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Ars Electronica 1994
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Festival 1979-2007
 

 

Die mögliche Zukunft der Architektur, Removeable Reality: Auszüge aus einem Dialog


'Kei´ichi Irie Kei´ichi Irie / 'Masaki Fujihata Masaki Fujihata

Es herrscht heute weitgehend das Gefühl, daß es keine neuen Ideen zur Architektur mehr geben kann – daß sich die Architektur in einer verzweifelten Lage befindet.

Vom modernistischen Standpunkt aus müssen Form und Raum ständig neu sein.

Die neue Architektur schafft etwas Unverständliches für neue Menschen: einen neuen Raum und eine neue Form ohne Spuren der Vergangenheit. Aber wenn sie ausgereift ist, sieht sie sich dem Dilemma gegenüber, ob Ambiguität ein Thema ist, mit dem man sich auseinandersetzen soll oder eine Quelle des Abscheus.

An diesem Punkt wird die Architektur bloß zu einem weiteren historischen Genre, zählt Zitate auf aus ihrem historischen Kontext und wiederholt sie. Das war die Denkweise der Vertreter der Postmoderne bezüglich der Kategorien der architektonischen Formen.

Etwas, das grundsätzlich entgegengesetzt ist, wird verunglimpft, seine Beziehung wird unklar und von der Form überschattet. Auf diese Weise wird die Architektur neutralisiert und von kategorisierenden Institutionen mit Beschlag belegt.

In unserer Realität entstehen durch künftige neue Technologien neue Beziehungsschemata zwischen Menschen und Dingen, und zwischen den Menschen selbst. Wir könnten dieses Hyper-Environment mit der computerisierten Textverarbeitung vergleichen: Worte, die früher sequentiell verstanden wurden, verwandeln sich in ein Objekt, das einem frei programmierbaren Aufbereitungsprozeß zugänglich ist. Ein Meer von Möglichkeiten im Gegensatz zur Illusion einer einmaligen Schöpfung.

Gegenwärtig entwickelt sich ein neues Konzept des Schöpferischen, nämlich das eines Computer-Modells, das sowohl die schwer zu handhabende Welt der Tatsachen – die Beziehungen zwischen Form und Material – als auch sehr phantasievolle Ideen oder logische Vorschläge in dieselben abstrakten Muster konvertiert – Muster, die frei manipuliert werden können.

Für ein derartiges Modell muß sogar der selbstverständlichste Rechenprozeß in logische Schritte zerlegt werden, bevor er für einen simulierten Prototyp verwendet werden kann; derselbe Schritt kann auch den durchaus nicht selbstverständlichen und hochkomplexen Weisen des unbewußten Denkens folgen und sie sogar vorwegnehmen. Ein solches Modell kann keine verborgene Tiefe aufzeigen, sondern alles wird verflacht. Vor allem wird die Unterscheidung zwischen abstraktem Formalismus und pragmatischem Realismus aufgehoben.

Früher wurden entwerfende Architekten als Formalisten oder Realisten klassifiziert. Die Formalisten entwickelten allgemeingültige Regeln, die als Methode angewandt werden konnten. Der Entwurf eines Gebäudes bestand in der Auswahl einer geeigneten Methode und der zielstrebigen Verfolgung ihrer logischen Folgen. Die Architektur wurde zu einem Spiel, aber doch zu einem, das – paradoxerweise – als nützlich betrachtet wird. Die Realisten andererseits versuchten die Form der Welt unterzuordnen und grenzten das Feld ein, auf dem ein solches Spiel gespielt werden konnte.

Obwohl die Architektur mit dem Hyper-Environment der realen Stadt verwoben ist, existiert sie doch in der sichtbaren Welt – Raum und Form können niemals selbst "hyper' sein.

Jede Architektur, die als Metapher dieser Art von Technologie gebaut wird, ist nichts anderes als eine Art Papiermaché. Ich versuche einen Weg aus diesem Dilemma zu finden.

Architektur, die als eine Art geometrischer Komposition verstanden wird, und aus einer begrenzten Anzahl physischer Elemente im leeren Raum besteht.

