermuseum aussehen? Diese Frage können nur Architekten beantworten. Ich möchte jedoch einige abschließende Bemerkungen machen und die Parameter umreißen, innerhalb deren man sich diesen Designfragen nähern könnte. Zuerst könnte man über die Möglichkeiten der Computer-Telekommunikationstechnologie für den Entwurf des physischen Raums der Museen nachdenken. Wie läßt sich ein Museum planen, wenn es statt der Gemälde und Skulpturen elektronische Bilder beherbergt? Wie muß man die Ausstellungshallen entwerfen? Da die Technologie immer komplexer wird, vermute ich, daß Künstler immer häufiger in digitalisierten Formaten arbeiten werden, die eine sofortige elektronische Reproduktion erlauben. Wenn das künstlerische Medium nicht mehr Farbe oder Stahl ist, sondern ein Computerprogramm, verschwindet die Stabilität des Kunstwerks, und die Einschränkungen von Zeit und Raum sind überwunden. Man kann sich vorstellen, eine Ausstellung zu organisieren, die gleichzeitig an mehreren Orten gezeigt wird. Oder man kann sich vorstellen, Performance Art gleichzeitig rund um die Welt zu zeigen. So wie der globale Hörsaal keine Grenzen kennt, ist auch das Cybermuseum wirklich ein Museum ohne Mauern.
Es gibt bereits Bemühungen, Strukturen zu schaffen, die sich die heutige elektronische Technologie zunutze machen können. Am interessanten davon finde ich Frank Gehrys Entwurf für die Zweigstelle des Guggenheim-Museums in Bilbao. Obwohl sich das Projekt noch im Entwicklungsstadium befindet, erforscht Gehry die Möglichkeit, daß riesige, unregelmäßig geformte Bildschirme für die Projektion digitalisierter Bilder ein Teil des Museums sein sollen. Am faszinierendsten am Bilbao-Projekt ist das Bemühen, Elektronik in die Architektur des Gebäudes zu integrieren. Das Problem liegt nicht an der Software, sondern an der Hardware. Es bleibt unklar, ob die visuelle Auflösung auf so großen Projektionsflächen funktionieren kann. Ob Gehry nun diesmal erfolgreich ist oder nicht, ich zweifle jedenfalls nicht daran, daß in naher Zukunft noch modernere Präsentationstechniken möglich sein werden. Es gibt jedoch noch eine weitere Dimension der Architektur des Cybermuseums, die noch interessanter und zukunftsweisender ist. Wenn das Museum so etwas wird wie ein visuelles MUSE, dann erfordert die Entwicklung seiner Architektur, daß man sich in den Raum des Computers begibt. Man würde den Computer nicht einfach dazu verwenden, um Gebäude zu entwerfen, sondern man würde Raum entwerfen, indem man Computerprogramme entwickelt. Bei diesem Unterfangen wären die Materialien des Architekten nicht mehr Beton, Stahl oder Glas, sondern Codes, Programme und Bilder. An diesem Punkt wird die Architektur zur Elektrotektur und der Architekt zum Cybertekt. Wenn wir immer mehr im Raum des virtuellen Bildes leben, müssen die Architekten Wege finden, um den Cyberspace zu entwerfen. Wir können in einer elektronischen Umgebung nicht einfach Entwurfsprinzipien anwenden, die die Drucktechnik und die Fließbandmethoden widerspiegeln, sondern müssen Wege finden, diesen neuen Raum auf eine Weise zu gestalten, die sich sein außergewöhnlich reiches Potential zunutze macht.
Über dem Parkplatz des Wohnkomplexes in Okawabata Rivercity 21 dreht sich langsam ein riesiges ovales Objekt (16 x 8 Meter). Diese seltsame Konstruktion, die mit Hunderten von Aluminiumplatten bedeckt ist, glänzt in hellem Silber, in dem sich das Sonnenlicht spiegelt. Nachts sieht sie jedoch völlig anders aus. Fünf in dem Objekt angebrachte Flüssigkristall-Projektoren projizieren Bilder auf zwei durchscheinende Bildschirme und auf die Platten der Oberfläche. Die Bilder werden durch einen Computer gesteuert, der die Lichtmuster ändert und Figuren von fünf verschiedenen Bildquellen miteinander kombiniert. Wenn die Menschen an diesem schwebenden Objekt vorbeigehen, halten sie kurz inne und erblicken einen Moment lang ein Bild oder eine Information. Es ist weder ein Fernseh- oder Videoschirm noch eine Neon- oder Lichtreklame, aber die verschiedenen Schichten dieses televisuellen Raumes projizieren aus der Information, von der die Luft ringsum erfüllt ist, eine simulierte Umgebung.
Toyo Ito nennt seine bemerkenswerte Konstruktion "Das Ei des Windes". Der Wind, der in diesem Ei heranreift, ist der Wind der lnformation, der das weltumspannende Computer-Datenfernverarbeitungsnetzwerk in Gang hält.Es ist der Wind Der Wind von To(k)yo Der elektronische Wind. Dieser Wind, der eben erst aufgekommen ist, wird eines Tages über die Erde wehen. In seinem Sog wird nichts unverändert bleiben; alle Bereiche des Lebens werden auf noch unvorhersehbare Weise verändert werden. Itos Ei ist ein Übergangsobjekt – nicht mehr Architektur, aber auch noch nicht Elektrotektur. In der zerbrechlichen Schale des Eis des Windes entsteht ein alternativer Raum. Wie wird er aussehen? Was für Formen wird er einnehmen? Was für Strukturen wird er erlauben? Wer wird die Simcit entwerfen, die unsere Zukunft ist?
aus: ANY Magazine Electrotecture", NYC Nov./Dez. 1993
(*) Der englische Titel bezieht sich auf das Buch "Learning from Las Vegas", von Venturi, Scott Brown und ist auf deutsch als "Lernen von Las Vegas" erschienen.zurück
(**) Für die deutsche Übersetzung wurde das französische Original des Gedichts herangezogen.zurück
|