Nehmen wir andererseits an, die Architektur sei keine poröse geometrische Konstruktion, sondern ein Ganzes, das von einer unsichtbaren Dynamik erfüllt ist. Dann wird die alte Theorie außer Kraft gesetzt, weil sie diese Art von Ganzem nicht differenzieren kann.

Das kann durch sorgfältiges Katalogisieren der Einzelheiten und Erkennen aller Arten von Differenzierung, die in dem Raum am Werk sind, nicht erreicht werden.

Dieses Modell des Raumes als unsichtbare Dynamik mit einer deutlichen Heterogenität entspricht unserer heutigen Welt.

ln dieser realen Welt umfaßt das Aggregat der Architektur verschiedene Formen, verschiedene Programme, die selbst wiederum als eine Art Formen verstanden werden können.

Die übliche Kritik: es gibt in der Architektur nichts Neues, was der Mühe wert wäre, insbesondere keine neuen Formen, zeigt nur die Grenzen des traditionellen hierarchischen Denkens auf.

Nein, es scheint mir stattdessen, daß, allen Anzeichen nach zu schließen, die Gesellschaft heute das genaue Gegenteil davon ist. Die Auswahl an möglichen Formen, ästhetischen und institutionellen Formen, ist keineswegs erschöpft. Sie ist eben erst im Entstehen.

Eine Möglichkeit für die Architektur ist es, ein hyperreales Environment zu entwickeln und mit konkreten Formen, Raum-Gestalten, darauf zu reagieren.

Neue Technologien benötigen viele Experimente. Wenn wir nur die Augen öffnen, können wir ein weites Feld neuer Möglichkeiten sehen.

Verglichen mit dem technischen Fortschritt, befinden sich die Architektur- und Gestalttheorien noch in der Steinzeit und haben es noch nicht vermocht, über die existierenden Theorien hinauszugehen und den Begriff der Architektur als schöne Kunst aufzugeben.

Obgleich die Kreativität vielleicht eine Illusion ist, möchten wir in dieser Verwirrung doch positiv sein: unser Zeitalter ist eines, in dem etwas völlig Neues entstehen soll.
Zur Zeit haben wir noch keinen Ausdruck für eine zukünftige Architektur. Es wäre interessant und aufregend, weitere Verwirrung zu stiften und Modelle zu schaffen, die sich einer einfachen Kategorisierung entziehen, intellektuelle Währungen, die ein bisher noch nicht erforschtes Verständnis von Form und Welt mit sich bringen.

KEI'ICHI IRIE

REMOVEABLE REALITY

Auszüge aus einem Dialog:
KEI'ICHI IRIE + MASAKI FUJIHATA
IRIE: Wir sind es anscheinend gewohnt, die Welt dreidimensional zu erfassen. Wenn wir z.B. über die Medien und unsere Beziehung zu ihnen nachdenken, sehen wir sie als dreidimensionales Modell: wir schweben in diesem städtischen Raum, eingehüllt in diese durchlässige Membran, auf die verschiedene Informationen projiziert werden. Ein Bild der Medien als Membran. Aber dieses Schema ist falsch. Und solange wir bei diesem Schema bleiben, werden wir diese schwebende, nomadische Benommenheit nie überwinden. Nein, um unser Bewußtsein der Realität all dieser vielfältigen uns bedrängenden Medien zuzuwenden, bedürfen wir eines anderen Schemas, das das dreidimensionale ersetzt. Das scheint unsere grundsätzlichste Aufgabe zu sein.

Wenden wir uns als Leitfaden für dieses neue Schema drei einfachen Räumen zu, Erstens, dem sehr realistischen physischen Raum. Zweitens, nicht dem physischen Raum, aber einem, in dem wir uns dennoch ständig bewegen, dem systematischen Raum. Und drittens, einer ganz anderen Art von Raum, dem von der Telekommunikation geschaffenen Raum. Darin gelten all die alten, abgenutzten Modelle nicht mehr, die wir für die Beschreibung der Welt verwendet haben; es bedarf eines anderen Modells. Das könnte etwas sein, das diejenigen, die sich mit dem Programmieren und anderen modernen Arbeiten befassen, als ihre Wirklichkeit erkennen. Zumindest glaube ich, daß wir hier eine gemeinsame Linie sehen werden. Das heißt, eine solche Realität existiert derzeit in einem zerstreuten Zustand, muß aber noch zu einem Modell gestaltet werden.
FUJIHATA: Zu diesem dritten Raum: z.B. jemand, der in Mathematik versiert ist, der eine Gleichung nur anschauen muß, um ein Bild dessen zu sehen, was sie bedeutet, diese Art von Vorstellungswelt könnte ziemlich nahe kommen und durch die Entwicklung der Technik noch viel unmittelbarer für unsere Erfahrung werden. Ganz besonders ist dies der Fall mit der Computer-Technologie. Es könnte sogar der Mühe wert sein, ein Manifest zu verfassen über diesen Raum, der früher unsichtbar war, jetzt aber langsam sichtbar wird.
IRIE: Oder als eine weitere Möglichkeit könnten wir vielleicht die Bedeutung der Kunst neu beurteilen. Bisher hat Kunst – einschließlich der zeitgenössischen Kunst – plazierbare, feste Gegenstände bedeutet, mit einem ihnen innewohnenden künstlerischen Etwas. Im Brennpunkt der Begegnung zwischen dem physischen Kunstwerk und dem Betrachter stand immer die Vorstellung, daß diese Kunst als innewohnendes Etwas isoliert werden könnte. Das Interessante daran ist, daß dies mit dem Erscheinen dieser dritten Art von Raum bereits geschieht, wenn auch an einem vollkommen anderen Punkt. Was für eine Form soll es also haben? Nun, ein Gutteil des Widerstandes, den wir den "Mätzchen" der zeitgenössischen Kunst entgegenbringen, scheint darin zu liegen, daß wir genug davon haben, daß sich unsere Realität bereits woandershin verlagert hat. (…)
FUJIHATA: Die neuen Technologien, die uns umgeben, verändern unser Leben dramatisch, wenngleich erst nach und nach. Vielleicht sind wir uns dieser Veränderungen nicht einmal bewußt. Wenn wir aber die Dinge genau betrachten, habe ich das Gefühl, daß wir sehen werden, wie sehr sich alles verändert hat, was wahrscheinlich der Grund für unsere Bemühungen ist, diese neue Realität zu suchen. Wir wollten sagen: "Hier ist der Wendepunkt".
Ich glaube, daß wir gerade jetzt in einer großartigen Zeit leben. In fünfzig Jahren werden wir zurückblicken und erkennen, wie sehr es ein Wendepunkt war. Aber da wir gegenwärtig gerade an diesem Punkt sind, sehen wir sowohl die Zerstörung des Bisherigen als auch das Versprechen des Bevorstehenden.

Es gibt also Zeiten, da können wir nicht recht unterscheiden, was diesseits oder jenseits des Wendepunkts ist. Wir können dasselbe Ziel entweder als etwas Verfallendes oder als etwas Neues sehen, als ein sich Entfernendes oder sich Näherndes. Aus diesem Grund kann ein und dieselbe Installation, die dieselben Mittel verwendet, sich vollständig in ihr Gegenteil verkehren, je nachdem, wie sie zusammengestellt wird, bzw. was gezeigt oder nicht gezeigt wird.

Wir alle glauben an die technologische Evolution, aber denken anscheinend, daß wir die Realität sozusagen vor dem Wendepunkt verlassen werden. Als wäre es eine Ausweitung des Gegenwärtigen, als ob neue Technologien auftauchten und die menschlichen Sensibilitäten vollkommen ergänzten und uns so den Traum unserer Träume erfüllten. Das ist purer Unsinn. lch bezweifle das Ganze von vornherein; ich möchte diese ganze Musik und Kunst nehmen und zerpflücken, um diese rosaroten High-Tech Phantasien zu zerschlagen. (…) Ich habe mir das Shonandai Culture Center der Architektin Itsuko Hasegawa angesehen. Sie verwendet Aluminium und Glas, aber ohne den Eindruck einer massiven Materialität. Ich war schockiert. Das Gebäude schien beinahe schwerelos. Ich konnte nicht umhin, mich zu fragen: Ist es wirklich eine gute Idee, wenn ein Gebäude solche Ähnlichkeit mit einer Computer-Graphik hat? Wo das äußere Erscheinungsbild nicht das Innere ausdrückt.
IRIE: Es gab eine Zeit, da war die Architektur äußerst massiv, erdverbunden und mit äußerlichen Symbolen überladen, aber von diesen Ideen hat man sich schon lange losgesagt. Im Gegensatz dazu ist sie jetzt an dem Punkt angelangt, wo wir nicht einmal mehr wissen, wo wir sie festmachen können. Das heißt, zur Zeit gibt es viele verschiedene Richtungen – man lotet aus, wieweit die Architektur die Sensibilität unserer Zeit ausdrücken kann, wieweit sie das Gefühl für die Materialien transportieren kann – all das ist ganz plötzlich aufgetaucht. (…)

ln der Vergangenheit war es gewöhnlich die Massenproduktion von Gegenständen, mit der alle Diskussionen begannen. Die Dinge kamen in großen Mengen aus verschiedenen abgegrenzten Feldern. Panzer wurden in Mengen hergestellt, Druckwerke wurden in Mengen hergestellt. Aber die Dinge, die heutzutage in guter Qualität hergestellt werden, verdanken ihre Existenz ganz anderen Methoden. Und außerdem sind sie austauschbar.
Angesichts dieser Situation sehen wir eine scheinbare Parallele zwischen einer Architektur, die äußerst schwerelos wird, und unserem Umgang mit Bildern, die man durch die entmaterialisierten, konzeptuellen Operationen der Computergraphik nur sehen, aber nicht berühren kann. Wir entdecken jedoch sehr bald, daß diese Operationen dem, was wir in der abgegrenzten Vergangenheit hatten, sehr ähnlich sind. Es scheint mir, daß der nächste Schritt darin bestehen sollte, alles wieder auseinanderzunehmen.
FUJIHATA: Denk nur an Duchamp, der die Dinge, die er herstellte, "Ready-mades" nannte. Er nannte sie nicht Skulpturen. Er legte "Zuckerwürfel" aus Marmor und ein Thermometer in einen Vogelkäfig. Oder stellte ein Urinal aus. Ich glaube, er tat solche Dinge, einfach um aus den tradierten Konventionen auszubrechen.

Als ich meine ersten dreidimensionalen Arbeiten schuf, betrachtete ich sie als "Computer-Skulpturen", aber sie waren weder Skulpturen noch Kunstgegenstände. Ich weiß nicht, was sie wirklich waren. Aber das Sonderbare war, daß ich in dem Augenblick, in dem sie zu physischen Objekten wurden, aus den Augen verlor, was ich jenseits dieses Wendepunktes so interessant gefunden hatte. Die Objekte, die entstanden, waren nicht die wirklichen Dinge, denen ich begegnet war. Ich nenne sie heute "Krusten" – Krusten, die auf physischen Wunden entstanden sind, obwohl der Juckreiz bestehen blieb. Aus Mangel an einer entsprechenden Terminologie greife ich auf eine physiologische Sprache zurück.

Wenn man früher einen Computer-Text ausdruckte und einen Nadeldrucker verwendete, hörte man das physische Geräusch der Nadel auf dem Papier. Dann kam jedoch der Laserdrucker, und das ganze Gefühl des Ausdruckens ging verloren; was man dabei erhält, ist eher wie eine Photokopie. Niemand spricht davon, aber es ist alles ziemlich erstaunlich, wenn man darüber nachdenkt.
IRIE: Dasselbe läßt sich von vielen Dingen sagen. Wenn man z.B. die Fernsteuerung betrachtet, der bloße Gedanke, etwas verändern zu können, ohne es zu berühren, ist etwas Außergewöhnliches.

Die Surrealisten fanden seinerzeit Glas so bemerkenswert, eine unsichtbare Substanz. Aber jetzt, da es für uns so selbstverständlich und üblich geworden ist, haben wir statt dessen die Fähigkeit, physische Dinge zu verändern, ohne sie zu berühren. "Telecommander"-Fernsteuer-Einheiten sind ein gutes Beispiel dafür, aber man könnte dieselben Kriterien tatsächlich auch unserem System als Ganzem zuschreiben. Es ist sehr sonderbar.
FUJIHATA: Das muß der Grund dafür sein, daß sich heutzutage sogar in der Industrie, bei der Konstruktion von Türen und Fenstern, alles von selbst öffnen und schließen muß.
IRIE: Diese Mechanismen werden überall eingebaut.
FUJIHATA: Es gibt sogar ein Entwerfen ohne Hände.
IRIE: Wie sich die Dinge entwickeln, erhöht man eine Weile die Motorleistung und fügt Turbokraft hinzu oder was immer, immer mehr. So lange es geht. Aber natürlich gibt es Grenzen, so kommt es schließlich zum Stillstand. An diesem Punkt kommt dann ein vollkommen anderer Motor zum Einsatz. Zur Zeit befinden wir uns in der Phase der Leistungserhöhung, wo wir unsere Speicherkapazität erhöhen und verschiedene Extrafunktionen hinzufügen, in dem Bemühen, daß der Stand der Technik unsere Realität erreichen soll, aber an irgendeinem Punkt wird es einen Entwicklungssprung zu etwas anderem geben. Das weiß ich sicher. Es ist allerdings nicht so, daß ich blindes Vertrauen in die Hochtechnologie habe. Aber für die nächsten zwei oder drei Jahre scheint das unsere Aufgabe zu sein.
FUJIHATA: Und nicht bloß mehr von demselben. Formel 1 Rennfahrer werden zu Piloten. (…)
IRIE: Die Idee dabei war, die Person, die auf dem Bildschirm umherwandert, am besten sozusagen zum Positionsanzeiger werden zu lassen, das übliche, eigene, subjektive Selbst ohne zusätzliche Vorbereitungen. Wir hatten keine Ahnung, wie wir das angehen sollten oder wie die Leute es aufnehmen würden.
FUJIHATA: Viele Dinge funktionieren so, wenn man mit Computern spielt. Man gibt 3 Millionen oder 5 Millionen Yen für einen Computer aus, man schaltet ihn ein, und es geschieht nichts. Also durchläuft man das Demonstrationsprogramm, um mit eigenen Augen zu sehen, daß das Ding tatsächlich funktioniert. Etwas einfältig, ja, aber so ist es. Es ist fast so, als erwartete man, daß etwas geschehen würde, wie wenn man fernsieht.

Von diesem Thema ganz abgesehen finde ich die japanischen Haushaltsgeräte faszinierend. Wenn man z.B. einen der klassischen modernen Romane von Soseki Natsume liest, ist man berührt von dem, was man erfährt, wie sie die Dinge getan haben, Man "destilliert" so etwas wie eine Essenz aus dieser "anderen Seite". Wenn sich aber die Frage stellt: "Welchen Walkman soll ich kaufen?", angenommen die Romanciers Soseki Natsume und Toson Shimazaki und Naoya Shiga hätten jeder einen Walkman, würde man sich die technischen Daten in den Broschüren ansehen und sehen, daß sie alle unterschiedlich sind – "Der Soseki-Natsume-Walkman hat keinen schnellen Vorlauf". Sie haben alle diese großartigen Features High-Speed-Rücklauf oder hochsensible Tonhöhenanpassung oder Umwandlung von Stereo in Mono etc., aber jedes Gerät hat eine bestimmte Kombination von Features. Wenn man das Ding kauft, muß man raten, was ist diese AMS-Funktion? Was bewirkt diese Funktion wirklich? Es scheint mir, daß wir in einer Epoche leben, in der Funktionen und Features zu Black-boxes geworden sind, die wir kaufen, ohne Genaueres über sie zu wissen.

Aber man spürt, daß es irgendwo in diesen Funktionen etwas Wesentliches gibt.
IRIE: Vor einiger Zeit war bei den einzelnen Bauteilen eines Stereos wichtig, welche Hersteller welchen Sound anbieten, welche Produkte welche Merkmale hatten. Lautsprecherboxen einer bestimmten Firma ergaben qualitätsvolle hohe Töne, diese Nadel war gut für klassische Musik. Aber jetzt, wo die Technik ein bestimmtes Niveau erreicht hat, hat sich alles mehr oder weniger ausgeglichen. Wer kauft heute noch Einzelteile der Firma Pioneer wie irgendein Hi-Fi Freak? Wie du sagst, hat sich also das Interesse aller darauf verlagert, was für Steuerungen das Gerät anbietet und was für eine Individualität es vermittelt.
FUJIHATA: Schau dir doch das Design von Fernsehapparaten an, heute ist es nur mehr ein Rahmen. Und im übrigen gibt es nur die Fernsteuerung. Eigentlich ist das überhaupt kein "Design" mehr.
IRIE: Und das ist nur innerhalb eines Mediums. Inzwischen verschwinden die Grenzen zwischen den einzelnen Medien langsam, Fernsehen und Video verbinden sich zu einem, dazu kommt noch der Satellitenempfang, und schließlich eine Verbindung zum Computer. So verliert letzten Endes die Fixierung auf das dingliche Objekt jede Bedeutung. Unser Interesse verlagert sich auf eine Reihe von Schnittstellen zwischen den Dingen.
FUJIHATA: Mit einem kurzen Antippen der Fernsteuerung können wir dem Fernsehen befehlen: "Schalte auf Radio um", "Jetzt verwandle dich in die Waschmaschine." Auf Knopfdruck wird das Fernsehgerät zum Reiskocher. Jeder stellt diese Dinge im Namen des Komforts her, und die Benutzer selbst müssen sie auch für praktisch halten, sonst würden sie sie nicht kaufen.

Ich selbst kaufe solche Dinge, um mehr über sie herauszufinden. Genauso wie ich einen Roman von Soseki Natsume lesen würde.
IRIE: Alles was sie wollen, ist, daß man konsumiert.
FUJIHATA: Ja, und so ist es auch. Ich konsumiere eine Menge vollkommen verrückter Dinge.
IRIE: Wie bei den meisten Käufen. Wenn man eine CD kauft, sollte man sie sich eigentlich vorher anhören, aber so funktioniert es gewöhnlich nicht. Was man eigentlich will, ist ein bestimmtes Feature. Wenn man dann ein oder zwei von den Dingen gekauft hat, braucht man keine mehr zu konsumieren. Das ist der Grund, weshalb immer wieder Modelländerungen an den Produkten vorgenommen werden, wenn nicht gar neue Features dazukommen.
FUJIHATA: Wahrscheinlich würde uns fast jede Musik genügen.
IRIE: Ja, alles, was man wirklich tun muß, ist das Radio aufdrehen, und man hört Musik.
FUJIHATA: Das ist der Grund, weshalb sich Yumi Matsutoya – "Yuming" – so gut verkauft. Ihre Art unverfänglicher Popmusik ist der perfekte kleinste gemeinsame Nenner für Leute, die bloß einen Knopf ihres Walkmans drücken und eine Palette verschiedener Popmusik hören wollen. Sie ist die gemeinsame Bezugsgröße "Mona Lisa", die sie alle brauchen.
IRIE: Auf dieser Ebene möchte ich die Kunst zu einem Haushaltsgerät machen, so wie z.B. ein Servomechanismus gewährleistet, daß die CD mit gleichbleibender Geschwindigkeit abgespielt wird, so konstant wie möglich. Aber das ist gerade die Art von Ding, mit dem man herumspielen und das man von innen heraus verändern möchte. Außen einen Hebel daran befestigen. lch möchte es versuchen. Ich glaube, es wäre Kunst. Kassettenrekorder und CD-Player, die keine Klänge erzeugen, sonderbare Geräte.
Bei all den Funktionen, mit denen sie vollgestopft sind, bevor noch irgendein Ton herauskommt, muß reichlich Freiraum vorhanden sein, um herumzuspielen, oder sogar sie alle zum Zug kommen zu lassen.

IRIE: An diesem Punkt brauchte man nichts als eine bestimmte Software. Und plötzlich bringt jede Firma nur ein Lied heraus.
FUJIHATA: Du hast recht! Das ist auch der Grund, weshalb sich Synthesizer verkaufen. Niemand schreibt Lieder. Weniger als ein Prozent der Leute schreibt wirklich irgendwelche Lieder.
IRIE: Alle spielen nur herum.
FUJIHATA: Man drückt einen Knopf und heraus kommt ein Rumba! Es ist ein Knopfdruck-Fetischismus.
IRIE: Man möchte bloß mit der Hardware herumspielen.
FUJIHATA: Was mich betrifft, so könnten sie genausogut Soseki in Taschenbuchausgaben lesen.
IRIE: Wenn Leute mit Computern herumspielen, ist das, was sie tun, alles ziemlich ähnlich. Benutzer von Apple Computern, die ganz aus dem Häuschen sind, wie sie eine "Bombe" bekommen können. Die Welt wäre langweilig, wenn es nur Anwender von Excel und LOTUS gäbe.
FUJIHATA: Man könnte wahrscheinlich ein Vermögen verdienen, wenn man ein Buch herausbrächte, in dem das ganze technische "No-no"-How, das in der Luft liegt, gesammelt wäre.

Oder man könnte eine "Kunst-nur-als-Schnittstelle" einrichten, mit deren Hilfe man alle diese modernen Gemälde als Schnittstellen aufrufen könnte. Sie in jeder beliebigen Reihenfolge aufrufen, so daß man die Szenarios einschreiben kann, wie eines nach dem Ansehen eines andern aussieht, ohne jedes Interesse für die einzelnen Bilder. Letzten Endes würde sich ein Bild von den Vorgängen im Kopf des Betrachters ergeben, das selbst als Schnittstelle mit Schaltfunktion sichtbar ist.
IRIE: Das war wahrscheinlich eine Funktion der modernen Kunst.
FUJIHATA: Findest Du nicht, daß wir dem, was Maler wie Velazquez oder Delacroix vor der Moderne malten, allzuviel Bedeutung beimessen? Es waren schließlich nur Porträts. Darüber hinaus ergeben sich Fragen zur Person, die die Bilder gemalt hat. Es wäre aber interessant, eine Geschichte der modernen Kunst als Schnittstelle zu sehen.
IRIE: Dinge, die sich von rechts nach links bewegen, wodurch links Schnittstellen entstehen.
FUJIHATA: Ja.
IRIE: Was sie wohl zum Design macht.
FUJIHATA: Richtig. Und das Design bestimmt, ob es gelingt. Was als Schnittstelle erfolgreich ist, und was nicht. Wenn man nur die Form der Schnittstelle anschaut, sieht man, was jemand bezweckt.
IRIE: Andererseits ist es oft der Fall, daß eine erzwungene falsche Schnittstelle alles zerstört.
FUJIHATA: Das ist mir einmal passiert. Ich versuchte, eine Videokamera an ein anderes Gerät anzuschließen als das, wofür sie ursprünglich gedacht war, spleißte das Verbindungskabel, um es anzuschließen, und das Ding begann zu rauchen. Es scheint, daß es Dinge gibt, die man tatsächlich nicht tun sollte.
IRIE: Dieser Aspekt existierte anscheinend auch in der alten Kunst. Dinge, die einfach nicht in das Gesamtbild der Geschichte passen.
FUJIHATA: Jemand sollte ein Werk schaffen, das diesen Teil der Geschichte klarmacht. Denn wenn es nicht irgendwelche größeren Veränderungen der neuen Schnittstellen gibt, blickt niemand auf diese Dinge zurück.
IRIE: Geschwindigkeit ist alles. (…)